Das grosse sozial-digitale Experiment

Contact-Tracing-Apps sollen im Kampf gegen das Coronavirus eine wichtige Rolle spielen. Schweizer Anbieter haben bereits Lösungen entwickelt – nun preschen Google und Apple vor. Hält die digitale Epidemie­bekämpfung, was sie verspricht?

Von Adrienne Fichter, 16.04.2020

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Eine App solls richten: Contact-Tracing-Technologie gilt als wichtiges Mittel gegen die Corona-Epidemie. Oliver Ruether/laif

Die bisherigen Massnahmen gegen das Corona­virus waren mehrheitlich archaisch: die Hände waschen, zu Hause bleiben, Begegnungen vermeiden. Nur punktuell wurde in der westlichen Welt versucht, Infektions­ketten manuell nachzuzeichnen und so die Weiter­verbreitung zu unterbinden.

Bald soll sich dies ändern. Je näher das Ende der Lockdown-Massnahmen rückt, desto intensiver wird an digitalen Contact-Tracing-Lösungen getüftelt. Im Fokus steht das Smartphone: Es soll die Kontakte der Besitzer registrieren und bei Infektions­gefahr Alarm schlagen können. Zahlreiche Initiativen und Apps dazu sind in den letzten Wochen aus Hackathons hervorgegangen.

Die gute Nachricht: Anders als oft kolportiert müssen Gesundheit und Privat­sphäre dabei kein Gegensatz sein. Es geht um ein anderes Thema: verantwortungs­volle versus nicht verantwortungs­volle Technologie. So formuliert es die Privacy-Expertin Frederike Kaltheuner, und so schreibt es auch der Republik-Entwickler Patrick Recher, der eine ausführliche Erklärung verfasst hat: «So funktioniert eine Corona-Tracing-App, die Ihre Privatsphäre schützt».

Wie eine verantwortungs­volle Tracing-Technologie im Detail aussieht, ist Gegenstand von gesundheits- und netzpolitischen Debatten. Dabei geht es:

  • um das geeignetste technische Design und die Einbindung der Gesundheitsbehörden;

  • um die konkrete praktische Anwendung und den Nutzen.

Die westlichen Länder, darunter auch die Schweiz, müssen sich überlegen, wie sie mit diesen Fragen umgehen – um schliesslich eine Technologie auszurollen, die nicht nur sämtlichen daten­schützerischen Anforderungen gerecht wird, sondern auch tatsächlich ihren Zweck erfüllt.

Was bisher geschah

Damit nicht jedes europäische Land sein eigenes App-Süppchen kocht und die verschiedenen Lösungen miteinander kompatibel sind – sodass man über die Landes­grenze verreisen kann –, haben sich Wissenschaftlerinnen, Datenschutz­experten und Entwicklerinnen im März zusammengetan. Die meisten sind auf dieselbe Lösung gekommen: Die Nähe zwischen zwei Personen soll nicht anhand der Messdaten einer Handy­antenne, sondern mit den Mobil­telefonen selbst gemessen werden.

Dies wäre ein Novum. Bisher wurden in der Schweiz einzig die Standort­daten des Mobilfunk­dienstleisters Swisscom verwendet, um die Einhaltung der Social-Distancing-Massnahmen durch die Bevölkerung zu überprüfen. Dies war jedoch mit rechtlichen und technischen Problemen verbunden.

Probleme mit Mobil­funkdaten

Der Bundesrat erliess im März eine Verfügung zur Herausgabe der Standortdaten des Telecomkonzerns Swisscom. Dabei wurden die Aufenthalts­orte von Swisscom-Kunden (die Swisscom auch kommerziellen Kunden zur Verfügung stellt) mit einem Hash-Wert (einer Prüfsumme) pseudonymisiert und grafisch aufbereitet. Die Regierung erhielt dadurch einen Einblick, um die Einhaltung der Social-Distancing-Massnahmen durch die Bevölkerung zu überprüfen.

Obwohl die Aufbereitung einen grossen Grad an Anonymität gewähr­leistet, ist das Vorgehen dennoch fragwürdig.

