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Tragen Sies mit Verfassung

23.04.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Selbst die in allen Lebens- und Politlagen sonst kühl und distanziert wirkende Angela Merkel spricht neuerdings von einer «Zumutung». Und sie hat recht: Was wir zurzeit durchmachen, worauf wir verzichten müssen – das ist krass.

«Diese Pandemie», so sagte es die Kanzlerin heute im Deutschen Bundestag, «ist eine demokratische Zumutung. Denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind.»

Die Versammlungsfreiheit: ausgesetzt.

Die Bewegungsfreiheit: eingeschränkt.

Der Schutz der Privatsphäre: gefährdet.

Die Liste liesse sich lange fortsetzen. Kaum ein in der Verfassung garantiertes Grundrecht bleibt von der Corona-Krise unberührt. In der Schweiz genauso wie in Deutschland.

Seit heute protokollieren wir in einem Watchblog, wo und wie die Rechte der hierzulande lebenden Menschen während der Pandemie eingeschränkt werden. Wir werden den Blog, solange nötig, im Wochenrhythmus aktualisieren.

Die gegenwärtige Situation sei nur akzeptabel und erträglich, wenn die Gründe für die Einschränkungen transparent und nachvollziehbar seien, sagt Kanzlerin Merkel. «Und wenn Kritik und Widerspruch nicht nur erlaubt, sondern eingefordert und angehört werden – wechselseitig. Dabei hilft die freie Presse.»

In der Republik haben wir in den letzten Wochen wiederholt auf die Gefahren hingewiesen, die mit einer Regierung einhergehen, die mit Notrecht regiert und vom Parlament nur ungenügend kontrolliert wird. Ende März warnte Staatsrechtler Daniel Moeckli vor der Gefahr der Perpetuierung. Also davor, dass die Exekutive ihre Kompetenzen nicht mehr abgeben möchte, weil es nun mal sehr angenehm ist, die ganze Macht zu besitzen.

Vor einer Woche doppelte Markus Schefer nach: «Wir sind dem Bundesrat ausgeliefert», sagte der Staatsrechtsprofessor. «Die Juristen vom Bundesamt für Justiz beraten den Bundesrat, dass die Massnahmen verfassungskonform sind. Wenn der Bundesrat diese Massnahmen aber anders gestalten will, dann ist zurzeit niemand da, der ihn daran hindert.»

Die beiden Interviews gehören zu den meistkommentierten – und umstrittensten – Republik-Beiträgen des laufenden Jahres. Viele störten sich an den Aussagen der Professoren, in denen sie ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung sahen, die doch bloss Massnahmen zum Schutz von Menschenleben getroffen habe. Und an der redaktionellen Entscheidung, diesen Stimmen Gehör zu schenken in einer Zeit, in der man besser zusammenhalte und sich hinter den Bundesrat schare. Dieselbe Kritik dominiert auch im Forum zum heute publizierten Watchblog.

Wir scheuen die Auseinandersetzung nicht, im Gegenteil. (Sollten Sie davon in den 27 bisherigen Lebensmonaten der Republik noch nicht überzeugt worden sein, schafft das hoffentlich die rege Diskussionsteilnahme der am Watchblog beteiligten Redaktorinnen und Redaktoren.) Und wir sind nicht taub für Kritik.

Aber wir sind nach wie vor der festen Überzeugung, dass es auch (wenn nicht gar speziell) in Krisenzeiten zu den Kernaufgaben der vierten Gewalt gehört, der Regierung genau auf die Finger zu schauen. Die Tatsache, dass wir ihre Massnahmen kritisch beobachten, enthält noch nicht per se eine Wertung, ob die von ihr verfügten Einschränkungen verhältnismässig sind oder nicht. In vielen Fällen sind sie es, in anderen nicht.

Wir bleiben dran.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zählt die Schweiz heute mindestens 28’496 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu. Mittlerweile liegt die Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich. Heute Morgen lag dieser Wert bei 228.

Bedenken wegen der Contact-Tracing-App: Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats ist besorgt über «mögliche schwere Grundrechts­eingriffe» des Bundesrats. Konkret verlangt die Kommission in einer Motion, dass die Regierung die notwendige gesetzliche Grundlage zur Einführung einer Tracing-App dem Parlament vorlegt. Über eine solche Smartphone-Applikation sollen sich die Ansteckungsketten nachverfolgen lassen. Die Kommission ist nicht gegen eine Lancierung, verlangt aber, dass ihr «ein transparentes politisches Verfahren zugrunde liegen muss».

