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Der Hunger nach dem Virus

16.06.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Corona hat vieles verändert: uns selbst, die Welt um uns herum – und wie wir beides sehen. Verletzlichkeit, so haben wir gemerkt, ist nichts, wovor wir gefeit sind, trotz Wohlstand, guter Bildung, teurem Gesundheitssystem. Sie ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft.

Was ist mit jenen, die diese Tatsache schon vorher nicht verdrängen konnten, ganz einfach weil sie stets existenziell damit konfrontiert waren? Jene, die schon in der Krise waren, als die Krise losging? Während wir uns fragen, ob wir uns mit einem Besuch in wieder geöffneten Restaurants mit dem Virus anstecken können, haben immer mehr Menschen ein ganz anderes Problem: Woher die nächste Mahlzeit nehmen?

Vor Corona versorgte das World Food Programme (WFP) der Uno rund 100 der 135 Millionen Menschen, die weltweit Hunger leiden. Jetzt, als Folge der Pandemie, rechnen die Experten damit, dass sich diese Zahl verdoppelt und im Verlauf des Jahres eine Viertelmilliarde Menschen von Mangel­ernährung, Versorgungsunsicherheit und Hunger bedroht sind. «Wir befürchten, dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie weit schlimmer ausfallen werden als die gesundheitlichen», sagt WFP-Sprecherin Bettina Lüscher.

Einerseits schafft Covid-19 neuen Hunger. Als in manchen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Schulen schlossen, verloren Millionen Kinder damit auch ihre einzige sichere Mahlzeit am Tag. Die Schul­speisungen sind für viele Eltern mit ein Anreiz, ihre Kinder überhaupt zur Schule zu schicken. Jetzt springt das Uno-Programm, stets auf Einladung und in Zusammenarbeit mit den lokalen Regierungen, in diese Lücke und finanziert oder ersetzt den Eltern diese ausfallende Mahlzeit. «Sonst werden diese Kinder womöglich zur Arbeit geschickt oder landen am Ende sogar in der Prostitution», sagt Lüscher.

Die grösste Hilfsorganisation der Welt ist nun auch dort gefragt, wo sie noch nicht direkt aktiv war. In Kenia zum Beispiel unterstützt das WFP für die nächsten Monate rund eine Viertelmillion Menschen in den Slums von Nairobi, die bisher selber über die Runden kamen. Gefragt ist hier vor allem: Cash. Der Mensch muss essen, auch wenn er keine Regierung mit einem milliardenschweren Kurzarbeitsprogramm hinter sich hat. Und so könnten in Metropolen aufstrebender Länder wie etwa Indien schon bald Erfahrungen umgesetzt werden, die man in den Flüchtlingslagern rund um Syrien gemacht hat. Dort baute das WFP Supermärkte, wo die Menschen Lebensmittel einkaufen und mit Debit-Karten bezahlen.

Besonders prekär ist die Lage allerdings dort, wo sich die neue Krise auf die alten legt. Im Sahel und in Westafrika zum Beispiel, wo Hunderttausende auf der Flucht vor Konflikten sind und Dürre herrscht. Im Südsudan, wo zu den bisher 5 Millionen Hilfsbedürftigen jetzt weitere 1,6 Millionen dazukommen. Und, am schlimmsten: im Jemen, wo seit Jahren Krieg herrscht. 20 der 30 Millionen Jemenitinnen wissen nicht, wo sie die nächste Mahlzeit hernehmen. 12 Millionen von ihnen versorgt das WFP mit Nahrung.

Die Organisation hat kein garantiertes Budget, sondern bittet jedes Jahr die Geberländer um Hilfe für das, was ansteht. Allein für den Jemen braucht das WFP für die zweite Jahreshälfte 878 Millionen Dollar. «Wir sind die bestangezogenen Bettler der Welt», sagt Bettina Lüscher.

Das Virus, hört man immer wieder, sei ein grosser Gleichmacher, weil alle davon bedroht seien. Wir sollten uns darauf einstellen, dass das Gegenteil der Fall ist.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen insgesamt 31’146 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 15 Fälle mehr.

Wirtschaftskrise erwartet: Die Expertengruppe Konjunkturprognosen des Bundes rechnet für das Jahr 2020 mit einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts von -6,2 Prozent – das wäre der tiefste Einbruch der Schweizer Volkswirtschaft seit 1975. Die Arbeitslosenquote könnte auf bis zu 3,8 Prozent steigen. Die Expertinnen gehen davon aus, dass sich der Konsum wegen der sinkenden Beschäftigung nur langsam wieder erholt. Gleichzeitig spürt die stark exportorientierte Schweizer Volkswirtschaft auch die Krise bei vielen ihrer internationalen Handelspartner.

Parlamentsentscheid zur Hilfe für Selbstständige verschoben: Am Montag entschied der Nationalrat, dass er noch diese Woche zwei Motionen behandeln will, die Gelder für Selbstständige und inhabergeführte KMU vorsehen. Seit dem 1. Juni erhalten diese keine finanzielle Unterstützung mehr. Jetzt revidierte die Kammer diesen Entscheid bereits wieder, mit Verweis auf das Parlamentsgesetz: Dieses sieht vor, dass Vorstösse erst behandelt werden können, wenn der Bundesrat dazu Stellung genommen hat. Das sei noch nicht geschehen.