  1. Aufgrund der mangelnden Transparenz. Erst nachdem die Digitale Gesellschaft sowie eine Reihe von Journalisten (darunter auch solche der Republik) via Öffentlichkeits­gesetz die bundes­rätliche Verfügung integral verlangt hatten, entschied sich das BAG am Freitag­abend, 3. April, die Verfügung im Netz zu veröffentlichen. Dieser Schritt war überfällig.

  2. Wegen der fehlenden Einwilligung der Swisscom-Kunden. Zwar berufen sich Bundesrat und Swisscom auf die Covid-19-Verordnung 2, auf das Epidemien­gesetz (Artikel 7) und auf das Fernmelde­gesetz (Artikel 45b), und die Swisscom verweist zusätzlich auf die Datenschutz­erklärung, die jede Swisscom-Kundin beim Vertrags­abschluss mitunterzeichnet. Der Verweis auf eine Einwilligung via pauschale Nutzungs­bedingungen ist in Datenschutzfachkreisen aber sehr umstritten.

  3. Wegen der mangelnden Genauigkeit. Die Mobilfunk­daten sind nur für grobe Analysen geeignet. Standort­daten, die via Antennen­standorte und Funk­zellen gewonnen werden, versagen nicht nur in urbanen Räumen oder in der Umgebung von Hochhäusern. Sie können auch in ländlichen Gebieten sehr ungenau sein und taugen daher nicht zur Analyse der genauen Aufenthalts­orte von Personen.

Effizienter, transparenter und auch bürger­freundlicher ist die direkte Kontakt­nachverfolgung durch das Smart­phone. Diese wird nicht top-down, sondern bottom-up umgesetzt und beruht auf der freiwilligen Mitwirkung der Nutzer. Ohne dass diese eine App herunter­laden, das Bluetooth-Signal einschalten und dem Tracing aktiv zustimmen, geschieht bei dieser Variante – gar nichts. Die Bluetooth-Übertragungs­technik eignet sich mit ihrem beschränkten Aktions­radius besonders gut für das sogenannte Proximity Tracing.

Angestrebt wird eine Technologie, die vier Grundsätzen Rechnung trägt: Sie ist datensparsam, setzt auf Privacy by Design, beruht auf Freiwilligkeit und verfügt über einen öffentlich einsehbaren und überprüfbaren Quellcode.

Erfreulich ist: Die Schweiz ist bei der Entwicklung solcher dezentraler, datenschutz­konformer Tracing-Modelle vorne dabei. Kryptologinnen, Sicherheits­forscher und Epidemiologinnen der EPFL und der ETH Zürich sind führend bei der Entwicklung des in der europäischen Netz­gemeinschaft beliebten offenen Protokolls DP3T.

Bis zum 10. April schien es sich beim Tüfteln an Contact-Tracing-Applikationen vor allem um eine europäische Angelegenheit zu handeln. Doch dann kündigten Google und Apple eine fast schon historische Partnerschaft an. Die Tech­konzerne wollen im Mai eine gemeinsame Schnitt­stelle ausrollen, die Contact-Tracing-Applikationen einen einfacheren Zugang auf alle Android- und Apple-Handys ermöglichen soll. Gelingt den Konzernen dieser Schritt, wäre dies eine nahezu hundert­prozentige Abdeckung: Fast jeder Schweizer Smartphone-Nutzer wäre Contract-Tracing-fähig, sofern er das möchte.

Damit erhalten die anstehenden Technologie­entscheide zusätzliche Brisanz.

Die technischen Fragen

1. Zentrales versus dezentrales Modell?

Hier geht es um eine grundsätzliche Design­frage: Sollen Begegnungen an einem zentralen Ort aufgezeichnet werden oder verteilt bei den einzelnen Nutzern?

Bei einem zentralen Modell geschieht Folgendes:

  • Zwei Nutzer, A und B, haben beide die Contact-Tracing-App installiert und begegnen sich. Ihre Apps speichern bei der Begegnung einen Zeit­stempel (das aktuelle Datum) und Begegnungs­paare (die zufällig generierten IDs ihrer Smart­phones) unverschlüsselt auf den Endgeräten ab.

