Serie «Grenzerfahrungen» – Folge 5

Umarmt von der Schweiz

Wie lebt es sich in einem Dorf, das komplett von einer Landesgrenze umgeben ist? Ein Besuch in der deutschen Exklave Büsingen. Serie «Grenzerfahrungen», Folge 5.

Von Daria Wild (Text) und Mina Monsef (Bilder), 15.09.2020

Die Schweizer Fahne ist immer mit dabei: Wandzeichnung am Bürgerhaus Büsingen.

Am Rand der Gemeinde, oben bei der Bergkirche St. Michael, wehen die drei Flaggen Büsingens: Schweiz, Büsingen, Deutschland. Man kann sich hier kaum bewegen, ohne ständig das Land zu wechseln. Denn Büsingens Gemeinde­grenze ist auch die Landesgrenze.

Das Dorf ist die einzige Enklave der Deutsch­schweiz. Und eine von nur zwei Exklaven Deutschlands (die andere liegt in Belgien). Getrennt vom eigenen Land, eine Insel auf dem Trockenen.

Die Form der Gemeinde­grenze gleicht einem Hund, der darauf wartet, dass ihm ein Stock geworfen wird. Die Schnauze richtet sich im Nord­westen ungeduldig nach Schaffhausen. Beine und Bauch im Süden zeichnet der Rhein. Im Nordosten, der Schwanz des Hundes, liegt die Schweizer Grenz­gemeinde Dörflingen. Einen Steinwurf weiter, in Luftlinie rund 680 Meter von Büsingen getrennt: Deutschland.

Serie «Grenzerfahrungen»

Was bedeuten Grenzen für uns? Wie sind sie entstanden? Geben Grenzen Sicherheit oder engen sie ein? Wie beeinflussen sie unser Leben? Zur Übersicht.

Folge 2

Die Geschichte der Grenzen

Folge 3

Die Tessiner Raststätte Coldrerio

Folge 4

Fleisch­li­che Versuchung

Sie lesen: Folge 5

Die deutsche Exklave Büsingen

Folge 6

Streit am Bodensee

Folge 7

Gemeinde Balzers, Liech­ten­stein

«Das ist jetzt eben diese Enklave», ruft eine Velo­fahrerin, die mit einer vierköpfigen Gruppe die Grenze bei Dörflingen überquert. Ansonsten ist in Büsingen an diesem Donnerstag­morgen kaum jemand zu sehen.

Die Gegend, in der die Kantone Zürich, Thurgau und Schaffhausen mit der Bundes­republik Deutschland zusammen­treffen, ist geprägt von Acker­land, scharf begrenzten Wald­stücken, dem ausladenden Hochrhein – und eben Landes­grenzen. 17 Kilometer Grenze umschliessen das 7,62 Quadrat­kilometer grosse Büsingen. 123 Grenz­steine markieren, wo das eine Land aufhört und das andere beginnt.

Der Inselstatus Büsingens reicht bis ins 18. Jahr­hundert zurück. Damals verkaufte Österreich die Rechte an den Dörfern Ramsen und Dörflingen an das eidgenössische Zürich, behielt Büsingen aber. Das Dorf wurde zur eidgenössischen Enklave. 1810 ging Büsingen ans Gross­herzogtum Baden über – auf den Grenz­steinen sind noch heute die Initialen «GB» eingeritzt.

Mehrere Versuche der Büsinger, in die Schweiz eingegliedert zu werden, scheiterten. Erst 1947 gab die damalige französische Besatzungs­macht einem Gesuch an den Schweizer Bundesrat statt, die Zoll­grenze aufzuheben. 1967 trat schliesslich der Staats­vertrag zwischen der BRD und der Schweiz in Kraft. Der rechtliche Status Büsingens sollte damit geregelt sein. Seit diesem Datum wird auch die Grenze nicht mehr kontrolliert.

Der Blick nach Süden, wo der Rhein die Grenze bildet.

