Auf Inseln – Folge 3

Wie eine uneinnehmbare Festung: Ein Eisbrocken mit 100 Meter Höhe passiert das Forschungsschiff Maria S. Merian.

77,5 Grad Nord

Grönland, die grösste Insel der Welt, verliert mehr Eis denn je, schneller denn je. Welche Folgen hat das Tauwetter im hohen Norden für den Erdball? Eine Forschungsreise jenseits des Polarkreises. Auf Inseln, Folge 3.

Von Tim Kalvelage (Text) und Jan Richard Heinicke (Bilder), 22.07.2020

Vorgelesen von Patrick Venetz
0:00 / 20:44

Der Horizont über dem grauen Ozean wiegt im Bullauge sanft hin und her, während sich Christian Mertens in seiner Kabine über eine ausgebreitete Karte beugt. «Die kann ich stunden­lang studieren», sagt der 54-jährige Meeres­forscher, «Karten ordnen Dinge auf eine schöne Art und Weise.»

Am linken Rand des Ausschnitts der Welt, der vor Mertens liegt, liegt als mächtiger weisser Keil Grönland, die grösste Insel der Welt, vollgepackt mit Eis. Mertens zeigt auf einige Gletscher, die an der Ostküste ins Meer fliessen: Helheim, Kangersertuaq, Nioghalvfjerdsfjorden.

Zur Orientierung

Grönland ist ein autonomer Teil des Staates Dänemark. Auf einer Fläche von 2,1 Millionen Quadrat­kilometern leben insgesamt knapp 56’000 Menschen, 18’000 davon in der Hauptstadt Nuuk. Der Nioghalvfjerdsfjorden ist mit einer Länge von 70 Kilometern und einer Breite von 20 Kilo­metern der grösste Gletscher Grönlands, der Scoresbysund gilt mit einer Fläche von 38’000 Quadrat­kilometern als grösster Fjord der Welt. Der Ostgrönlandstrom transportiert vor allem kaltes und salzarmes Wasser.

Deshalb sind Christian Mertens und seine Crew aus 19 Forscherinnen, Wissenschaftlern und Studierenden hier, in der Arktis, auf dem Forschungs­schiff Maria S. Merian: Sie wollen dem Klima­wandel auf die Spur kommen. Heraus­finden, wie viel Schmelz­wasser der Ost­grönland­strom nach Süden verfrachtet, in den Nord­atlantik. Dafür wollen sie bis auf 77,5 Grad Nord vorstossen, 1390 Kilo­meter südlich des Nord­pols. Doch es ist unklar, ob es die «Merian» bis dorthin schafft – dickes Eis versperrt den Weg.

Es ist Ende Juli 2019, das Forschungs­schiff hat auf Neufundland abgelegt und Kurs auf Grönland genommen. Die Expedition ist Teil eines Gross­projekts, in dem Physiker, Geologinnen und Meteorologen den Rückzug der grönländischen Gletscher untersuchen. Und welche Folgen das für den Ozean hat.

Das Fernglas immer bereit zur Tier­beobachtung: Alba Filella López de Lamadrid ist Studentin in Kiel und Mitglied der Forschungscrew.
Eisschollen oder Schaumkronen? Auf dem Radar sind sie oft kaum zu unterscheiden.

Keine Region der Erde heizt sich schneller auf als die Arktis. Die Erwärmung beträgt hier das Doppelte, mancher­orts das Vierfache des globalen Mittels. Neben dem schwindenden Meereis bereitet Klima­forscherinnen vor allem der grönländische Eispanzer Sorgen: Das Eis ist stellen­weise mehr als 3 Kilo­meter dick, doch die gefrorene Decke der Riesen­insel wird immer schneller immer dünner. Die Insel verliert heute sechsmal so schnell an Masse wie vor 30 bis 40 Jahren: Heute schmelzen gegen 300 Milliarden Tonnen pro Jahr – in den 80er-Jahren waren es rund 50 Milliarden Tonnen.