  • Nun findet A heraus, dass sie mit dem Corona­virus infiziert ist, und möchte alle Leute benachrichtigen, denen sie in den vergangenen zwei Wochen begegnet ist. Sie sendet alle lokal gespeicherten Begegnungs­paare (die verschiedenen IDs) samt Zeitstempel an einen zentralen Server.

Das Problem dabei: Die Begegnungs­paare werden nicht verschlüsselt, da die wichtigsten Prozesse (Upload, Abgleich und Benachrichtigung) über den zentralen Server stattfinden. Damit werden Personen relativ leicht re-identifizierbar, insbesondere wenn Zeitstempel und Identitäten­verbindungen unverschlüsselt auf dem zentralen Server liegen. Die Anonymität der App-Nutzerinnen wäre damit kaum mehr gewährleistet. Gesundheits­behörden und App-Betreiber hätten direkten Zugriff auf sensible Daten und könnten Begegnungen rekonstruieren. Weiteres Missbrauchs­potenzial besteht darin, dass Nutzer aus Spass Identitäten mit ihrer App generieren und diese an den Server senden könnten.

Simpler und bürger­freundlicher wären die dezentrale Lösung des Schweizer IT-Unternehmens Ubique sowie das Protokoll der Autorengruppe DP3T rund um den Epidemiologen Marcel Salathé und IT-Expertin Carmela Troncoso. Google und Apple bieten eine sehr ähnliche vollständige Integration der Technologie auf Betriebsebene an. Allerdings wird diese erst ab einem unbekannten Datum Mitte Mai verfügbar sein und ist zurzeit nicht Open Source einsehbar.

Wie ein solches dezentrales Modell funktioniert, lesen Sie in dem bereits erwähnten Erklär­text: «So funktioniert eine Corona-Tracing-App, die Ihre Privatsphäre schützt». Die wichtigsten Eckpunkte:

  • A und B tauschen ähnlich wie beim zentralen Modell einen Zeitstempel aus. Hinzu kommt ein kryptografisch generierter Code, eine Art «Schloss».

  • Infiziert sich A mit dem Virus, so schickt es über einen Server nichts weiter als eine einzige Information: einen krypto­grafischen Schlüssel.

  • Passt dieser Schlüssel auf ein lokal gespeichertes Begegnungs-Schloss, so erfährt B damit von der möglichen Infektionsgefahr.

Das Bestechende am dezentralen Modell ist: Die heiklen, personen­bezogenen Daten verlassen zu keinem Zeitpunkt das lokale Gerät, also das Smartphone. A und B tauschen lediglich den privaten, anonymen Schlüssel ihrer hinterlegten Begegnungspaar-Einträge über einen zentralen Server aus. Dieser Server (und damit auch der App-Betreiber) kennt nur die Anzahl der Infizierten, kann aber nicht rekonstruieren, um wen es sich handelt.

Gruppierungen wie das Schweizer Netzwerk Digitale Selbstbestimmung oder der deutsche Chaos Computer Club sehen dieses Kern­merkmal – die dezentrale Speicherung und Verarbeitung von Daten – als wichtigen, vertrauens­stiftenden Grundsatz an. Das Netzwerk Digitale Selbst­bestimmung merkt in einer Fussnote an: «Speicherung in zentrale Daten­räume soll es nur geben, wenn hierfür ein wichtiges epidemiologisches Bedürfnis besteht.»

Ubique entwickelt nun zurzeit in Zusammen­arbeit mit der Hochschule EPFL einen Prototypen des dezentralen DP3T-Protokolls zuhanden des Bundesamts für Gesundheit weiter und hat sich dem PEPP-PT-Konsortium angeschlossen, einer paneuropäischen Initiative unter Feder­führung des deutschen Heinrich-Hertz-Instituts. Dem Konsortium gehören rund 130 Wissenschaftler an, darunter viele der beiden ETH.

