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Gehen geht meistens, und meistens geht es danach besser

29.05.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Es dauert nur noch etwas mehr als eine Woche, dann öffnen die Zoos und Badis wieder, die Kinos, Theater und Sportplätze. Kurz: das ganze kunterbunte, pralle öffentliche Leben. Wenn es Ihnen ähnlich geht wie manchen hier in der Redaktion, sind Sie zwiegespalten. Nicht nur wegen des Risikos. Sondern auch deshalb, weil damit zwar viele schöne alte Gewohnheiten endlich wieder möglich sind – dafür aber vielleicht ein paar schöne neue Gewohnheiten wieder verblassen. Beispielsweise das Spazieren.

Viele Menschen haben es in den letzten Wochen wiederentdeckt. Die Journalistin Melanie Keim überlegt, warum es sich lohnen könnte, einfach immer weiter zu spazieren:

Wie geht es weiter nach dem Lockdown? Das ist die grosse Frage. Können wir die wertvollen Dinge mitnehmen, die wir in dieser struben Zeit schätzen gelernt haben? Gehen wir etwa weniger individualistisch und weniger gestresst durchs Leben, bleiben wir aufmerksam für das, was uns umgibt? Eigentlich müssten wir dazu nur etwas ganz Simples aus dieser Zeit beibehalten: das Spazieren.

Wer spaziert, widersetzt sich ziemlich vielen dämlichen Anforderungen unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft. Wenn ich spaziere, langsam und ohne klares Ziel, bin ich nicht effizient, ich tue nichts Nützliches. Das allein hat schon etwas Rebellisches in einer Gesellschaft, in der alles optimiert ist, man immer möglichst busy ist, mehr Konsumentin als Bürgerin. Klar wird auch das Gehen mit Schrittzählern bereits instrumentalisiert. Trotzdem ist Gehen kein Leistungssport, es ist eine einfache «Laienhandlung», wie die Kulturhistorikerin Rebecca Solnit in «Wanderlust» schreibt, ihrer Geschichte des Gehens. Spazieren ist so hundsbanal, so unspektakulär, dass es nicht zum Schwanzvergleich taugt. Mit Spazieren kann ich nicht angeben, beim Spazieren kann ich nicht perfektionistisch sein. Und von solchen Sachen könnten wir mehr brauchen.

In den ersten Tagen des Lockdown bin ich jeden Morgen als Erstes in den Wald gegangen, um nicht verrückt zu werden. Egal, wie düster es im Kopf aussieht, Gehen geht meistens, und meistens geht es danach besser. Doch anders als bei all diesen Achtsamkeitstrainings, bei denen man sich nur auf sich selbst konzentrieren soll, bleibe ich auf einem Spaziergang bei mir und öffne mich gleichzeitig der Welt. Langsam gehend sehe ich Dinge, die ich joggend, auf dem Velo oder im Tram nicht sähe: den Schlafsack unter einer Treppe auf dem Weg zum Büro, die vielen Aushänge für selbst genähte Masken oder verlorene Büsi, die von Solidarität und Liebe zeugen. Auf der Strasse höre ich, wie zwei Teenager darüber diskutieren, dass X seit einem halben Jahr nicht mehr Jungfrau ist. Und wie ich nun fast täglich an diesem hässlichen Neubau in meinem Quartier vorbeigehe, begreife ich langsam, dass er vielleicht doch nicht so scheisse gebaut ist. Sonst wäre in dieses braune Ungetüm, das nach Ferienwohnungen an der Costa del Sol aussieht, nicht so schnell so viel Leben eingekehrt.

Manche haben im Lockdown die Offenheit der Tage schätzen gelernt. Wir lebten für einmal nicht nach Plan, sondern im Moment. Beim Spazieren tun wir genau das. Wir lassen uns treiben. Ob ich abbiege oder weitergehe, entscheide ich spontan. Ich bin völlig frei, vom Weg abzukommen, eine Pause zu machen. Und während sich meine Umgebung verändert, verändere auch ich mich. Dabei geht es immer weiter, links, rechts, links, rechts, Schritt für Schritt vorwärts. Sieht nicht so das gute Leben aus?