Auf Inseln

Inseln faszinieren den Menschen, seit er denken, fühlen, sich sehnen kann. Und sie sind wunderbare Bühnen, um die Welt zu erzählen: Die Serie «Auf Inseln».

Folge 2

Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder

Sie lesen: Folge 3

Grönland, Dänemark: 77,5 Grad Nord

Folge 4

Budapest, Ungarn: Einmal heile Welt für alle

Folge 5

Über den Rand der Welt: Erlebnis und Erinnerung ver­schmel­zen

Folge 6

Víkholmen, Norwegen: Allein unter Möwen

Folge 7

Hongkong, China: Im Auge des Wir­bel­stur­ms

Folge 8

Kul­tur­ge­schich­te: Der Mythos der «einsamen» Insel

Folge 9

Norfolk Island, Australien: Die Bounty im Blut

Bonus-Folge

Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Ka­pi­ta­lis­mus

Vor allem die Gletscher an der Küste schmelzen im Rekord­tempo, weil wärmeres Meer­wasser in die Fjorde strömt. Der Eis­schwund auf Grönland ist eine der Haupt­ursachen für den Anstieg des Meeres­spiegels. Würde der gesamte Eisschild abtauen, der Pegel der Welt­meere läge 7 Meter höher.

Der steigende Meeres­spiegel ist das eine Problem, das sichtbare. Das andere spielt sich in den Tiefen des Ozeans ab: Vor der Südspitze Grönlands läuft ein wichtiger Motor für die Zirkulation im Atlantik und für den Wärme­austausch zwischen Tropen und subpolaren Gebieten. Wie ein gigantischer submariner Wasserfall sinkt dort schweres, salzreiches Wasser in die Tiefsee, um anschliessend Richtung Äquator abzubiegen. An der Oberfläche strömt Wasser aus dem Süden nach – der Golfstrom, der karibische Wärme mit sich bringt und Europa sein mildes Klima beschert.

Dieser Motor beginnt zu stottern.

Möglicherweise schwächelt die Umwälzung, weil Süss­wasser – einst in Gletschern eingeschlossen – den Salz­gehalt im Nordatlantik verringert. Das jedenfalls deuten Klima­modelle an.

Grönlands Eisschild schrumpft auch deshalb immer schneller, weil sich der Ozean aufheizt. Das belegen Langzeit­messungen in der Framstrasse zwischen Grönland und Spitzbergen, wo atlantisches Wasser in die Arktis strömt – ein Teil jedoch kehrtmacht und entlang des grönländischen Schelfs wieder nach Süden fliesst.

Seit 1997 ist die Temperatur des Atlantik­wassers um etwa 1 Grad gestiegen. Dadurch erodiert die Unterseite der Küsten­gletscher, ihre Fliess­geschwindigkeit nimmt zu, und gewaltige Mengen Süss­wasser gelangen in den Ozean.

Es gibt Anzeichen dafür, dass der Salz­gehalt vor Grönlands Südküste an der Oberfläche abnimmt und so weniger Tiefen­wasser entsteht. Klima­forscher befürchten, dass dies die atlantische Zirkulation bremst. Eine schwächelnde Umwälzung könnte abrupte Klima­veränderungen zur Folge haben.

Doch es fehlt an Messungen in den grönländischen Gewässern, um die Modelle zu überprüfen. Vor allem im unzugänglichen Nordosten.

63 Grad Nord

Als die «Merian» die Südost­küste Grönlands erreicht, hängt ein trüber Schleier über der schroffen Fels­kulisse. Es wimmelt von Eis­bergen, manche zerfurcht und kantig wie grobes Schnitz­werk, andere kiesel­glatt. Azur­blaue Adern durchziehen die Eiskörper. Das Schiff dampft mit halber Kraft, um Brocken ausweichen zu können, die in Wellen­tälern lauern. Alle paar See­meilen versenken die Forscherinnen ihre Mess­geräte und holen Hunderte Liter Wasser aus der Tiefe.

