12 Tage nach der Einweisung der ersten externen Covid-Patienten traten Corona-Infektionen unter den Langzeit­bewohnern auf: Pflegezentrum Gehrenholz.

Tödlicher Zufall

Hat das Krisenmanagement der Behörden die Covid-Situation in Zürcher Pflegezentren verschlimmert? Recherchen der Republik bringen verschwiegene Fakten ans Licht, die Fragen aufwerfen. Das Protokoll einer einseitigen Informationspolitik.

Eine Recherche von Daniel Ryser (Text) und Dominic Nahr (Bilder), 28.05.2020

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Mitte April traten die Zürcher Regierungs­rätin und Vorsteherin der Gesundheits­direktion, Natalie Rickli, der Zürcher Stadtrat und Vorsteher des Gesundheits­departements, Andreas Hauri, sowie Gabriela Bieri, Chef­ärztin des Geriatrischen Dienstes der Stadt Zürich, vor die Medien, um über die Corona-Situation in den Pflege­heimen zu informieren. In einem der acht Stadt­zürcher Pflege­zentren, im Gehrenholz, sei es zu zahlreichen Covid-Ansteckungen gekommen, man habe die Situation aber inzwischen im Griff.

Bis heute sind im Kanton Zürich 130 Personen am Coronavirus verstorben. Mehr als die Hälfte davon, 78, waren Bewohnerinnen und Bewohner von Pflege­zentren. Im Gehrenholz waren seit Mitte März Covid-Patienten aus anderen Pflege­zentren und Spitälern eingeliefert worden. Vermutlich hätten Mitarbeitende oder Neueintritte das Virus eingeschleppt, sagte Chefärztin Bieri auf die Journalisten­frage, wie man sich die Häufung erkläre.

Am Tag nach dieser Presse­konferenz verfasste Stadtrat Andreas Hauri (GLP) einen öffentlichen Facebook-Post, in dem er sich gegen in der Zwischen­zeit anscheinend aufgetauchte «haltlose Vorwürfe» wehrte, die «von verschiedenen Seiten» erhoben worden seien.

Kern der Vorwürfe war offenbar die Frage, ob es ein Zufall sein konnte, dass ausgerechnet in jenem Zentrum, in dem die Stadt eine Covid-Station eingerichtet hatte, in welche Patientinnen von ausserhalb gebracht wurden, die Zahl von Ansteckungen und Toten nach oben ausschlug. Hauri schrieb zur Situation in den Zürcher Pflege­zentren: «Die Einrichtung von separaten Stationen mit Covid-Erkrankten birgt keine Gefahr für die restlichen Bewohnerinnen und Bewohner. Die Stationen funktionieren getrennt vom Rest.»

Was die Behörden verschwiegen

Recherchen der Republik zeigen jetzt, was an der Presse­konferenz vom 16. April und bis heute nicht öffentlich gesagt wurde: dass es sich bei 21 der 24 Toten im Gehrenholz um Langzeit­bewohner des Heims handelte und nicht um externe Patientinnen. Dass also die Sorge, das Virus könnte womöglich übergegriffen haben, nicht einfach aus dem Nichts kam.

Was ebenfalls nicht gesagt wurde und erst auf Anfrage der Republik von der Stadt bestätigt wird: In Gehrenholz hatte es keinen Covid-19-Fall gegeben, bis zwischen dem 18. und dem 31. März 6 Corona-Patienten überwiesen wurden. 12 Tage nach der ersten Einweisung, am 30. März – auch diese Zahl hat die Stadt inzwischen bestätigt –, traten erste Corona-Infektionen auf anderen Abteilungen auf. Bald darauf waren 65 der 108 Bewohner mit Corona infiziert und ein erheblicher Teil des Personals.

Am Ende waren 24 Menschen tot.

Die Recherchen zeigen ebenfalls: Seit dem 31. März werden im Pflege­zentrum Gehrenholz keine Patientinnen mehr von aussen eingeliefert. Die Stadt bestreitet, dass dieser Stopp im Zusammen­hang steht mit den tags zuvor registrierten ersten Fällen von Covid-19 ausserhalb der Isolations­station. Heute sind die Pflege­zentren quasi Hochsicherheitszonen.