Da die Forscherinnen verschiedene Varianten entwickelt haben, bezog das Konsortium noch keine Stellung zur Frage, welches Modell das Bessere sei: zentrales oder dezentrales Tracing.

Doch Google und Apple haben die Entscheidung für die Regierungen gewisser­massen gefällt: Möglich werde auf ihren Betriebs­systemen ohnehin nur ein dezentraler Standard sein, behauptet zumindest der Jurist Michael Vaele, der an dem DP3T-Protokoll mitgearbeitet hat.

2. Staatlich oder nicht staatlich?

Eine weitere Gretchen­frage lautet: Soll der Staat die App bereit­stellen oder nicht?

Die Lösung von Ubique (die bei einem Hackathon entwickelte App «Next Step») kann beispiels­weise vollständig von privaten Anbietern betrieben werden. Dies wäre dann die maximal mögliche digitale Selbstbestimmung.

Infizierte würden dabei selbstständig ihr Umfeld und alle Begegnungen benachrichtigen. Voraussetzung dafür wären sehr gewissenhafte Bürgerinnen und Bürger. Das Problem wären wiederum schwarze Schafe, die das System aus Spass «trollen» und sich fälschlicher­weise als infiziert ausweisen.

Die meisten Experten sind sich daher einig, dass der Staat an einer Tracing-App beteiligt sein muss. Denn ohne Autorisierung einer medizinischen Fachperson ist Missbrauch garantiert. Ausserdem würde keine Arbeit­geberin nur wegen einer «simplen» App-Benachrichtigung 14 Tage Urlaub gewähren. Dafür braucht es mindestens eine medizinische oder eine amtliche Bescheinigung.

Dass nur berechtigte Fach­personen einen Alarm auslösen sollten, schreibt auch das Netzwerk Digitale Selbst­bestimmung in seinem Grundsatzpapier.

Ein rein privates Modell ist auch aus epidemiologischer Sicht nicht sinnvoll, weil Gesundheits­ämter wie das BAG damit keine Trends errechnen und den klinischen Verlauf der Infektionen nicht dokumentieren können.

Doch wie lässt sich verhindern, dass Ärzte oder Labors bei einem positiven Covid-19-Befund direkten Zugriff auf Smart­phones und Mobile-IDs erlangen können und das BAG so Zugriff auf personen­bezogene Daten erhält?

Ubique-CEO Mathias Wellig sagt, das sei durchaus lösbar: «Ein Arzt oder Testzentrum müsste zusammen mit dem positiven Test einen anonymen Code aushändigen. Der Nutzer gibt diesen Code zusammen mit der Meldung in der App ein. Nur Meldungen mit validem Code würden vom System akzeptiert.» Dieses Vorgehen entspricht dem üblichen 2-Faktor-Authentifizierungs-Prinzip, das man auch beim Online­banking kennt.

3. Silicon Valley oder Europa?

Die dritte Frage ist die nach der Zusammen­arbeit. Dabei geht es etwa um Folgendes: Inwiefern werden epidemiologische Forscherinnen in die Contact-Tracing-Systeme des Silicon Valley und der Europäer eingebunden?

Eine Forderung dazu hat der deutsche Chaos Computer Club formuliert. Er verlangt unabhängig vom Anbieter einer App, dass Nutzer der Datenweitergabe zustimmen sollen: «Für freiwillige, über den eigentlichen Zweck des Contact Tracing hinausgehende Daten­erhebungen zum Zweck der epidemiologischen Forschung muss in der Oberfläche der App eine klare, separate Einwilligung explizit eingeholt und jederzeit widerrufen werden können. Diese Einwilligung darf nicht Voraussetzung für die Nutzung sein.»

Diese Möglichkeit ist etwa beim dezentralen PEPP-PT-Protokoll DP3T vorgesehen. Jede App-Nutzerin könnte etwa freiwillig ihre lokal abgespeicherten Einträge für weitere epidemiologische Erhebungen und Statistiken auf den Server hochladen. Google und Apple bieten eine solche Option noch nicht, Wissenschaftler und Behörden müssten also beim Silicon Valley anklopfen, wenn sie Daten für die Forschung benötigen. Das spricht eher für die Lösungen der EPFL und der ETH. Denn die Tech-Giganten werden kaum Sonder­wünsche jedes Staats technisch berücksichtigen wollen.