Informationen aus bis zu 3000 Meter Tiefe: Plastikrohre mit Wasserproben.
Sensoren ermitteln Temperatur, Salzgehalt und Strömungs­geschwindigkeit und errechnen daraus Angaben zur Wasserzirkulation.
Seit Studienzeiten fasziniert von der Welt der Polargebiete: Oliver Huhn, Klimaforscher.

Klack, klack, klack, schallt ein heller, metallischer Klang übers Deck. Klima­forscher Oliver Huhn hämmert mit einem Schrauben­schlüssel rhythmisch auf eine Aluschiene, die er mit einem Wal und einem Boot verziert hat, sein grauer Mittel­scheitel wippt im Takt. Die Schiene fixiert ein dünnes Kupfer­rohr, aus dem eisiges Meer­wasser über Huhns gelbe Gummi­stiefel plätschert. Noch einmal schlägt er auf das Aluminium, klack, klack, um letzte Luft­blasen aus dem Rohr zu bekommen, dann klemmt er die beiden Enden ab. Die Wasser­probe soll ihm später Hinweise darauf liefern, was hier vor Grönland vor sich geht.

«Das Eis, das Licht, die körperliche und mentale Heraus­forderung», beschreibt Huhn seine Faszination für die Polar­gebiete. Schon als Student fuhr der heute 49-Jährige auf einem Eis­brecher in die Antarktis, 3 Jahre seines Lebens hat er insgesamt auf See verbracht. «Ich will nicht die Welt retten», sagt er, «aber die grossen Zusammen­hänge verstehen zwischen dem Klima­wandel und den Veränderungen im Ozean.»

Vor 3 Jahren begann Huhn mit anderen Forscherinnen, einen der mächtigsten Gletscher Grönlands zu untersuchen. Im Nord­osten streckt die Eisinsel dem Meer eine ihrer Zungen entgegen, den mehr als 70 Kilo­meter langen Nioghalvfjerds­fjorden, auch genannt: der 79-Grad-Nord-Gletscher. Der schwimmende Teil des Gletschers ragt teilweise bis in 900 Meter Tiefe. Doch das Eis wird zusehends dünner. Die Zunge des benachbarten Zachariae­gletschers ist bereits fast vollständig abgebrochen.

Auf zwei früheren Expeditionen hat Oliver Huhn am 79-Grad-Nord-Gletscher Kupfer­rohre gefüllt. Um zu bestimmen, wie viel Eis an der Unter­seite verloren geht. Ziel der jetzigen Reise ist es, die übrigen grossen Gletscher an der Ostküste zu erfassen und die Spur des Schmelz­wassers zu verfolgen. Dafür analysiert er Edel­gase, die einst in Luft­bläschen im Gletscher­eis eingeschlossen wurden und sich nun im Meer­wasser lösen. Weil der Ozean sonst nur sehr geringe Mengen Edel­gase enthält, lässt sich der Schmelz­wasser­anteil so recht präzise bestimmen.

65 Grad Nord

Durch ein kleines Fenster sieht man, wie sich das Meer aufbäumt, um kurz darauf gegen die Bord­wand zu prallen. Vor Island ist die Expedition in einen Sturm geraten, die «Merian» taumelt wie ein angezählter Boxer, die Bull­augen starren in den bleiernen Himmel und die finstere See. In der Kombüse fliegt Porzellan, der Schiffs­arzt verteilt Pflaster gegen See­krankheit. Nur die Eissturm­vögel gleiten unbeeindruckt über den wütenden Ozean.

Auf der Brücke herrscht auch bei Wind­stärke 8 und 7 Meter hohen Wellen Gelassenheit. «Die ‹Merian› ist ein Stehauf­männchen», sagt Kapitän Ralf Schmidt, während das Schiff hinter dem nächsten Brecher abtaucht. «Wir haben schon bei Wind­stärke 12 geforscht.» Eisberge jedoch seien tückisch bei diesem Wetter. Gletscher­eis ist hart wie Beton, und kleinere Brocken sind auf dem Radar von den Schaum­kronen nicht zu unterscheiden.

