Die intuitive Sprache der Bilder: Spielende Kinder bei Grand-Bassam, 2018.

Ansichten aus Afrika

Die Poesie des Golfs

Der ivorische Künstler Nuits Balnéaires lebt in einer alten Königsstadt, zwischen einer ruhigen Lagune und den Wellen des Atlantiks. Als sein Viertel überschwemmt wurde, nahm er die Kamera in die Hand – und schuf eine Arbeit, die ihn näher zu den Menschen dort brachte.

Von Flurina Rothenberger (Text) und Nuits Balnéaires (Bilder), 02.05.2020

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Et le temps qui passait 
Loin des yeux, près des cœurs dévastés 
Les chansons mortels dans le silence des nuits balnéaires.

Und mit der Zeit 
Fern den Augen, nah an den verwüsteten Herzen 
Die tödlichen Gesänge in der Stille der Küstennächte.

Aus dem Gedicht «Ère Échancrée» von Nuits Balnéaires


Die ersten paar Male, als ich für Ausstellungen und Publikationen mit Dadi zusammen­arbeitete, fand ich es eigenartig, ihn anderen Leuten unter seinem Künstler­namen Nuits Balnéaires vorzustellen. Heute weiss ich, dass diese Bezeichnung – wörtlich übersetzt «Küsten­nächte» – aus einem seiner Gedichte stammt und wesentlich das erfasst, was die poetische Sprache des 26-jährigen Ivorers inspiriert. Sowohl beim Schreiben als auch beim Filmen und Fotografieren.

«Nuits Balnéaires beschreibt für mich die Küsten­stimmung», sagt Dadi, «die Atmosphäre, die im gesamten Golf von Guinea herrscht. Seine Schönheit, seine Reinheit, seine Melancholie. Die Tropen, die roten Lichter auf dem Sand bei Sonnen­untergang, die Stürme auf dem Wasser, die Fledermaus-Kolonien, die bei Einbruch der Nacht ihre Bäume verlassen. Nuits Balnéaires steht für diese Ästhetik, die mich fasziniert und die ich in meinem Werk zwischen Bildern und Worten zu beschreiben versuche.»

Mit siebzehn entdeckte Dadi seine Liebe zur Fotografie. Seine Mutter war von ihrer Pilger­reise nach Mekka mit einer Kompakt­kamera zurückgekehrt, mit der Dadi begann, Familie und Freunde, Pflanzen und Landschaften zu fotografieren. Seitdem hat er sich einen Ruf als Mode- und Porträt­fotograf mit einer ungewöhnlichen Heran­gehens­weise erarbeitet. Im nächsten Beitrag von kommender Woche werden wir einige dieser Arbeiten betrachten.

Vor einem Jahr verliess Dadi sein Eltern­haus in Abidjan und richtete sein Zuhause und Atelier im ruhigen Küstenort Grand-Bassam ein, rund 40 Kilometer östlich von der Haupt­stadt entfernt. Im Oktober 2019 fotografierte er während der Überflutung seines Quartiers, des historischen Stadt­viertels von Grand-Bassam. Daraus entstand die Arbeit «Si nos larmes n’étaient déjà toutes pleurées» (wenn unsere Tränen nicht schon vergossen worden wären).

Unter Wasser: Dieses und alle folgenden Bilder entstammen der preisgekrönten Arbeit «Si nos larmes n’étaient déjà toutes pleurées» von Nuits Balnéaires, Grand-Bassam, September/Oktober, 2019.

Es fällt schwer, Fremden die besondere Atmosphäre dieses Ortes zu beschreiben, der seit 2012 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Viele von uns, die wie ich in Côte d’Ivoire aufwuchsen, sind seit der Kindheit mit ihm verbunden und suchen hier weiterhin Zuflucht vor dem hektischen Alltag Abidjans. Der alte Stadtteil von Grand-Bassam liegt auf einem Land­streifen zwischen der ruhigen Lagune Ouladine und den heftigen Wellen des Atlantischen Ozeans. Er umfasst das architektonische Erbe aus dem späten 19. Jahrhundert, der ersten Kolonial­hauptstadt von Côte d’Ivoire, bekannt als Quartier France. Aber auch ein Dorf, das die N’Zima, ein Volk der Akan, im 15. Jahrhundert zum Zentrum ihres König­reichs machten und wo sie bis heute zu Hause sind.

Die N’Zima haben sich dieses einstige Symbol der französischen Kolonial­macht angeeignet und betrachten es heute als wesentlichen Bestand­teil ihrer Identität. Doch die Einwohner von Grand-Bassam werden täglich Zeugen des Verfalls dieses seltenen Erbes. Die Behörden tun nichts, um die schönen Gebäude vor dem Zerfall zu schützen. Ein Anwohner bemerkte einmal: «Dieser Ort markiert die Geschichte und die Kultur der Côte d’Ivoire. Diese Spuren werden ausgelöscht, und mit ihnen unsere Geschichte.» An diese Worte erinnerten mich Dadis Bilder, als ich sie zum ersten Mal sah.