Doch Apple und Google haben aufgrund ihrer Markt­macht einen entscheidenden Vorteil: Ihre Technologie wäre im Betriebs­system für alle Apps integrierbar. Dies wiederum heisst: Jeder und jede mit einem Smart­phone ist mit einem einsekündigen Opt-in beim nächsten Software-Update sofort kontakt­fähig und braucht keine spezifische App mehr zu installieren.

Eine Analyse des Kryptologen Serge Vaudenay zeigt ein paar Schwächen des DP3T-Protokolls auf. Beispiels­weise könnte ein krimineller Hacker eine eigene Variante des (öffentlich verfügbaren) DP3T-Protokolls implementieren. Läuft der Hacker frei herum, werden diese Begegnungen mit der offiziellen Contact-Tracing-App (basierend auf DP3T) protokolliert, ebenso der jeweilige Standort des Kontakts und vielleicht auch weitere Daten. Sollte sich eine Kontakt­person einer solchen Begegnung anschliessend als infiziert melden, kann der Hacker die Anonymität unter günstigen Umständen aufheben. Solche Angriffe wären theoretisch auch mit der Lösung von Google und Apple möglich, wären aber einiges aufwendiger.

Müssen sich also nun europäische Regierungen entscheiden zwischen einer europäischen App des PEPP-PT-Konsortiums und dem «All inclusive»-Paket des Silicon Valley?

Nein, nicht unbedingt.

Die Schweizer Forschungs­gruppe rund um das DP3T-Verfahren hatte angekündigt, dass sie ihre Implementierung technisch an die Lösung der Tech-Konzerne angleichen werde. Das würde bedeuten: Die Schweiz kann theoretisch das digitale Contact Tracing baldmöglichst mit einer DP3T-basierten App starten und später auf den Standard von Google und Apple umschwenken, sobald dieser verfügbar ist.

4. Bluetooth oder nicht?

Die meisten netzpolitischen Gruppierungen befürworten den Einsatz von Bluetooth. Ein paar wenige Organisationen lehnen Bluetooth aber ab.

Etwa die deutsche Datenschutzorganisation Digitalcourage. Sie bezeichnet Bluetooth als «chronisch unsicher» und weist richtiger­weise darauf hin, dass bei Android mit eingeschaltetem Bluetooth die Aktivierung der Ortungsdienste einhergeht. Daraus kann eine Reihe von ernst zu nehmenden Kollateral­schäden entstehen. Denn wenn eine App auf Bluetooth zugreifen kann, erhält diese gratis die Standort­daten ihres Nutzers (was diese vielleicht vorher verweigert hatten) dazu, und die App-Firma kann sie zu Marketing­zwecken auswerten und verkaufen. Ausserdem hatten bisher rein auf Bluetooth basierende Apps kaum über längere Zeit hinweg funktioniert. Sie saugen den Akku des Smart­phones leer und benötigen zu viel Rechen­leistung. Deswegen werden sie von Google und Apple immer wieder gestoppt und deren Bluetooth-Verbindungen gekappt.

Hier verfügen die amerikanischen Tech-Konzerne über einen weiteren Macht­vorteil gegenüber den europäischen Initiativen. Denn sie sind mit ihren Betriebs­systemen Android und IOS «Gastgeber» und können die Spielregeln selbst festlegen.

Nehmen wir zum Beispiel an, die Netzwerk-App Instagram ermittelt dank ständig aktiviertem Bluetooth Informationen darüber, dass sich zwei Nutzer seit Minuten in unmittelbarer Nähe zueinander aufhalten. Instagram könnte ihnen dann während eines kurzen Zeitraums personalisierte Angebote (etwa Coupons für den Glacestand nebenan) ausspielen. Solche kommerziellen Überwachungs­taktiken würden viele Nutzerinnen verärgern. Apple und Google können dieses Dilemma einfach lösen, indem sie den Zugriff auf Bluetooth im Gerät separat autorisieren und App-Nutzerinnen die Berechtigungen selber steuern lassen.