Nebel und Totenstille: Die «Merian» bahnt sich ihren Weg durch die Eisschollen.
«Mein Schiff ist ein Stehauf­männchen, wir haben schon bei Wind­stärke 12 geforscht»: Kapitän Ralf Schmidt.
Aus der Vogelperspektive: Die «Maria S. Merian» mit ihrem Rufzeichen «DBBT».

Momentan stampft das Schiff über den eisfreien offenen Ozean, aber es wird bald flacheres Wasser erreichen. Ralf Schmidt hat die neueste Eis­karte vom dänischen Wetter­dienst ausgedruckt: Vor der grönländischen Ostküste lauern zahlreiche Eisberge. Weiter nördlich verzweigt sich der Scoresbysund tief in das Insel­innere. «Ab dort ist dann erhöhte Aufmerksamkeit erfordert», sagt er. An der Fjord­mündung beginnt das Meer­eis, das aus dem Arktischen Ozean nach Süden driftet. Dünnes Neueis kann die «Merian» brechen, um mehr­jährige Schollen macht sie lieber einen Bogen. Der nördlichste Teil der Route führt durch ein Gebiet mit über 90 Prozent Eis­bedeckung. Dort bestünde die Gefahr, eingeschlossen zu werden.

Die «Merian» hat auf früheren Expeditionen schon den 80. Breiten­grad überquert. Die Eis­bedeckung schwankt seit jeher, doch die letzten 12 Jahre fiel ein Rekord nach dem anderen. Manchmal bedeckte Ende Sommer nur noch halb so viel Eis den Arktischen Ozean wie normaler­weise. Der Klima­wandel sei deutlich sichtbar, sagt auch Kapitän Schmidt. «Vor der grönländischen Küste geht das Eis extrem zurück.» Die «Merian» erkundet Fjorde, wo die See­karten noch Gletscher verzeichnen.

Während die «Merian» durch das Eis­wasser fährt, ächzt Grönland unter jener Hitze­welle, die Mittel­europa im Sommer 2019 neue Temperatur­rekorde bescherte. An der Küste, 1000 Kilo­meter nördlich des Polar­kreises, klettert das Thermo­meter auf 19 Grad. Auf dem Höhepunkt der Hitzewelle verliert Grönland 12 Milliarden Tonnen Eis pro Tag. Das Schmelzwasser, das allein im Monat Juli ins Meer strömt, würde ausreichen, die Schweiz fast 5 Meter zu fluten.

68 Grad Nord

Nach gut einer Woche auf See passiert die Expedition bei 66,6 Grad Nord den Polar­kreis. Das Meer hat sich inzwischen ausgetobt. Backbord treibt die gezähnte Küste vorbei. Die «Merian» umschifft Eis­berge – Kathedralen, Frachtern und riesen­haften Schild­kröten gleich –, die der Sturm nahe an die Insel gedrückt hat.

Das Leben an Bord folgt einem eigenen Rhythmus, bestimmt durch die Stationen entlang der Route. Erreicht das Schiff die nächste Position, versenken die Wissenschaftler ihre Mess­geräte und sammeln Proben. Weil Schiffs­zeit kostbar und teuer ist, wird im Schicht­betrieb gearbeitet.

Die Arktis als Zukunft: Studentin Frederike Benz will ganz im Norden bleiben …
… und mit ihren Geräten auf Spitzbergen die Zirkulation in einem der Fjorde untersuchen.
Die Eisflächen auf Grönland gehen kontinuierlich zurück.
Der Wachhabende auf der Brücke kontrolliert, ob die Eisschollen dem Schiff zu nahe kommen.

