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#Lunchgate

Aus Angst vor Missbrauch verweigern Restaurantgäste ihre Kontaktangaben. Doch wie sicher waren die Daten eigentlich vor der Pandemie?

Von Adrienne Fichter, 28.08.2020

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In der Pizzeria einmal ungeniert in die Runde husten: In normalen Zeiten ist das unanständig, in diesen grenzt es an fahrlässige Körper­verletzung. Das Covid-19-Ansteckungs­risiko in Restaurants und Bars ist real – darum ist es wichtig, potenziell Infizierte nachverfolgen und testen zu können.

Unterdessen ist allerdings klar: Beim Erfassen dieser Kontakt­daten funktioniert das Prinzip Freiwilligkeit und Eigen­verantwortung nicht wirklich. Deshalb fordern nun die ersten Kantone Verbindlichkeit: Restaurants und Bars in Bern und Zürich beispiels­weise müssen die Daten der Gäste für das Contact-Tracing verbindlich einfordern.

Viel wurde in den vergangenen Monaten darüber diskutiert, in welcher Form Restaurants persönliche Informationen sammeln dürfen. Nach den Öffnungen vom 11. Mai lagen noch etliche Listen auf den Tischen, auf denen sich Gäste eintragen konnten. Betonung auf konnten. Doch das Restaurant­personal war es bald leid, die Gäste ständig auffordern zu müssen. Zeit verstrich, und die Listen verschwanden wieder von den Tischen.

Viele Gäste weigern sich, weil sie nicht wissen, was die Restaurants sonst noch damit anstellen und wie lange die Daten aufbewahrt werden.

Die Ironie dabei ist allerdings: Schon vor Corona wurden solche Daten weder sicher aufbewahrt noch gelöscht, wie eine Daten­auskunft beim Platz­hirsch unter den Schweizer Reservations­tools zeigt – Lunchgate.

Klingt gut, aber stimmt es auch?

Etliche Gastronomie-Plattform-Betreiber werben damit, Reservationen daten­schutz­konform durchzuführen. Auch das Zürcher Start-up Lunchgate weist auf die Covid-19-Schutz­verordnung hin. Wer also via diese Plattform einen Tisch bucht, kann vom Contact-Tracing-Team kontaktiert werden. Dabei wird der Gast darauf hingewiesen, dass seine Daten 14 Tage aufbewahrt und danach gelöscht würden.

Klingt gut, stimmt aber nicht – das deckte Anfang Juli das IT-Sicherheits­unternehmen Modzero auf. In einem unterhaltsam geschriebenen Blogbeitrag schildern die drei IT-Experten Sven Fassbender, Joël Gunzenreiner und Thorsten Schröder ihre Recherchen. Sie fanden heraus, dass Lunchgate nicht nur die 2-Wochen-Frist nicht einhält, sondern darüber hinaus die gespeicherten Gäste­daten für alle frei einsehbar aufbewahrt.

Wie das möglich ist?

Bei der Reservation erscheint die persönliche ID-Nummer in der URL, also der Web­adresse, der Bestätigungs­seite. Das bezeichnen die IT-Profis als ersten grund­legenden Fehler. Sie beschreiben diese Schwach­stelle als eine sogenannte IDOR-Schwachstelle (Insecure Direct Object Reference). Grund sei ein «schwaches Zugriffsrechts­management».

Darüber hinaus war die ID-Zuweisung alles andere als clever umgesetzt. So konnten auch technisch nicht bewanderte Personen einfach heraus­finden, wer wie reservierte. Man experimentiere ein wenig mit der URL und tausche ein paar Ziffern aus. Statt der erhaltenen ID 174396 tippten die Blogger in ihrer Recherche zum Beispiel 174394 ein – und erhielten die Reservation einer wildfremden Person angezeigt, samt ihrer Telefon­nummer, teilweise ihrer Adresse sowie der Besuchszeit und dem gebuchten Tisch. Dabei stellten die Modzero-Experten auch fest, dass die Daten über eine Woche länger gespeichert waren als die erlaubten 14 Tage.

Modzero kontaktierte Lunchgate vor der Publikation des Blogbeitrags.

Das Start-up versicherte am 3. Juli, «dass die IDOR-Schwachstellen behoben seien». Die Modzero-Blogger merkten am Schluss ihres Artikels an: «Zur 14-Tage-Löschfrist hiess es, hier bestünden keine Probleme.»