Doch auch wenn alle technischen und rechtlichen Finessen gelöst und alle Protokolle miteinander kompatibel sind, bleiben noch viele Fragen.

Die praktischen Fragen

1. Was passiert genau bei einer Meldung?

Entscheidend für die Privat­sphäre ist letztlich, was eine Nutzerin (B) unternimmt, wenn bei ihr der App-Alarm losgeht. Spätestens hier wird eine Kontakt­aufnahme mit Gesundheits­behörden unumgänglich. Denn je nachdem kommen unterschiedliche Verhaltens­protokolle zum Einsatz:

  • Ist die Nutzerin B eine Risiko­patientin? Sofort testen lassen.

  • Hat die Nutzerin B die Person A erst vor ein paar Stunden getroffen? Dann ist kein Test angezeigt, sondern eine Isolierung.

Das BAG kann den «Fall» von Nutzerin B nun mit personen­bezogenen Massnahmen begleiten. Spätestens dann fällt aber die Anonymität im ganzen System ohnehin weg.

Epidemiologe Marcel Salathé findet das vertretbar: «Mit dem dezentralen Proximity-Tracing-Modell kann niemand rekonstruieren, wer wem zu welchem Zeitpunkt begegnet ist», sagt er. «Und allein das zählt.» Eine wachsende Zahl von Epidemiologen ist wie Salathé überzeugt, dass ein sozial­verträgliches digitales Contact Tracing positive Effekte auf die Entwicklung der Corona-Epidemie haben könnte.

2. Wie gehen wir sozial­psychologisch mit Contact Tracing um?

Die Bereitschaft für die App-Installation scheint zwar hoch zu sein. Die Initianten des PEPP-PT-Konsortiums gehen von einer Mitmachrate von 60 Prozent der Bevölkerung aus. Der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger sowie die Nationale Ethikkommission gaben grünes Signal für Contact Tracing, betonten aber vor allem den Consent-Aspekt: Jeder Schritt müsse freiwillig und ohne Zwang erfolgen, auch nach der Installation.

Doch gerade am Argument der Freiwilligkeit zweifeln einzelne Experten – wie etwa der baden-württembergische Landes­datenschutz­beauftragte Stefan Brink und seine Referentin Clarissa Henning auf «Netzpolitik.org». Denn der Nutzen einer App zeigt sich erst bei Massen­installationen. Oder aber wenn die Contact-Tracing-Systeme der EPFL oder von Google und Co. in bestehende populäre Schweizer Apps integriert werden würden, etwa jene der SBB.

Was passiert, wenn sozialer Druck entsteht, wenn immer mehr Politiker die obligatorische Installation der Tracing-App fordern oder wie SPD-Vizekanzler Olaf Scholz von einer 100-prozentigen Installationsquote ausgehen, und wenn Kranken­kassen ein Opt-in bei der Google-Apple-Lösung verlangen, bevor sie die Bezahlung eines Covid-19-Tests übernehmen? Solche Szenarien nennt die WOZ den Aufbau eines «Bioüberwachungsstaats».

Ein weiteres Problem wäre der Abnutzungs­effekt: Gerade bei exponierten Arbeit­nehmenden könnte es zu einer Benachrichtigungs­flut kommen: Kassiererinnen und Kranken­pfleger, die nahen Kunden­kontakt haben, würden bei Bluetooth nonstop «on» sein und müssten in Quarantäne. Wie wären solche Ausfälle wirtschaftlich geregelt, wenn es keine Ersatz­einsatzkräfte gibt?

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Bluetooth-Benachrichtigungen viel Datenmüll produzieren, also sogenannte false positives. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn zwei Nachbarinnen auf ihren Sofas ein Buch läsen (ihre Smartphones daneben), aber durch eine Wand voneinander getrennt wären. Wird das Smart­phone die Qualität einer solchen Nichtbegegnung richtig berechnen können? Führen die digitalen Benachrichtigungen nicht früher oder später zu einem Abstumpfen der Nutzer? So, dass sie sich nach der hundertsten Benachrichtigung irgendwann gar nicht mehr testen lassen?