Die Situation im Gehrenholz hat beim Personal offenbar zu einer grossen Verunsicherung und im Umfeld zu folgenden Fragen geführt: War das Pflege­zentrum wirklich der richtige Ort, um eine solche Covid-Station zu eröffnen? Wäre ein Spital nicht besser gewappnet gewesen, um eine Ausbreitung zu verhindern? Warum schottete man das virenfreie Gehrenholz voller «Höchst­risiko­gruppen» (Stadtrat Hauri) nicht komplett ab? Waren Mitarbeitende, so eine verbreitete Furcht beim Personal, selbst infiziert? War genug Schutz­ausrüstung vorhanden, waren Schutz­brillen vorgeschrieben?

Allein im Stadtzürcher Pflege­zentrum Gehrenholz starben 21 Langzeit­bewohnerinnen nach einer Infektion mit Sars-CoV-2.

Genügte es, dass für die Isolations­station einfach eine bestehende Station zweigeteilt wurde, indem ein Sicht­schutz dazwischen gespannt wurde – wie die Stadt ebenfalls bestätigt? Und dass trotzdem derselbe Ausguss für Exkremente benutzt wurde? Waren die Pflege­kräfte ausreichend geschult?

Kurz: Besteht die Möglichkeit, dass sich das Virus aus der Isolations­station im Gehrenholz ausgebreitet hat? Hat das Krisen­management von Stadt und Kanton die Covid-Situation verschlimmert?

«Hundertprozentig ausgeschlossen»

«Sie bringen Dinge durcheinander, die nichts miteinander zu tun haben», sagt Gabriela Bieri, die Chef­ärztin des Geriatrischen Dienstes der Stadt Zürich und damit als ärztliche Direktorin verantwortlich für alle Pflege­zentren, als sie von der Republik mit diesen Fragen konfrontiert wird. Der Fakt, dass das übrige Gehrenholz virenfrei war, bis Patientinnen von aussen auf die neu errichtete Isolations­station gekommen seien, habe nichts mit der späteren Ausbreitung im übrigen Zentrum zu tun: «Denn die Normal­stationen und die Isolations­station funktionierten absolut getrennt.»

Das Allerwichtigste aus epidemiologischer Sicht sei, dass die Covid-Patienten auf ihrer Abteilung blieben und keinen Kontakt mit anderen Patientinnen hätten. Dies sei im Gehrenholz der Fall gewesen. Der nächste entscheidende Punkt sei, dass die Patienten nicht das Personal ansteckten. «Die Mitarbeiter waren zu jeder Zeit und von Anfang an vorschrifts­gemäss geschützt und geschult», sagt Bieri. Und sie dementiert auch Aussagen, man habe zu Beginn keine Schutz­brillen vorgeschrieben: «Die Mitarbeiter auf der Covid-Station im Gehrenholz trugen immer Schürzen, Masken, Brillen. Es ist statistisch erwiesen, dass die Wahrscheinlichkeit extrem gering ist, dass sich Personal ansteckt, das bewusst und geschützt mit Infizierten arbeitet. Im Bezug auf das Gehrenholz kann ich sagen: Das Ansteckungs­risiko ist hundert­prozentig ausgeschlossen. Eine Ausbreitung von der Covid-Abteilung im Gehrenholz kann aufgrund der Infektions­kette weitgehend ausgeschlossen werden.»

Die Fachrichtlinien würden klar sagen, sagt Bieri, dass eine Kohortierung, also alle Erkrankten an einem Ort zusammen­zulegen, Vorteile bringe und eine weitere Ausbreitung besser einschränken könne.

Aber sollte man Erkrankte ausgerechnet in der Nähe von hochbetagten Personen zusammen­legen? Die eigenen bisherigen Analysen hätten ergeben, sagt Bieri, dass das Virus im Gehrenholz auf anderem Weg ins übrige Haus gelangt sei. Möglichkeiten seien: Mitarbeitende, durch Neueintritte, von Besuchern.