Büsingen hat auch sonst einen Sonder­status: So gelten wirtschaftlich Schweizer Gesetze. Aktuell heisst das: Restaurants sind an die Covid-19-Bestimmungen des Schweizer Bundesrats gebunden, obwohl sie auf deutschem Boden stehen. Bezahlt wird hauptsächlich mit Schweizer Franken. Die deutsche Mehrwert­steuer und die Verbrauchs­steuer sind in Büsingen nicht in Kraft, ein Anteil der schweizerischen Mehrwert­steuer­beiträge hingegen fliesst nicht an den Fiskus, sondern in die Gemeinde­kasse Büsingens.

Dafür erhebt Büsingen keine Grund­steuer. Die Büsingerinnen haben mit BÜS eine eigene Buchstaben­kombination am deutschen Auto­kennzeichen, und doch werden ihre Autos am Zoll wie diejenigen der Schweizer behandelt. Und: Büsingen hat neben der deutschen auch eine Schweizer Post­leitzahl – 78266 für Deutschland und 8238 für die Schweiz.

Die Kinder können nach der örtlichen Grund­schule den deutschen Bildungs­weg mit Oberstufe in Singen oder den Schweizer Weg mit der Oberstufe in Schaffhausen gehen, wobei die Gemeinde das Schul­geld übernimmt. Bei der Kranken­versicherung haben die Büsinger Wahl­freiheit. Die Kantons­polizei Schaffhausen darf in Büsingen Menschen verhaften und in die Schweiz bringen. Die deutschen Polizisten dürfen sich hingegen einzeln oder in Gruppen «von höchstens zehn Mann» auf zwei vorgegebenen Routen nach Büsingen begeben – so steht es im Vertrag zwischen der Schweiz und Deutschland. Die Büsinger Bauern erhalten Subventionen aus der Schweiz. Und die erste Mannschaft des FC Büsingen spielt im Zürcher Regionalverband.

Im Nacken die deutschen Steuersätze

Fragt man bei der Gemeinde nach, wer sich mit Büsingen auskenne, erhält man eine vielsagende Antwort: «Die Situation ist sehr kompliziert», schreibt Christa Jüppner, Leiterin Hauptamt, per E-Mail. Eigentlich wüssten nur drei Personen Bescheid: der Bürger­meister, der stellvertretende Bürger­meister und der Alt-Bürger­meister. Es ist schliesslich Stellvertreter Roland Güntert, Ur-Büsinger, Familien­vater und Wein­händler in Schaffhausen, der im Büsinger Rathaus in Schaffhauser Dialekt und mit der Verve eines Mannes Auskunft gibt. Güntert weiss, was falsch läuft.

Und das sind in seinen Augen vor allem zwei Dinge: Erstens wird eine Enklave oder Exklave wie Büsingen gern hüben wie drüben von den Regierungen vergessen. Zweitens: Güntert, selbst davon betroffen, sieht die seit Jahren grosse Steuer­belastung der in der Schweiz arbeitenden Büsinger als Ursprung der Abwanderung der Jungen, unter der das Dorf leidet. Büsingen ist mit einem Durchschnitts­alter von mehr als 50 Jahren eine der ältesten Gemeinden Deutschlands. «Die Jungen gehen ja bestimmt nicht, weil es in Schaffhausen schöner ist als in Büsingen», sagt Güntert, und er meint das sehr ernst. «Erklärbare Steuer­flucht» nennt er das Ganze.

Noch in Schaffhausen auf der Rheinhaldenstrasse, schon winkt die deutsche Fahne.
«Erklärbare Steuerflucht»: Roland Güntert, stellvertretender Bürger­meister, macht sich Sorgen um die Zukunft der Gemeinde.

Tatsächlich führen die hohen Einkommens­steuern, die die Büsinger mit Schweizer Löhnen an Deutschland entrichten müssen, zu schmerzhaften Steuer­nachteilen. Zudem sind die Steuern Kurs­schwankungen ausgesetzt. Ist der Franken stark, steigt ihr Einkommen für das deutsche Finanzamt, ohne dass sie tatsächlich mehr verdienen. Dafür erhalten betroffene Büsingerinnen zum Abgleich zwar einen Freibetrag. «Was aber nicht reicht», sagt Güntert. Schliesslich sei das Kosten­niveau in Büsingen auf dem der Schweiz.

