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Les Intouchables

15.05.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Wenn Worte nichts mehr haben ausrichten können, dann hat Pflegefachfrau Ankie van Es früher einer leidenden Patientin oder einem weinenden Angehörigen den Arm um die Schultern gelegt. Oder sie hat ihre Hand gehalten. Seit einigen Wochen geht das nicht mehr. Seit die Pandemie ausgebrochen ist, arbeitet sie mit Schutzmaske, schüttelt keine Hände mehr und vermeidet Berührungen.

Ankie van Es arbeitet für Palliaviva – ein Palliative-Care-Team, das Menschen mit unheilbaren Krankheiten und komplexen Symptomen zu Hause betreut. Es ergänzt die Grundversorgung durch die Spitex und Hausärzte mit spezialisierter Pflege und Medizin.

Weil in der Palliativpflege die Beziehung im Mittelpunkt steht, ist der Verzicht auf Berührungen schwierig. «Das Körperliche zählt, aber genauso das Psychische, das Soziale und das Spirituelle», sagt Sabine Arnold, die bei Palliaviva für die Kommunikation zuständig ist. «Es geht auch um Menschlichkeit und Wärme.» Gerade in der Endphase des Lebens sei dies sehr wichtig.

Einen Ersatz für die Berührungen hat Ankie van Es bisher nicht gefunden: «Jetzt muss man manchmal einfach die Stille aushalten», sagt sie in einem Videointerview auf Twitter. Dazu kommt, dass sie auch mit ihrer Mimik nichts mehr ausdrücken kann, wenn sie die Maske trägt. Und selbst das Ritual des Händeschüttelns fehlt ihr, gerade bei neuen Patienten: «Ich weiss bis heute nicht, wo ich dann meine Hände hintun soll.»

Trotz der erschwerten Bedingungen besuchen die Pflegefachfrauen ihre Patienten nach wie vor zu Hause. Denn weil die Corona-Krise viel Angst und Unsicherheit ausgelöst hat, ist der persönliche Kontakt umso wichtiger.

Dazu kommt, dass die Pandemie die Patientinnen noch mehr isoliert hat. Weil alle Risikopatienten sind – 90 Prozent sind krebskrank, andere haben schwere Organschädigungen, Nerven- oder Lungenkrankheiten –, können sie keinen Besuch mehr empfangen. «Die meisten leiden sehr unter der Einsamkeit», sagt Sabine Arnold.

Vielen fehlt vor allem der Kontakt zu ihren Enkeln. Diese spenden sonst Trost und Lebensqualität, gerade in der Endphase des Lebens. Um sich abzulenken und der Einsamkeit entgegenzuwirken, empfehlen die Palliativpfleger ihren Patientinnen Videokonferenzen mit ihren Angehörigen oder dass sie sich eine Beschäftigung suchen, die sie inspiriert.

Aber natürlich ist das ein schwacher Trost für das Zusammensein mit dem Enkelkind.

Auch für die Angehörigen hat sich viel geändert. So sind einige, die nun im Homeoffice arbeiten, plötzlich Tag und Nacht mit ihren kranken Partnern zusammen. Das kann schön sein, weil man mehr Zeit gemeinsam verbringt. Aber auch schwierig, wenn man der Krankheit und dem psychischen Auf und Ab der Partnerin nie mehr ausweichen kann.

Trotz all dieser Herausforderungen kann Sabine Arnold der Corona-Krise doch auch etwas Positives abgewinnen: «Unsere Mitarbeiterinnen sind es gewohnt, schwierige Gespräche zu führen, auch über das Sterben.» Aber selbst viele unheilbar Kranke würden lieber nicht darüber sprechen. Diese Gespräche würden nun beschleunigt. «Es ist eine Chance für uns alle, uns zu überlegen, wie wir mit dem Tod umgehen», sagt Sabine Arnold. Es sei wichtig, dass man mit seinen Angehörigen darüber spreche, was man am Ende des Lebens wolle oder nicht wolle – selbst wenn man gesund sei.

Während für viele von uns nun langsam der Alltag wieder zurückkehrt, geht Sabine Arnold davon aus, dass die Einschränkungen im Bereich der Palliative Care noch viel länger bestehen bleiben werden. Wie lange, das weiss niemand. Aber eins können die Frauen und Männer, die täglich mit persönlichen Krisen konfrontiert sind: Unsicherheit aushalten.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 30’514 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 51 Fälle mehr. Bis Mitte April kamen täglich neue Fälle im dreistelligen Bereich dazu.

Besuche wieder möglich: Binationale Paare aus der Schweiz, Deutschland oder Österreich können sich freuen: Ab Mitternacht wird die Grenze für sie wieder geöffnet. Das gilt auch für Personen, die im Nachbarland Familie besuchen wollen, eine Zweitwohnung besitzen oder Tiere versorgen müssen.

Keine Maskenpflicht in Zügen: Obwohl die SBB empfehlen, zu Stosszeiten eine Maske im Zug zu tragen, halten sich viele nicht daran. Ein Masken-Obligatorium soll es aber trotzdem nicht geben. Zurzeit habe es noch genug Platz, dass Abstand gehalten werden könne, sagte SBB-Chef Vincent Ducrot heute. Wenn die Züge aber – voraussichtlich ab dem 25. Mai – wieder nach Deutschland und Österreich fahren, muss spätestens an der Grenze zwingend eine Maske angezogen werden.