Finanzielle Hilfe für Kitas: Die Kantone Bern, Luzern und Zürich haben diese Woche finanzielle Unterstützung für Kindertagesstätten gesprochen. Zürich hat dazu am Mittwoch eine Notverordnung erlassen: Erleidet eine Kita durch die Corona-Krise einen finanziellen Schaden, wird dieser zu 80 Prozent gedeckt. Die Hälfte davon übernimmt die Gemeinde, die andere Hälfte der Kanton. In Zürich und Bern wurden 13 Millionen Franken bereitgestellt, in Luzern 4 Millionen. Basel-Stadt hat eine solche Unterstützung bereits Ende März beschlossen.

Viermal mehr Gesuche für Sozialhilfe: In der zweiten Märzhälfte registrierten Sozialdienste in der Deutschschweiz eine viermal höhere Zahl von Neuanmeldungen für finanzielle Unterstützung. Das zeigt eine Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Betroffen waren vor allem Personen, die im Stundenlohn sind, und Selbstständigerwerbende. Die ZHAW bezieht sich auf Daten von 34 Sozialdiensten aus den Kantonen Aargau, Bern, Luzern, Thurgau und Zürich.

Die besten Tipps und interessantesten Artikel

«Männer- und Frauenleben unterscheiden sich fundamental», schreibt ein Autorenteam der «Zeit». «Das zu benennen ist keine feministische Ideologie, sondern das Gegenteil davon: schierer Realismus.» Die These der Journalistinnen: Viele der coronabedingten Massnahmen und deren Folgen werden besonders die Frauen hart treffen. In ihrem Artikel «Die Krise der Frauen» berichten Korrespondenten aus acht Ländern und erzählen, wie sich die Pandemie auf die Lebenswirklichkeit der Frauen auswirkt. Drei Beispiele:

  • China: Das kommunistische (aber nie gelebte) Ideal einer gleichberechtigten Gesellschaft hat seit der Finanzkrise 2008 stark gelitten. Chinas Präsident Xi Jinping sagte im vergangenen Jahr, Frauen mögen sich bitte um «die Versorgung der Alten und der Jungen kümmern» – die Arbeit ist Sache der Männer. Eine erneute Wirtschaftsrezession dürfte diese Entwicklung noch einmal verschärfen.

  • Kolumbien: Die Stadtverwaltung von Bogotá hat angeordnet, dass an bestimmten Tagen nur Männer auf die Strasse dürfen, an anderen nur die Frauen. Die Konsequenz: Weil im südamerikanischen Land vor allem Frauen den Haushalt erledigen, sind an den Frauentagen die Lebensmittelläden komplett überlaufen.

  • Frankreich: Präsident Emmanuel Macron hat seinen Krisenstab fast ausschliesslich mit Männern besetzt. Das hat die Gleichstellungsministerin Marlène Schiappa dazu veranlasst, die Präsenz von Frauen in Medien und staatlichen Expertengremien zu messen. Sie sagte: «Gerade in Krisenzeiten können wir die Welt nicht ohne eine Hälfte der Bevölkerung analysieren.» Zudem hat sie in Supermärkten Beratungsräume für Opfer häuslicher Gewalt einrichten lassen, eine telefonische Beratung für ungewollt Schwangere installiert und den medikamentösen Abbruch früher Schwangerschaften erleichtert.

Ausserdem. Ein paar Youtube-Empfehlungen:

  • Die Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim erklärt auf ihrem Kanal «maiLab» alles über die wissenschaftlichen Aspekte der Pandemie. Verständlich und bullshitfrei.

  • In den vergangenen fünf Wochen hat auch der Satiriker John Oliver seine Show «Last Week Tonight» der Pandemie gewidmet. Informativ und lustig (auf Englisch).

  • Der Berliner Komiker Kurt Krömer interviewt zusammen mit Annie Hoffmann vom Rundfunk Berlin-Brandenburg Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten. Frei Schnauze und mit viel Gefühl.