Wie Menschen mit permanenten Virus­benachrichtigungen psychologisch umgehen, ist nicht erforscht. Kommt es zur Schock­starre? Werden die Benachrichtigten aus Neugier auf eigene Faust ihren vergangenen Begegnungen hinterher­forschen? Können Nutzer die Anonymität einer App-Benachrichtigung wirklich akzeptieren?

Wie es jetzt weitergeht

Der epidemiologische Mehrwert von digitalem Contact Tracing ist bisher wissenschaftlich kaum erforscht. Somit gibt es weder einen bemessbaren Nutzen noch einen nachgewiesenen Schaden solcher Systeme.

Zwar wurde dieselbe Proximity-Technologie in den vergangenen Monaten in Asien angewandt. Doch existiert ein wichtiger Unterschied: Südkorea und Singapur haben mit ihren Contact-Tracing-Apps die Smartphone-Nummern von Infizierten und Standortdaten erhoben, ihre Quarantäne­orte wurden sogar anonymisiert im Netz publiziert. Unvorstellbar für das datenschutz­bewusste Europa, das deshalb die Entwicklung eigener Apps vorangetrieben hat.

Ob die Ankündigung der amerikanischen Tech-Konzerne die bisherigen App-Fahrpläne der europäischen Regierungen nun durcheinander­bringt, ist noch nicht klar. Es wäre für die meisten Staaten auf jeden Fall bequemer, zuzuwarten und eine offizielle Contact-Tracing-App rund um den fertigen technischen Baukasten von Apple und Google zu bauen.

Doch bis zu diesem Termin (Mitte Mai) würde kostbare Zeit verloren gehen. Viele Länder möchten baldmöglichst mit dem Ausstieg aus dem Lockdown beginnen.

Die deutsche Bundes­regierung plant, ihre App heute (am 16. April) zu präsentieren. Österreich hat seine «Stopp Corona»-Applikation des Roten Kreuzes bereits lanciert, sie wurde 200’000-mal heruntergeladen. Das BAG arbeitet mit der Schweizer DP3T-Autoren­gruppe zusammen, wie Patrick Mathys an der Pressekonferenz vom 14. April bestätigte, und entwickelt bereits einen Prototypen.

Ob die digitale Epidemie­bekämpfung erfolgreich sein wird, hängt letztlich stark von der Akzeptanz der neuen Technologie ab. Sowohl das PEPP-PT-Konsortium wie auch die Tech-Konzerne Apple und Google präsentieren datenschutz­konforme, nutzer­freundliche Modelle, die sogar miteinander kompatibel sind. Beide Varianten haben Vor- und Nachteile.

Unabhängig davon ist jedoch klar: Digitale Kontakt­nachverfolgung wird für sich allein nicht den Durchbruch bringen in der Eindämmung des Virus. Entscheidend wird deren Einbettung in den gesamten Massnahmen­mix sein und ebenso, wie der Austausch zwischen Infizierten, Gesundheits­behörden und Ärztinnen ausgestaltet wird. Ob die App wirklich einen epidemiologischen Mehrwert bietet, wird sich erst im Nach­hinein schlüssig beantworten lassen.

Vorerst bleibt das digitale Contact Tracing ein grosses, sozial-digitales Experiment – mit ungewissem Ausgang.

In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass GLP-Nationalrat Martin Bäumle eine obligatorische Installation der Tracing-App fordert. Dies stimmt nicht. Für den Fehler entschuldigen wir uns.

Zum Update

Vor wenigen Tagen kam es im PEPP-PT-Konsortium zum Eklat um die Architektur, die der Tracing-App zugrunde liegen soll. In der Folge verliessen zahlreiche EPFL- und ETH-Mitglieder das Konsortium: Die europäische Forschungsgemeinschaft für Contact Tracing droht komplett auseinanderzubrechen.

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