«Spazieren muss ich unbedingt» liest man denn auch in Robert Walsers Erzählung «Der Spaziergang». Walser ist nur einer von vielen, die übers Spazieren schreiben, das Nachdenken über unser Gehen hat eine lange Tradition. In den letzten Jahren jedoch wurde wieder auffallend viel darüber sinniert. Philosophen, Kunstsammler, Neurowissenschaftler – das Spazieren ist noch immer eine Männerdomäne – schrieben über diese ursprünglichste Bewegung des Menschen, erklärten, dass Gehen gegen Depressionen hilft, wie es das Denken anregt und kreativ macht. Doch das macht nur deutlich, dass uns bei all den Outdoor-Aktivitäten die einfachste Outdoor-Handlung abhandengekommen ist.

Dabei hätten wir sie bitter nötig. Wir ziehen uns zunehmend in private Räume zurück, und in den Cafés und Bars, auf den öffentlichen Plätzen gleichen sich die Menschen immer mehr. Die Städte fragmentieren sich zunehmend, es gibt kaum Orte und Gelegenheiten für eine echte Durchmischung. Doch war es nicht wunderbar, wie sich während des Lockdown auf den Strassen, im Wald, in den Gassen plötzlich alle möglichen Menschen begegneten? Die Schweiz ist kleinräumig genug, um spazierend fremde Räume und andere Realitäten zu durchqueren.

Deshalb: Spaziert doch weiter, auch wenn man nun wieder so viel anderes tun kann!

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 30’828 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 32 Fälle mehr. Gestorben sind bisher im Zusammenhang mit einer laborbestätigten Covid-19-Erkrankung 1657 Personen.

Epidemiologin untersucht Todesfälle in Pflegezentren: Im Zürcher Pflegezentrum Gehrenholz starben 21 Langzeitbewohner an Covid-19, nachdem die Stadt dort eine Covid-Isolationsstation eingerichtet hatte, wie Recherchen der Republik zeigten. 65 von 108 Bewohnerinnen infizierten sich mit dem Virus. Jetzt stellt die Stadt eine Epidemiologin ein, die die Ansteckungsketten untersuchen soll, wie Radio SRF berichtet. Laut Gabriela Bieri, Chefärztin des Geriatrischen Dienstes der Stadt Zürich, habe dies allerdings mit unserer Recherche nichts zu tun. Die Stadt habe zudem alles richtig gemacht. (Wir fassen zusammen. Die vielen Fälle gerade in diesem Zentrum: Zufall. Die Ankündigung der Untersuchung gleich am Tag nach Publikation der Recherche: ebenfalls Zufall.)

Baby an Covid-19 verstorben: Erstmals ist in der Schweiz ein Kind an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben. Das gab der neue Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten des BAG, Stefan Kuster, heute in Bern bekannt. Der Säugling aus dem Kanton Aargau hatte sich im Ausland angesteckt. Ebenfalls hätten sich in Basel zwei Kinder mit dem Coronavirus angesteckt; rund 70 Personen mussten deshalb in Quarantäne.

Schulen in Zürich öffnen: Im Kanton Zürich nehmen die obligatorischen Schulen ab dem 8. Juni den ordentlichen Vollbetrieb wieder auf, wie Bildungsdirektorin Silvia Steiner heute Nachmittag informierte. Auch das Betreuungsangebot steht wieder wie gewohnt zur Verfügung. Die Gymnasien und Berufsschulen nehmen ab dann einen reduzierten Präsenzunterricht wieder auf.

Die interessantesten Artikel

  • Bitte im Norden bleiben: Viele europäische Feriendestinationen lassen in den nächsten Wochen wieder ausländische Gäste einreisen – ausser sie kommen aus Schweden. Weil das Land weniger strikte Massnahmen gegen die Pandemie ergriff als andere Staaten, bleibt für die Schwedinnen die Reisefreiheit teilweise noch länger eingeschränkt. Die NZZ hat dazu eine interessante Analyse.