Frage aus der Community: Die SRG spart doch jetzt Geld mit den Übertragungsrechten für Sportanlässe, die nicht stattfinden. Wieso meldet sie dann Kurzarbeit an?

Ein wenig Hintergrund vorweg: In der ersten Aprilwoche hat die SRG für einen Teil ihres Personals Kurzarbeit beantragt, also um finanzielle Hilfe vom Bund gebeten. Die Begründung: Durch die Sport- und Kulturevents, die wegen der Pandemie ausfallen, müssten Radio- und Fernsehproduktionen abgesagt werden. Zudem seien die Werbeeinnahmen weggebrochen. Die SRG rechne deshalb mit Einbussen «im zweistelligen Millionenbereich».

Zwischen 2015 und 2018 hat die SRG im Schnitt jährlich 48 Millionen Franken für die Übertragungsrechte von Sportevents ausgegeben. Das sagt die Medienstelle auf Anfrage. Die fallen ja jetzt weg, oder?

So einfach ist es nicht. Gewisse Anlässe – wie die Fussball-Europameisterschaft oder die Olympischen Sommerspiele in Tokio – wurden um ein Jahr verschoben. In so einem Fall bleibe der Vertrag meist bestehen, schreibt SRG-Sprecher Edi Estermann. Bei den abgesagten Anlässen sei vieles noch unklar, zumal man oft noch nicht wisse, ob nun abgesagt werde oder nicht: «Jeder Fall muss einzeln analysiert und geprüft werden.»

Estermann bestätigt aber, dass durch die Pandemie auch Ausgaben wegfallen. Zum Beispiel die Kosten für Sendungen, die nun nicht produziert werden. Dennoch würden gleichzeitig auch neue Kosten entstehen, vor allem dann, wenn es zu kurzfristigen Absagen komme und bereits Personal entsandt wurde. Oder wenn ein Ersatzprogramm auf die Beine gestellt werden muss.

Zum Schluss ein Blick nach Vietnam, das im Kampf gegen Corona gerade mit Lob überhäuft wird

Woran liegt es? An diesem eingängigen Aufklärungs-Popsong, an der dazu passenden Händewasch-Choreografie? Oder am sehr frühen Einschreiten der Gesundheitsbehörde? Jedenfalls wurde Vietnam trotz 1300 Kilometern gemeinsamer Grenze mit China bislang weitgehend von der Pandemie verschont. Die Regierung des Ein-Parteien-Staats erhält für ihren rigorosen Umgang mit dem Coronavirus sehr viel Zuspruch. Gesamthaft wurden nur 268 Ansteckungen und 0 Todesfälle gemeldet. Kritiker bemängeln, im 100 Millionen Einwohner zählenden Land würden zu wenig Tests durchgeführt. Die Regierung vermeldete bislang 200’000 durchgeführte Test, so viele wie sonst nirgends in Südostasien. Rückendeckung gibts von der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC: «Wir haben zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise, dass diese Zahlen nicht stimmen würden», sagte diese Woche ein Vertreter, der sich mit der Region beschäftigt. Schon Anfang Februar, als erst vereinzelt Ansteckungen registriert worden waren, schloss die Regierung die Grenze zu China und verfügte einen Lockdown in den Metropolen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt. Nun gehts wieder aufwärts: Am Mittwoch wurden zum sechsten Mal in Folge keine Neuinfektionen registriert. Inzwischen durften erste Cafés und Läden in Hanoi wieder öffnen.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Philipp Albrecht, Ronja Beck, Elia Blülle, Dennis Bühler und Oliver Fuchs

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Wenn Sie in den nächsten Wochen wieder in Ihr Büro, in die Schule oder Ihren Betrieb zurückkehren, sollten sie als Erstes alle Wasserhähne für ein paar Minuten öffnen. Weil die Trinkwasserinstallationen nicht genutzt wurden, können sich alle möglichen Krankheitserreger bilden. Das einzige Mittel dagegen: spülen, spülen, spülen!

PPPPS: Gestern musste der norwegische Verkehrsminister Knut Arild Hareide einen neuen Unterwassertunnel eröffnen. Doch wie geht das, wenn man im Homeoffice eingesperrt ist? Ganz einfach: Ein paar Ballons im Büro verteilen; ein Eröffnungsband an die Wand kleben; eine Schere. Zack, fertig ist die Einweihungsfeier.

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