Vielversprechendes Medikament: Forscher rund um ein Team von Martin Landray von der Universität Oxford vermelden einen «Durchbruch» auf der Suche nach einem Covid-19-Medikament. Der Wirkstoff Dexamethason erhöhte laut den Wissenschaftlerinnen in klinischen Versuchen die Überlebenswahrscheinlichkeit insbesondere von schwer erkrankten Patienten. Besonders vielversprechend ist, dass der Wirkstoff in der Herstellung vergleichsweise günstig ist – er sei darum «weltweit zugänglich», sagte Forschungsleiter Landray der BBC.

Die interessantesten Artikel des Tages:

Glühwürmchen im menschenleeren Wald: Normalerweise stören im Congaree-Nationalpark im Süden der USA zu viele Menschen die Ruhe, als dass Forscherinnen ein faszinierendes Phänomen genau beobachten könnten: Glühwürmchen beim Paarungsritual. Jetzt nutzten sie die Corona-Pause, um die leuchtenden Tierchen zu studieren.

Eine neue Sicht auf die Globalisierung: Die heftigste Phase der Pandemie ist für viele Länder für den Moment vorüber, jetzt bleiben viele grundsätzliche Fragen. Das ZDF hat seine Wissens-Doku-Serie «Pandemie», die wir an dieser Stelle bereits einmal empfohlen haben, um neue Folgen ergänzt. Anschauen lohnt sich.

Covid-krank im Gefängnis: Was passiert, wenn in einem Gefängnis die Pandemie ausbricht? Nach der Tötung eines schwarzen Bürgers durch einen weissen Polizisten wird derzeit unter anderem viel über das amerikanische Polizei- und Justizsystem diskutiert. Dieser Bericht des «New Yorker» über einen Covid-Ausbruch in einem Südstaaten-Gefängnis bringt eine weitere Perspektive ein.

Frage aus der Community: Ich reise bald nach München und sitze sechs Stunden im Zug. Ich bin 65 Jahre alt und verunsichert. Gibt es Masken, die auch einen hohen Selbstschutz bieten?

Die Sache mit den Masken: Sie hat in der Schweiz für viel Aufregung gesorgt. Während beispielsweise in vielen deutschen Bundesländern – auch in Bayern, wo Sie hinfahren – noch immer eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr gilt, war die Schweiz hier zurückhaltend. Der mittlerweile pensionierte BAG-Vertreter Daniel Koch sorgte gar mit widersprüchlichen Aussagen für Verwirrung. Wir haben die wichtigsten Erkenntnisse und Abwägungen dazu Anfang April für Sie zusammengefasst.

Inzwischen aber gilt: Am wichtigsten bleibt es, zwei Meter Abstand zu halten. Wo dies nicht möglich ist, gerade im öffentlichen Verkehr, ist Maskentragen empfehlenswert. Da Sie zur Risikogruppe gehören und sich verunsichert fühlen, kann das für Sie eine gute Lösung sein. Welche Maske also könnten Sie tragen?

Am sinnvollsten ist eine sogenannte Hygienemaske, wie sie die Gesundheitsbehörden auch den Mitarbeitenden in Spitälern empfehlen. Sie sind mittlerweile in Apotheken, Drogerien und Haushaltsabteilungen wieder gut erhältlich – ob online oder im physischen Laden. Wichtig aber ist, dass Sie die Maske richtig nutzen: unbedingt vorher die Hände gut reinigen oder desinfizieren. Eine genaue Anleitung finden Sie hier.

Versuchen Sie, die Reise trotzdem etwas zu geniessen. Wenn Sie gut Abstand halten und sich regelmässig die Hände waschen, schützen Sie sich gut. Wir wünschen eine angenehme Fahrt!

Zum Schluss: Die beruhigende Corona-Stimme am Telefon

Wer in Indien jemanden anruft, hört seit knapp drei Monaten nicht nur ein Wartezeichen, sondern ihre Stimme: Jasleen Bhalla. Sie erklärt den Anruferinnen die wichtigsten Pandemie-Verhaltensregeln.

Die professionelle Sprecherin hat sich zuvor schon für eine Metrolinie, ein Telecom-Unternehmen und eine Fluggesellschaft an das Publikum gewandt – doch erst ihre neueste Rolle machte sie berühmt. Sie liebe natürlich die Aufmerksamkeit, sagte Bhalla der BBC. «Andererseits: Wer will schon als Corona-Stimme bekannt sein?»

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Amir Ali, Ronja Beck, Oliver Fuchs und Olivia Kühni

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Als auf dem Höhepunkt der Pandemie die Intensivplätze knapp wurden, sandten die Niederlande einen Hilferuf los. Erhört hatte ihn die Uniklinik im deutschen Münster, die in der Folge die Verlegung von fast 60 Erkrankten in deutsche Spitäler koordinierte. Als Dankeschön ans Personal der Uniklinik gab es nun von der niederländischen Regierung rührende Reden, herzliches Lob und – 4000 Matjes-Heringe. Wer hätte jemals gedacht, dass Bilder von Fische verschlingenden Menschen so viel Symbolkraft entfalten könnten.

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