Man habe zudem unterschätzt, über wie lange Zeit Hochrisiko­gruppen wie Bewohner von Pflege­zentren symptomfrei bleiben könnten. «Als wir das realisiert und von Anfang an breit getestet haben, war es zu spät, und viele Bewohnerinnen und Bewohner waren angesteckt. Ab diesem Moment war es dann auch schwierig, die strikte Trennung des Personals zwischen den verschiedenen Abteilungen aufrecht­zuerhalten. Aber noch einmal: Das Virus kam nicht aus der Isolationsstation.»

Es liegen Welten zwischen der Überzeugung der Behörden, alles richtig gemacht zu haben – also zwischen Gabriela Bieri etwa, die von «hundert­prozentiger Sicherheit» spricht und sagt, dass sie das noch nicht mal nachzufragen und abzuklären brauche, ob die Isolations­station und die Normal­station im Gehrenholz denselben Ausguss gehabt hätten, weil die Frage nach dem Ausguss völlig unerheblich sei, da man sich beim Corona­virus nicht durch Exkremente anstecken könne –, und den Bedenken des Personals. Auf der einen Seite Chef­ärztin Bieri, die klar dementiert, dass es an Schulung und Schutz­brillen gefehlt habe, auf der anderen Seite die Schilderungen des Personals in Spitälern und Pflege­heimen. Hier ein rigoros und quasi fehlerfrei umgesetzter Pandemie­plan und ein Abwälzen auf das Personal betreffend Verschleppung des Virus ins Gehrenholz, dort, beim Personal, zum Teil grosse Verunsicherung, Angst auch, weil sich viele selbst mit dem Virus infizierten, bis hin zu Berichten traumatischer Erfahrungen.

Die Fragezeichen zu den Vorgängen im Pflege­zentrum Gehrenholz sind das eine. Doch die Recherchen der Republik bringen weitere Ungereimtheiten ans Licht, welche die Informations­politik der Zürcher Behörden fragwürdig erscheinen lassen.

Das Dementi, dann das Dementi vom Dementi

Zum Beispiel die Berichte aus einem anderen Zürcher Heim, das bisher nie öffentlich ein Thema war: das Pflege­zentrum Riesbach.

Während in den vergangenen Wochen regelmässig unter der Führung von Gesundheits­direktorin Natalie Rickli (SVP) vor allem über Erfolge in der Bekämpfung des Virus berichtet wurde, ging beim grossen Informieren eine Zahl offenbar völlig vergessen. Im Riesbach nämlich infizierten sich – so bestätigt die Stadt gegenüber der Republik – 39 der 80 Bewohnerinnen und Bewohner. Und, wie die Stadt gegenüber der Republik ebenfalls bestätigt, es starben dort 16 Personen am Coronavirus.

Es handle sich beim Riesbach jedoch nicht um das zweite Zentrum mit spezieller Covid-Station, wo auch Externe aufgenommen würden, sagt Gabriela Bieri (in einer Mitteilung der Stadt von Anfang April war von zwei solchen Zentren die Rede gewesen). Bei jenem zweiten, nie namentlich genannten Zentrum handle es sich um den Mattenhof, so Bieri, wo keine Fälle ausserhalb der Isolations­station bekannt seien.

Im Riesbach wiederum seien zu keinem Zeit­punkt externe Covid-Patienten eingeliefert worden, weder aus einem anderen Heim noch aus einem Spital, schreibt Bieri in einer ersten Anfrage der Republik und bestätigt dies auch in einem anschliessenden Telefon­gespräch. O-Ton in der E-Mail: «Im Pflege­zentrum Gehrenholz ist einer von insgesamt 24 Verstorbenen aus dem Spital zu uns verlegt worden, im Pflege­zentrum Riesbach keiner.»