Doch wie handhabte Lunchgate das alles eigentlich vor der Pandemie und dem Contact-Tracing? Das wollte ich genauer wissen.

Was der Datenschützer dazu sagt

Ich benutzte Lunchgate selber mehrfach für Restaurant­reservationen und verlangte beim Start-up kurz nach Publikation des Modzero-Beitrags alle über mich gespeicherten Daten. Der Managing Partner Yves Latour antwortete umgehend und versicherte eine umfassende Daten­auskunft, für Schweizer Verhältnisse ist das erst einmal vorbildlich. Ein paar Tage später erhielt ich die Daten in kopierter Tabellen­form – und staunte.

Aufgelistet sind alle meine Restaurant­besuche, Reservations­uhrzeiten, meine Telefon­nummer und die E-Mail-Adresse sowie die Angaben, wie viele Gäste ich angemeldet hatte, und alle Bewertungen, die ich abgegeben habe.

All dies bis zurück ins Jahr 2015.

Ein Blick in die Nutzungsbedingungen des Foratable-Reservations­tools (so heisst das Buchungs­system von Lunchgate für Gäste) zeigt: Lunchgate nennt tatsächlich kein Ablauf­datum zur Speicherung der Daten. «Diese Daten sind für die Durch­führung einer Reservation notwendig und werden ausschliesslich dem Restaurant zur Weiter­verarbeitung zur Verfügung gestellt und bei der Lunchgate AG gespeichert.»

Sind solche Nutzungs­bedingungen datenschutz­konform? Weshalb bewahrt Lunchgate die Daten nach dem Restaurant­besuch über fünf Jahre lang auf?

Eine klare Antwort auf diese Frage habe ich vom Zürcher Start-up nicht erhalten. Lunchgate-Managing-Partner Yves Latour erklärt lediglich: «Unsere Kunden, die Gastronomen, führen Gäste­datenbanken, um zu sehen, welche Gäste oder Stamm­gäste seit wann und wie oft zu Besuch kommen.»

Der eidgenössische Daten­schützer kritisiert diese Bestimmungen. EDÖB-Sprecherin Silvia Böhlen sagt: «Lunchgate muss die Grund­sätze der Zweck­bindung, der Transparenz und der Verhältnis­mässigkeit wahren. Nach einer ersten Einschätzung auf Basis der auffindbaren Informationen genügen die Nutzungs­bestimmungen den gesetzlichen Anforderungen nicht in jedem Fall und müssten ausgebaut werden.»

Ein klares No-Go aus Sicht des eidgenössischen Daten­schützers sind die Nutzungs­bedingungen für die Restaurants, also die Kunden der Plattform.

Denn Lunchgate bedingt sich etliche Haftungsrisiken weg, mit Sätzen wie: «Ausserdem übernimmt Lunchgate keine Verantwortung und gibt keine Garantie dafür ab, dass die Funktionen auf Lunchgate.ch nicht unterbrochen werden oder fehlerlos sind, dass Fehler behoben werden oder dass Lunchgate.ch oder der jeweilige Server frei von Viren oder schädlichen Bestand­teilen ist.»

Man werde ein Auge auf Lunchgate haben, so EDÖB-Sprecherin Böhlen.

Ich habe zwischen­zeitlich die Löschung meiner Daten beantragt. Lunchgate bestätigte vor ein paar Tagen die Entfernung meiner Historie.

Die von Modzero aufgedeckte unsichere Hand­habung der Gäste­daten im Juli hatte in der Schweiz eine Handvoll Medienberichte zur Folge. In Deutschland könnte der Fall sogar ein juristisches Nachspiel haben, wo er weit mehr Aufsehen erregte als hierzulande. «In der Schweiz begegnet man der Heraus­forderung von Corona-Kontakt­listen mit der Sicherheits­attitüde der 90er», schreiben die «Logbuch:Netzpolitik»-Podcaster Linus Neumann und Tim Pritlove.

Fazit: Die Debatte um die Gäste­daten-Speicherung in der Schweiz idealisiert die Zeit vor Corona. Zu Unrecht, denn diese Pandemie­massnahme ist nicht eine Abweichung von einem zufrieden­stellenden Status quo. Der Daten­schutz war bei vielen Schweizer Unter­nehmen bereits vor Corona eingeschränkt – wenn überhaupt vorhanden.

Die gute Nachricht: Die Pandemie macht diese Defizite nun endlich sichtbar.

Zu Tisch bitte, es ist angerichtet.

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