Dadi, warum bist du von Abidjan nach Grand-Bassam gezogen?
Meine Eltern erinnern mich seit meinem achtzehnten Lebens­jahr daran, meine Flügel zum Fliegen zu benutzen. Der Zeitpunkt war gekommen, meinen eigenen Raum zu haben, um meine Persönlichkeit und meine künstlerische Praxis besser zu entwickeln. Das Verlassen des Eltern­hauses hat es mir ermöglicht, zu wachsen und neue Fähigkeiten zu erwerben – insbesondere bei der Verwaltung meiner Finanzen, jetzt, da ich meine Rechnungen selbst bezahle. Ich habe mich für Grand-Bassam entschieden, weil der Ort viele Vorteile hat. Es ist eine Stadt am Meer, die Nähe zum Atlantik und zur Natur sind mir wichtig. Auch die Tatsache, Teil des N’Zima-Dorfes zu sein, hat mein Verhältnis zur Zeit und zum Miteinander beeinflusst. Dies hier ist ein kultureller Knoten­punkt, und es ist die erste Hauptstadt der Côte d’Ivoire. Es ist ein Ort, der reich ist an Kreativität und der einen privilegierten Zugang zu einer Vielzahl von Hand­werkern bietet, mit denen ich neue Techniken ausprobieren kann. Ich liebe die Energie von Grossstädten wie Abidjan, aber ich möchte wählen können, wann ich sie nutze. Die Nähe zur Natur und zu einer kulturell reichen Gemeinschaft ist mir im Moment wichtiger.

Was bewegte dich dazu, die Kamera während der Über­schwemmungen in die Hand zu nehmen?
Im Juli 2019 zog ich von Abidjan in das historische Viertel von Grand-Bassam. Hier befinden sich der Königs­palast der N’Zima sowie ein grosser Teil der Bauten aus der Kolonialzeit und solche, die von dem goldenen Zeitalter von Grand-Bassam zeugen. Im letzten September und Oktober gab es mehrere heftige Stürme, und der Wasser­spiegel des Comoé-Flusses begann zu steigen. Die Lagune überschwemmte die Häuser, und die Strassen verwandelten sich buchstäblich in Flüsse. Die Kinder des Dorfes halfen den Bewohnern mit Pirogen, die stark überschwemmten Gebiete zu durchqueren. Vom Balkon meiner Wohnung aus konnte ich täglich beobachten, wie sich die Dorf­bewohner durch das Wasser kämpften, es war ein beunruhigender Anblick. Ich rief meinen besten Freund an, der eine NGO betreibt, die sich mit Umwelt­fragen befasst, und bat ihn, Unter­stützung für die betroffenen Bewohner zu organisieren. Wir brauchten Bildmaterial, um die Angelegenheit zu vermitteln. Da ich noch nicht gut in das Dorf integriert war, zögerte ich, die Bewohner direkt anzusprechen. Also begann ich, von meinem Dach, meinem Fenster und meinem Balkon aus zu fotografieren. Und eines Tages verliess ich das Haus und klopfte an die Türen. So konnte ich den prekären Zustand sehen, in dem sich viele Menschen befanden. Man spürte ihre Erleichterung, dass man sich endlich für ihre Situation interessierte. Die Bilder lösten eine Kette der Unter­stützung in den sozialen Netzwerken aus. Aber für mich persönlich entstand die Gelegenheit, mich mit meinen Nachbarn und der Gemeinschaft auszutauschen und mich mit ihnen zu solidarisieren.

Was bedeutet dir Grand-Bassam, und wie prägt die Stadt deine kreative Praxis?
Ich wuchs in Abidjan auf, und Grand-Bassam war der Ort, an dem wir als Familie die Wochen­enden verbrachten. Vor allem ist es der Ort, an dem ich zum ersten Mal mit dem Reisen und der Poesie des Golfs von Guinea in Berührung kam. Als Kind fuhr ich regelmässig mit meinem Vater diese aufgewühlte Meeres­küste entlang. Ich war fasziniert von der Melancholie ihrer Klänge und dem Sepia­schleier, der das Ende des Tages einfärbte. Entlang dieser von Kokosnuss­palmen und Bäumen gesäumten Strassen begleitete uns stets der ghanaische Highlife, Rumba, Salsa oder klassische Musik. Es war perfekt, und diese Erlebnisse haben die Ästhetik meiner fotografischen Arbeit stark beeinflusst. Es ist eine Energie, in die meine Seele eintaucht und in der sie ihr Gleich­gewicht findet. Ich denke, ich lebe jetzt in Grand-Bassam, weil ich diese Energie materialisieren will.

Zum Fotografen

Aka Aboubakhr Thierry Kouame, genannt Dadi, geboren 1994, arbeitet unter dem Künstler­namen Nuits Balnéaires als bildender Künstler, Dichter und Art Director. Seine Praxis konzentriert sich auf Porträt-, Mode- und Landschafts­fotografie aus Westafrika. Er hat unter anderem für «The Nice Magazine», «ELLE», «Le Temps» und Universal Music gearbeitet. Nuits Balnéaires ist Teil der Sammlung der Fondation Donwahi und wurde in Côte d’Ivoire, New York, Toronto, Montreal, Melbourne und Amsterdam ausgestellt. Für seine Arbeit über das Hochwasser in Grand-Bassam erhielt er das Stipendium 2019/2020 für visuellen Journalismus von World Press Photo und der Chocolonely Foundation. Folgen Sie ihm auf Instagram.

Zu dieser Bildkolumne

Warum sollen wir gerade jetzt nach Afrika blicken? Falsche Frage, sagt Flurina Rothenberger. Die richtige laute: Warum erst jetzt? In ihrer wöchentlichen Kolumne «Ansichten aus Afrika» stellt Flurina Rothen­berger junge Fotografie aus Afrika vor.

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