  • Schwächeres Immunsystem: Wir haben es in den letzten Monaten dutzendfach gelesen und gehört: Das Virus gefährdet ältere Menschen stärker, weil sie tendenziell ein schwächeres Immunsystem haben. Aber wieso eigentlich? Eine Ärztin erklärt.

  • «Ich vermisse meine Grosskinder»: Apropos ältere Menschen: Selbst in dieser Pandemie sprechen wir allzu oft über sie, statt sie selber reden zu lassen. Das gilt ganz besonders für ältere Frauen. In diesem wunderbaren (englischen) Text schildert eine Wissenschaftsjournalistin und Grossmutter, wie sie die Krise erlebt – und warum sie sich auch um ihre Enkelinnen sorgt.

Frage aus der Community: Man darf ja jetzt wieder Partys feiern. Bekomme ich Ärger, wenn die Meute um Mitternacht immer noch bei mir ist?

So, wie Sie das beschreiben, gehen wir von einem privaten Fest aus. Ein solches dürfen Sie tatsächlich ungeniert wieder feiern, weil ab morgen wieder Gruppen von bis zu 30 statt wie bislang nur 5 Personen zusammenkommen dürfen.

Die Sache mit dem Lichterlöschen um Mitternacht betrifft allerdings nicht Sie, sondern kommerzielle Clubbetreiberinnen und Gastronomen: Sie müssen um Mitternacht die Türen schliessen. Was übrigens in der Branche für einigen Unmut und Spott sorgt: Um diese Zeit mache er normalerweise überhaupt erst auf, sagt ein Clubbetreiber der «Aargauer Zeitung».

Ärger bekommen Sie also wie in Vor-Corona-Zeiten nur, wenn Ihre «Meute» sich auch tatsächlich benimmt wie eine ebensolche, Sie also beispielsweise eine Lärmklage Ihrer Nachbarn einfangen. Hier empfiehlt sich das in Schweizer Städten seit Jahrzehnten bewährte inoffizielle Vorgehen: Nachbarinnen frühzeitig informieren, um Verständnis bitten, allenfalls mit zur Party einladen, die eigene Nummer hinterlassen – und die Nerven nicht überstrapazieren. Es guets Fäscht!

Zum Schluss ein Blick nach Italien, wo mitten in der Krise eine neue, werbefreie Zeitung den Aufbruch wagt

«In Italien wird eine neue Zeitung geboren», heisst es auf der Website von «Domani», einem neuen Medienprojekt. Dahinter steckt der Investor und frühere «Repubblica»-Herausgeber Carlo De Benedetti, der allerdings die Aktien in eine Stiftung übertragen hat, um die langfristige Unabhängigkeit von «Domani» zu sichern.

Das sei «eine beispiellose Situation in Italien», schreiben die Gründer um den Journalisten Stefano Feltri. Eine Zeitung, die zwar einen starken Aktionär im Rücken habe, aber in einer Struktur, die Unabhängigkeit garantiere. «Das macht sie frei vom Zwang, sich bei dieser oder jener Gruppe von Leuten gefällig machen zu müssen.» Stattdessen will «Domani» unter anderem den Dialog mit ihren Abonnentinnen suchen, die Vorschläge für die weitere Entwicklung der Zeitung einbringen können.

Corona, das Italien besonders heftig heimgesucht hat, soll dabei nicht im Weg stehen. «Das Virus hat uns gezwungen, die Technologie anders einzusetzen», heisst es auf der Startseite. «Wir werden unser Bestes geben, um mit Ihnen allen in Kontakt zu bleiben.»

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Geniessen Sie das Wochenende, wir hören uns wieder am Montag.

Oliver Fuchs, Melanie Keim und Olivia Kühni

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PPPS: An verschiedenen Orten der Welt zeichnen die Behörden Kreise auf den Boden, um Menschen das Abstandhalten zu erleichtern. Doch wer Katzen hat, weiss: Sie setzen sich halt gerne genau dorthin, wo sie nicht sollten.

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