Morgens beim Frühstück in der Kombüse blickt man in müde Augen. Und während die einen danach in ihrer Koje die Vorhänge zuziehen, beginnt für die anderen die tägliche Routine – Proben­gefässe vorbereiten, Meer­wasser abfüllen, Daten sichten. Dazwischen: sich an Deck den Wind um die Ohren pfeifen lassen, die fremd­artige Szenerie geniessen und darauf hoffen, dass irgendwo ein Wal auftaucht. Abends spielt man Tisch­fussball und Pingpong oder trinkt mit der Crew ein Bier in der Schiffs­bar. Die Veteranen erzählen dann von früheren Forschungs­expeditionen, von sonnigen Fahrten in die Karibik und von Stürmen im Nord­atlantik mit angelegten Rettungswesten.

Heute liegt das Meer friedlich im Dämmer­licht. Frederike Benz greift zum Funkgerät: «Labor an Brücke: Das Gerät ist bereit zum Aussetzen.» Die Studentin hat Schicht und ist zuständig dafür, dass Klima­forscher Huhn seine Proben erhält. «Verstanden. Dann kann das Gerät zu Wasser», tönt es blechern aus dem Laut­sprecher. Aus ihrem Labor sieht Benz, wie sich die Schiebe­tür auf Steuer­bord öffnet und die «Merian» einen roten Arm ausstreckt. An einem Draht­seil baumelt ein manns­hohes Stahl­rondell. Daran befestigt sind 22 verschliessbare Plastik­rohre und Instrumente zur Bestimmung von Salz­gehalt, Temperatur und Strömung.

Während der Stahl­rahmen zum Meeres­grund schwebt, verfolgt Benz die Messungen live am Computer. Wie das Wasser mit zunehmender Tiefe salziger wird und die Temperatur unter 0 Grad sinkt. Die Physik des Ozeans, die hinter den langsam vor ihr über den Bild­schirm kriechenden Linien steckt, ist ihre Leidenschaft. Sie träumt von einer Zukunft als Polarforscherin.

Der ursprünglich erlernte Beruf – Steuer­fach­angestellte – erschien der 28-Jährigen ohne höheren Sinn. Also kündigte sie, holte ihr Abitur nach und schrieb sich an der Uni Hamburg ein: Ocean and Climate Physics. Statt weisser Bluse trägt sie jetzt Strick­pulli und Gummistiefel.

1250 Meter Tiefe: Knapp über dem Meeres­grund wird das Mess­gerät gestoppt und das Draht­seil langsam wieder aufgespult. «Ich will zu etwas Wichtigem beitragen», sagt Frederike Benz, während sie per Maus­klick in der Tiefe einige Plastik­rohre schliesst.

70 Grad Nord

Die Expedition hat die Mitte der Ostküste erreicht. Von oben betrachtet, klafft dort eine riesige Wunde: der Scoresbysund. Der grösste Fjord der Erde verästelt sich Hunderte Kilometer weit land­einwärts. Vor der Mündung dümpeln ein Dutzend kleinerer Eisberge, strahlend wie eine makellose Zahn­reihe. Auf der anderen Seite passiert die «Merian» einen gigantischen Eiswürfel. Offenbar fest verankert ragt der rund 100 Meter hohe Monolith wie eine uneinnehmbare Festung aus dem Wasser. Seine Mauern glänzen im weichen Licht der nördlichen Sonne.

Oliver Huhn nutzt die Fahrt zwischen zwei Stationen, um das gute Wetter an Deck zu geniessen. Für einen Moment verstummt das metallische Hämmern auf seinen Kupfer­rohren. «Wir liegen gut in der Zeit», sagt er und zieht an seiner Zigarette. Er hat entschieden, zusätzliche Proben am Ausgang des Scoresbysund zu nehmen, der für den Wissenschaftler Huhn ein Highlight der Reise ist: «Der Fjord ist vermutlich eine starke Schmelz­wasser­quelle für den Ostgrönlandstrom.»