Neben Überalterung und Abwanderung leidet Büsingen darunter, dass viele die Steuern umgehen. Güntert sagt, sein halbes Quartier sei bewohnt von Leuten, die Einzel­firmen in der Schweiz betrieben, um dort Steuern zu zahlen statt in Büsingen. Kurz: Laut Güntert bezahlen zu wenige Menschen zu hohe Steuern. Sein Ziel: eine Anpassung des Steuer­niveaus an jenes des Kantons Schaffhausen. «Dann würden vielleicht auch Schaffhauser nach Büsingen ziehen.»

Seit zehn Jahren engagiert er, dessen Gross­eltern und Urgross­eltern schon in Büsingen lebten, sich in der Bürger­initiative. Über die Steuern ärgert er sich genauso wie über «Neubürger», die nur in Büsingen leben, der Gemeinde aber «weder wirtschaftlich noch sozial etwas bringen»: «Hier sehe ich nur Alteingesessene im Ausgang. Die Neubürger gehen nach Deutschland und geben ihr Geld dort aus.»

Viel öfter als «Deutschland» sagt Güntert aber «draussen» oder «im Düütsche usse». Der Blick richtet sich auf die Schweiz, im Nacken die deutschen Steuer­sätze. Güntert sagt: «Mein Orientierungs­punkt ist die Schweiz. Wir sind fast Haus an Haus mit Schaffhausen. Jemand, der nichts über Büsingen weiss, hat das Gefühl, das sei ein und derselbe Ort. Für mich ist die Grenze die, die hinter Dörflingen nach Deutschland führt.»

Zum Abschied übergibt Güntert ein fast 200 Seiten dickes Buch über Büsingen. Der Titel lautet «Milch zweier Mütter». Zwischen zwei Buch­deckeln die Geschichte des Dorfs, Interviews, zahlreiche Bilder des Rheins. Auf der letzten Seite die Strophen des «Büsinger Lieds». Die zweite lautet:

Mir wäärded umaarmet rings um vo der Schwiiz
Und sind vo de Düütsche e wänge absiits.
Und wäre möösst wähle, so wäär da e Chrüüz:

di ahnte zo Düütschland di andre zur Schwiiz.

Der Rhein als Lebensgefühl

Die Grenze ist zwar ein behördlicher «Tolggen», wie Güntert zu sagen pflegt, aber ein Fastnichts in der Landschaft. Wenn man von Diessen­hofen den Rhein überquert, springt einem eine Tafel mit EU-Wappen ins Auge und das Rapsgelb der deutschen Wegweiser. Sonst nicht viel. Doch das ist nicht mal Büsingen, das ist Gailingen, deutsches Festland quasi. Wer nach Büsingen will, biegt nach links ab, passiert ein in die Jahre gekommenes Zoll­häuschen und zwei Schweizer Zoll­beamte, die wissen wollen, ob man in Deutschland eingekauft habe, obwohl man ja quasi gerade nach Deutschland fährt.

Dann ist man in Büsingen: Rhein, Haupt­strasse, Giebel­häuser, Giebel­häuser, Giebel­häuser, Velofahrer.

Vor einem stattlichen Riegel­haus, das auf einer Infotafel als «Wiege der Büsinger Ex-/Enklaven­situation» angepriesen wird, steht Vera Schraner, Gemeinde­rätin, Personal­fachfrau, Ur-Büsingerin und aktuell Heraus­forderin des langjährigen Gemeinde­präsidenten Markus Möll. In diesem Haus – dem Junker­haus – an der Haupt­strasse Büsingens lebten bereits Schraners Vorfahren. Schraner selber zog in jungen Jahren weg – berufs­bedingt – und kehrte vor drei Jahren mit Kindern und Mann nach Büsingen zurück, «zu meinen Wurzeln». Wie bei Güntert klingt auch bei Schraner der Dialekt mehr nach Ostschweiz denn Deutschland.