Slowenien öffnet Grenzen: EU-Bürger können wieder normal einreisen. Angehörige von Drittstaaten können ebenfalls einreisen, müssen sich aber in eine siebentägige Heimquarantäne begeben. Die Ansteckungszahlen in Slowenien sind zuletzt stark zurückgegangen.

Die besten Tipps und interessantesten Artikel

  • Herdenimmunität: Hinter dem Schlagwort steht die Hoffnung, die Pandemie komme ganz von allein zu einem Ende, wenn erst einmal genügend Menschen das Virus hatten. Die Datenjournalistinnen von «FiveThirtyEight» zeigen auf, warum der Preis dafür viel zu hoch ist – und warum wir ohne Impstoff nicht aus der Sache rauskommen.

  • Risikopatient Regenwald: In Kolumbien leidet selbst der Wald unter dem Coronavirus. Der Grund: Umweltschützer bleiben im Lockdown, Umweltverbrecher nicht. Deshalb hat die Brandrodung dramatisch zugenommen: Im ersten Quartal 2020 könnte bereits mehr abgeholzt worden sein als im ganzen Jahr 2019.

  • Geheime Machenschaften: Verschwörungstheorien fallen zurzeit auf fruchtbaren Boden. Und es ist einfach, sich herablassend über die «Aluhutträger» zu äussern. Aber macht man es sich damit nicht zu simpel? Die «Zeit» beleuchtet das Thema in einem Essay mit dem hübschen Titel «Von bösen Mächten wunderbar geborgen» – und erklärt, wieso es eigentlich «Verschwörungsglaube» heissen sollte.

    Ausserdem. Ein freundlicher Hinweis auf einen Artikel aus unserem Haus:

  • Die Sache mit dem Krisenstab: Wer managt in Bern die Corona-Krise? Das fragte sich unsere Redaktorin Andrea Arežina und begann zu recherchieren. Ihr Fazit: Es ist kompliziert. Und zeigt die Machtverhältnisse im Land.

Frage aus der Community: Wie wahrscheinlich ist es, dass ich mich über eine fertig zubereitete Mahlzeit infiziere, über die jemand gesprochen, geatmet oder geredet hat?

Der wichtigste Übertragungsweg ist nach jetzigem Kenntnisstand bei weitem die sogenannte Tröpfcheninfektion, bei der Viren von Infizierten über Tröpfchen in die Luft abgegeben und dann eingeatmet werden. Ein weiterer Weg sind Schmierinfektionen.

Das Bundesamt für Gesundheit hält sehr klar fest: «Eine Übertragung des neuen Coronavirus durch Lebensmittel oder Trinkwasser auf den Menschen ist bis jetzt nicht bekannt.» Das Bundesinstitut für Risikobewertung der deutschen Regierung teilt die Einschätzung, dass eine Infektion «über den Verzehr kontaminierter Lebensmittel» nicht bekannt sei, was im Übrigen auch für andere humane Coronaviren gelte, mit denen Sars-CoV-2 verwandt ist. In den Gastro-Schutzmassnahmen spielt die Möglichkeit, dass das Virus über das Essen weitergegeben werden könnte, denn auch keine Rolle: «Es müssen aus Sicht der Lebensmittelsicherheit keine spezifischen zusätzlichen Massnahmen getroffen werden», heisst es dazu beim BAG.

Buffets sind im Schutzkonzept von Gastrosuisse übrigens explizit erlaubt, sogar mit Selbstbedienung – sofern man Abstand halten und die Hände waschen kann.

Zum Schluss ein Blick nach Sierra Leone, wo ein Minister mit einem Tabubruch zum Vorbild wird

Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt, dass wir unserer Chefin bei den Videokonferenzen in die Wohnung sehen und dass bei einem Arbeits­kollegen manchmal noch ein Kind auf dem Schoss sitzt. Aber als sich der Erziehungsminister von Sierra Leone kürzlich mit seiner zehn Monate alten Tochter in ein Zoom-Meeting einschaltete und danach ein Bild davon veröffentlichte, brach er damit gleich zwei Tabus. Denn David Moinina Sengeh hatte sich das Mädchen mit einem bunten Tuch auf den Rücken gebunden, so wie es in Afrika sonst die Mütter machen. Afrikaner, die ein Baby auf dem Rücken tragen, sieht man kaum. Daneben ist es in Afrika auch nicht üblich, dass ein Minister sich der Bevölkerung so privat zeigt. Auftritte sind sonst möglichst offiziell und möglichst formell. Doch der coole Minister, der ursprünglich Wissenschaftler war und auch noch als Journalist, Rapper und Musiker arbeitet, dürfte nun nicht nur andere inspiriert haben. Er hat nebenbei auch noch gezeigt, wofür Zoom-Konferenzen gut sein können: Er habe sich gedacht, dass die Präsentation seiner Tochter sicher helfen würde einzuschlafen, schrieb er auf Twitter.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Und haben Sie ein gutes Wochenende.

Amir Ali und Bettina Hamilton-Irvine

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Eine globale Pandemie ist genau der richtige Moment, um mit Online-Dating anzufangen, dachte sich Autorin Carline Mohr. Was sollte schiefgehen? Ziemlich viel, wie sich zwei Monate später zeigt.

PPPPS: Wir haben viele Grafiken und Kurven gesehen in den letzten Wochen. Der «Nebelspalter» fügt eine hinzu, die Sie noch nicht kennen.

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