Hinter dem Scoresbysund trifft die «Merian» zum ersten Mal auf Meereis. Zunächst sind es nur einzelne Bruchstücke, die vortreiben – ein weisser Scherben­haufen. Dazwischen flattern Krabben­taucher, weiss­bäuchige Vögel mit schwarzer Maske, hektisch vor dem stählernen Eindringling davon. Ringel­robben lassen sich ins Wasser gleiten. Als die Eisdecke dichter wird, drosselt die «Merian» auf 3 Knoten, Schritt­geschwindigkeit. Kleine Schollen schiebt sie beiseite oder zerteilt sie knackend. Trifft das Schiff auf eine grössere, ertönt ein dumpfer Schlag und der Rumpf erzittert.

Ansonsten herrscht vor allem: Stille.

72 Grad Nord

Nachts wird es längst nicht mehr dunkel. Die Sonne schafft es kaum noch, sich unterm Horizont zu verkriechen. Frederike Benz steht mit anderen Studierenden an der Reling, sie machen Selfies mit dem Meereis, das im Dämmer­licht in zarten Blau­tönen schimmert. In der Ferne verhüllt ein Nebel­schleier die Silhouette der grönländischen Küsten­berge. Darüber: ein orangenes Band, vor dem Schwärme von Krabben­tauchern als schwarze Punkte vorbeiziehen. «Versteht ihr, warum die Arktis für mich ein magischer Ort ist?», fragt Benz.

Die atemberaubende Welt nördlich des Polarkreises.

Doch die gewaltige Arktis ist zerbrechlich. In den letzten 40 Jahren ist die Eisbedeckung im Sommer um rund 30 bis 50 Prozent zurück­gegangen, nie gab es im Juli seit Beginn der Satelliten­messungen weniger Meer­eis. Die Schollen werden immer dünner, und vor allem das mehrjährige Eis verschwindet. In wenigen Jahr­zehnten könnte die Arktis in der warmen Jahres­zeit gänzlich eisfrei sein. Dann würde sich der Ozean noch weiter aufheizen.

Noch gibt es Eis, noch muss die «Merian» durchs Eis navigieren. Gut zwei Wochen ist die Crew nun auf See, die Bärte werden länger, die Salz­krusten auf der Arbeits­kleidung dicker, die Songs während der oft monotonen Arbeit lauter und rockiger.

Bisher ist die «Merian» gut vorangekommen, der Grossteil der Messungen und Proben­nahmen konnten wie geplant erfolgen. Nun aber ist der letzte Abschnitt gefährdet. «Der aktuellen Eiskarte nach ist für uns bei 77,5 Grad Nord auf dem Schelf kein Durch­kommen», erklärt Kapitän Ralf Schmidt. Er und Fahrt­leiter Christian Mertens entscheiden daher, zunächst etwas weiter südlich zur Küste vorzustossen. Dort schwimmen die Schollen weniger dicht gedrängt. So hoffen sie, wertvolle Zeit zu gewinnen, um am Ende doch noch den nördlichsten Teil des Ost­grönland­stroms ansteuern zu können.

Bevor es wieder Richtung Küste geht, werfen die Forscherinnen noch eine Treib­boje mit Satelliten­antenne über Bord. Sie wird bis zu 4 Jahre lang autonom zwischen der Meeres­oberfläche und 2000 Meter Tiefe pendeln und dabei den Salz­gehalt und die Wasser­temperatur messen. Knapp 4000 dieser Bojen haben Wissenschaftler in den vergangenen 20 Jahren im Ozean ausgesetzt. Sie bilden ein welt­umspannendes Beobachtungs­system, das Klima­forscherinnen wichtige Langzeit­daten liefert. «Früher waren die Messungen oft lückenhaft», sagt Christian Mertens. «Heute zeichnen Bojen ständig und überall die Temperatur auf und belegen zweifelsfrei: Der Ozean wird wärmer.»