Schraner setzt sich im Café Eder ein paar Meter vom Junker­haus entfernt auf die Terrasse und trinkt Milch­kaffee. Ihrer Rolle als wahlkämpfende Politikerin ist sie sich bewusst: Sie drückt sich gewählt aus, diplomatisch. «Wir müssen die Beziehungen stärken, sowohl zur Schweiz als auch zu Deutschland. Verbinden, nicht spalten», sagt sie, «der Polarisierung entgegenwirken.» Obwohl viele in der Schweiz arbeiteten, würden nicht alle Lebens­wege automatisch dorthin führen. Ihre Geschwister beispiels­weise seien in Deutschland zur Schule gegangen und dort geblieben, nur sie machte eine Lehre in Schaffhausen und verbrachte dann über 20 Jahre in der Ostschweiz. Einbürgern lassen wollte sie sich nicht.

«Ich wurde oft gefragt, ob ich nun Deutsche oder Schweizerin bin. Dann kam ich hierher zurück und dachte einfach: Ich bin Büsingerin. Wir sind etwas Besonderes.» Die Grenze sei für sie nicht existent, so sehr Teil des Alltags sei sie geworden, sowohl was den Beruf als auch was die Freizeit betreffe. «Viel eher als die Grenze bestimmt der Rhein das Lebens­gefühl.» Und dieses Lebens­gefühl ist bei Schraner ein unüberhörbar optimistisches. Büsingen verzeichne einen Zuwachs junger deutscher Familien, sagt sie, der Ortskern sei saniert worden. Das Wort Potenzial fällt einige Male. «Es stimmt, viele Junge ziehen weg, aber dieses Problem haben auch andere Dörfer.»

Deutsche oder Schweizerin? «Ich bin Büsingerin», sagt Vera Schraner, «wir sind etwas Besonderes.»
Landesfarben allüberall: Mal Schwarz-Rot-Gold …
… mal Weiss auf Rot.

Einig ist sie sich mit Güntert darin, dass Büsingen oft vergessen geht. Das habe man bei Corona wieder gemerkt. «Da musste der Bürger­meister viel herum­telefonieren, weil niemand wusste, wie wir jetzt damit umgehen sollen. Während eines Tages konnten wir als Deutsche plötzlich nicht mehr nach Deutschland.»

Im zu dieser nachmittäglichen Stunde leeren Café Eder bespricht sich die Wirtin mit der Köchin. Beide sind Schweizerinnen, die Köchin kennt Schraner noch aus Zeiten der Guggen­musik, Namen wie Munot­geister, Kessler­loch 04 und Rhygusler fallen. Nebst Büsingerinnen, die in Deutschland arbeiten, und Büsingern, die in der Schweiz arbeiten, gibt es also auch Schweizerinnen, die in Büsingen arbeiten. Viele Touristen kämen zu ihr, erzählt die Wirtin, viele Velo­fahrerinnen. Die Mühsamsten seien jene, die meinten, die Preise seien wie in Deutschland.

Auf die Frage, wie sie die Landes­grenze empfinde, zuckt sie mit den Schultern: «Das ist halt Alltag.» Und auf die Frage, wieso sie ausgerechnet in Büsingen ein Restaurant übernommen habe, sagt sie, die Hände auf dem Tresen: «Ich bin selber nicht ganz normal. Ich dachte: Das passt zu mir. Hier ist nichts normal.»

Hinweis: In einer früheren Version haben wir Vera Schraner als Verena Schraner bezeichnet. Ausserdem schrieben wir zunächst, die Grenz­steine sähen unterschiedlich aus. Unterschiedlich sind aber nur die Markierungen der Grenzsteine. Wir bitten um Entschuldigung.

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Die Geschichte der Grenzen

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Die Tessiner Raststätte Coldrerio

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Fleisch­li­che Versuchung

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Streit am Bodensee

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