Im Riesbach jedoch tönt es anders: Dort ist von erheblicher Verunsicherung die Rede, unter anderem wegen einer Spital­zuweisung, die es laut Gabriela Bieri nie gegeben hat: dass zu einem frühen Zeit­punkt, als man im Riesbach erst mit zwei bis vier Infizierten konfrontiert gewesen sei, in einer Art Hauruck­aktion eine Covid-Patientin aus dem Berner Insel­spital ins Riesbach überführt und diese dabei unter anderem durch eine Station geführt habe, in der es bis zu jenem Zeitpunkt noch keine Covid-Fälle gegeben habe.

Ins Pflegezentrum Riesbach wurde eine Covid-Patientin aus Bern eingeliefert – 16 Bewohner starben am Coronavirus. Die Stadt Zürich bestreitet einen Zusammenhang.

Weil die Stadt dementiert, die Schilderungen aus dem Riesbach jedoch sehr glaubhaft dargelegt werden, verschafft sich die Republik auf anderem Weg die Bestätigung der Überweisung einer Patientin aus dem Berner Inselspital.

Als diese Bestätigung unbestreitbar vorliegt, rudert Bieri einen Tag später via E-Mail zurück mit ihrer Aussage, ins Pflege­heim Riesbach sei zu keinem Zeitpunkt ein Covid-Patient verlegt worden. Jetzt schreibt sie: «Eintritt am 23. 3. vom Insel­spital ins PZ Riesbach stimmt. Austritt am 24. 3.»

Offene Kommunikation?

Wiederholt weist Bieri im Gespräch darauf hin, dass jeder Epidemiologe ihr zustimmen würde, der Journalist kein Fachmann sei und deshalb überhaupt auf die Idee komme, die Ausgangs­frage zu stellen, nämlich, ob es mit der Einweisung externer Covid-Patienten in eine neu errichtete Isolations­station eines Heims, das bis dahin frei vom Virus war, und der folgenden ausser­gewöhnlich hohen Infektions- und Sterbe­rate ausgerechnet an jenem Ort einen Zusammen­hang geben könne. «Diesen Zusammen­hang gibt es nicht», betont Bieri.

«Wir sind es nicht mehr gewohnt, mit einem Krankheits­bild konfrontiert zu sein, über das wir so wenig wissen», sagt Gabriela Bieri. «Das führt zu Verunsicherung. Diese Verunsicherung lässt sich nicht wegdiskutieren. Das Einzige, was gegen eine solche Verunsicherung Vertrauen schafft: offene Kommunikation.»

Die Zürcher Stadtärztin scheint dabei ein eigenes Verständnis offener Kommunikation zu haben. Warum muss man die exakten Zahlen zum Ausbruch im Gehrenholz (Eintritt des ersten externen Covid-Patienten am 18. März, Infektion des ersten Bewohners am 30. März, Aufnahmestopp einen Tag später, die hohe Sterbe­zahl von Langzeit­bewohnern) trotz grosser Presse­konferenz vom 16. April aus der Stadt rauspressen? 16 Tote im Riesbach? Bisher offenbar nicht der Rede wert. Und was ist mit der Fehl­information, dass im Riesbach nie eine externe Covid-Patientin aus einem Spital eingewiesen worden sei?

Am 16. April, an der Presse­konferenz, an der die Behörden über die Situation in den Pflege­heimen berichteten, war ständig die Rede davon, dass man die Lage im Griff habe, dass die Spitäler nie ausgelastet gewesen seien, dass es aber in einigen Pflege­zentren zu vielen Ansteckungen und damals insgesamt 28 Toten gekommen sei. Aber Pflege­zentren seien halt auch Orte voller Menschen, «für die das Corona­virus besonders gefährlich ist», wie Gesundheits­direktorin Natalie Rickli sagte.

Die Gedanken seien bei den Angehörigen.

Man spricht von «hundert­prozentiger Sicherheit» und ist vom eigenen Krisen­management derart überzeugt, dass man gar nicht versteht, warum es Fragen aufwirft, dass ausgerechnet in zwei von drei Pflege­zentren, in die externe Covid-Patienten eingeliefert worden waren, mehr Menschen – und vor allem praktisch ausschliesslich Langzeit­bewohner – gestorben sind als in allen anderen Pflege- und Alters­zentren im ganzen Kanton zusammen: über die Hälfte aller 78 Fälle.

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