74 Grad Nord

Nach Nächten durch Nebel und Eis reisst am Morgen des dritten Tages der graue Schleier auf und enthüllt eine leuchtend weisse Welt. An der Meeres­oberfläche liegt die Temperatur inzwischen knapp unter dem Gefrier­punkt. Immer enger umschliessen die gewaltigen Eis­massen die «Merian», der Ozean schrumpft zu einer versprengten Seen­landschaft. Mit einem Knoten bahnt sich das Schiff einen Weg durch die eisige Wüste.

«Eisbär!», schreit plötzlich jemand übers Deck. «Eisbär!» Forscherinnen und Matrosen stürmen zur Reling. «Wo?» In rund 200 Metern Entfernung tritt der König der Arktis auf einer Scholle hinter einer Schnee­wehe hervor. Kameras klicken. Der Bär hebt den massigen Schädel und hält seine Schnauze in den Wind, als würde er die Eindringlinge wittern. Dann stapft er weiter, um hinter einem anderen Schnee­haufen zu verschwinden. Augen­blicke später sieht man den Eisbären ins Wasser springen. Während er zur Nachbar­scholle schwimmt, verschwindet er allmählich aus dem Blickfeld der «Merian».

77 Grad Nord

Früher als vermutet stösst die «Merian» wieder auf Meer­eis. Zahlreiche Schollen haben sich vom Haupt­feld über dem Schelf gelöst. Dazu ist das Schiff bald wieder in dichten Nebel gehüllt, die Sicht­weite beträgt kaum 200 Meter. Flösse, gross wie Fussball­plätze, treiben vorbei, durchzogen von türkis­blauen Kanälen und Schmelz­tümpeln. Auf dem Radar erscheinen sie als grüne Punkte mit grauem Schweif, als kreuze die «Merian» einen Kometen­schauer. Schliesslich ist das Eis so dicht, dass sie nicht mehr ausweichen kann. Rumms! Wie in Zeit­lupe brechen die Schollen unter lautem Knacken entzwei, driften auseinander und schieben sich an anderer Stelle knirschend übereinander.

Bei 77,5 Grad Nord ist Schluss, die «Merian» muss kehrt­machen. Das Eis, dessen Verschwinden sie dokumentieren und verstehen, am Ende verhindern wollen, ist zu dicht. Noch einmal lassen sie ihre Instrumente zu Wasser und sammeln letzte Proben. Dann geht es mit 13 Knoten durch die Fram­strasse nach Spitzbergen.

3615 Seemeilen, 170 Stationen und 720 Kupfer­rohre zur Analyse von Schmelz­wasser: Für Expeditions­leiter Christian Mertens war die Reise ein voller Erfolg. «Wir haben völliges Neuland erforscht», sagt er.

Wenn alle Proben gemessen und alle Daten ausgewertet sind, werden sie mehr darüber wissen, wie die schmelzenden Gletscher Grönlands den Ozean verändern. Jetzt aber freut sich Oliver Huhn erstmal auf wärmeres Wetter und seine Garten­parzelle in Bremen, in der die Tomaten und Brombeeren reif sind. Studentin Frederike Benz wird in der Arktis bleiben. Sie will auf Spitzbergen die Zirkulation in einem der Fjorde untersuchen. Damit kommt sie ihrem Traum ein Stück näher: als Polar­forscherin zu etwas Bedeutsamem beizutragen. Zu einem besseren Verständnis des Klima­wandels. Und zum Wissen darüber, was dagegen zu tun ist.

In einer früheren Version schrieben wir fälschlicherweise, Grönland verliere 300 Millionen Tonnen Eis pro Jahr – es sind, wie jetzt korrekt beschrieben, 300 Milliarden Tonnen pro Jahr.

Zum Autor

Tim Kalvelage ist promovierter Biogeo­chemiker und Absolvent der Reutlinger Reportage­schule. Er schreibt unter anderem für die «Zeit», «Süddeutsche Zeitung», «Spektrum der Wissenschaft» und «PM Magazin».

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