Covid-19-Uhr-Newsletter

Bringen wirs hinter uns

10.04.2020

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Liebe Leserinnen, liebe Leser

Vorweg: Niemand will Sie hier bekehren.

Aber heute, am Karfreitag, lassen wir eine reformierte Pfarrerin zu Wort kommen. Denn auch wenn Sie nicht religiös sind, könnten Sie sich fragen: Wo hockt Gott in diesen Zeiten?

Lesen Sie hier, was die 39-jährige reformierte Pfarrerin Sibylle Forrer aus Kilchberg ZH im Lockdown erlebt. Für den Covid-19-Newsletter haben wir mit ihr gesprochen:

«Die Fastenzeit hält man nur durch, weil man weiss: Der Osterbrunch wartet. Die Corona-Krise wird einiges länger als vierzig Tage dauern. Und wir sind gerade mal in der Trauerphase.

Die Stimmung ist gekippt. Die Menschen haben sich organisiert, sie wissen, wer ihnen beim Einkauf hilft oder ob sie mit dem Hund rausdürfen. Viele haben sogar eine Art Alltag im Ausnahmezustand erlangt. Am Anfang sagten sie mir noch: Alles gut, ich mache jetzt sogar Gymnastik vor dem Bildschirm.

Doch unterdessen zehrt es vom Innersten.

Mehrere Stunden telefonieren wir mit unseren Gemeindemitgliedern – vier Seelsorgerinnen und ich arbeiten eine Liste ab. Zuerst kamen die ältesten Jahrgänge. Und die Gespräche werden täglich länger.

In der Seelsorge merken wir, dass jetzt, wo das Organisatorische durch ist, die Knochenarbeit beginnt. Ähnlich, wie wenn jemand gestorben ist und man alles Administrative erledigt hat: Man trauert.

Die Menschen haben das Bedürfnis, intensiv zu klagen. «Gott, gohts no!» kann heilsam sein. Man kann im Gebet auch fluchen! Das gilt für alle Schicksalsschläge, dafür brauchen wir keine Corona-Krise.

Ich muss den Menschen zeigen, dass wir da sind. Viele, mit denen ich spreche, haben Angst, vergessen zu werden. Draussen blüht es, sie sind eingeschlossen: Die Diskrepanz kann einen noch einsamer machen.

Darum schreiben wir Karten, telefonieren, telefonieren, telefonieren – und bieten auch online sehr viel Hand. Auch viele über siebzig sind Social-Media-affin.

Unsere Konfirmanden haben fremden Senioren Karten geschrieben. Ein Jugendlicher hinterliess darauf seine Handynummer, der Pensionär rief an. Sein Brieffreund ist ihm nun nicht mehr fremd, der Jugendliche geht für ihn einkaufen. Corona führt Menschen auch zusammen.

Auch Brautpaare, die ihre Hochzeit verschieben müssen, leiden emotional und finanziell. Sie haben so lange auf den Tag hingearbeitet. Jetzt hängen sie in der Luft, die meisten brauchen ein neues Datum, um innerlich zu wissen: An diesem bestimmten Tag werde ich Ja sagen.

Corona stellt das bis anhin fast unermessliche Individualitätsstreben in den Senkel. Wir merken, wie wir nur als Gemeinschaft überleben.

Wir lassen in Kilchberg wegen Corona täglich um 18 Uhr die Kirchenglocken läuten. Der Klang hilft den Menschen, er vermittle ihnen ein Gefühl des Zusammenhalts, sagen sie mir. Einige, auch Nichtgläubige, haben es sich sogar zum Ritual gemacht, täglich um diese Zeit in die Nähe der Kirche zu spazieren, nur um das Läuten zu hören. Über den Lärm beschwert hat sich niemand.

Ob das Coronavirus eine Rückbesinnung auf den Glauben bringe, werde ich oft gefragt. Ich weiss es nicht. Jede Krise ist eine Standortbestimmung. Ich kann schon etwas aus der Offenbarung des Johannes zitieren und sagen: Das ist jetzt Corona. Aber das wäre theologisch falsch und seelsorgerisch verheerend. Ich darf auch nicht versuchen, billig zu trösten. Ich muss Warum-Fragen aushalten, ohne eine Antwort darauf zu haben.

Diese Woche habe ich meine Karfreitagspredigt geschnitten. Eine neue Erfahrung. Ein Gottesdienst ist immer Inszenierung, wir haben schnell gemerkt, dass online andere Regeln gelten.

Am Karfreitag blicken wir auf Jesus am Kreuz. Und so werde ich in dieser Predigt über die Verletzlichkeit von uns als Menschen und Gesellschaft sprechen. Corona zeigt: Es braucht eine Bewusstseinsänderung: Carearbeit beispielsweise ist nicht nur system-, sondern wirtschaftsrelevant. Wir müssen die Berufe, die unser Land jetzt am Laufen halten, dringend aufwerten.

Aber das ist erst nach Corona. Jetzt überwinden wir die Trauerphase. Der grosse Osterbrunch kommt nächstes Jahr.»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Gotthard bleibt staufrei: Wahrscheinlich zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es keinen Osterstau gen Süden. Nur vereinzelt fuhren Autos am Freitag durch den Tunnel. Die Bevölkerung folgt damit weitgehend der Aufforderung von Bundesrat Alain Berset. Er hatte am 27. März an einer Medienkonferenz eindringlich davor abgeraten, über Ostern ins Tessin zu fahren.

  • Rückkehrer aus Indien und Costa Rica gelandet: Am Karfreitag sind zwei weitere Flugzeuge mit Schweizerinnen und Schweizern in Kloten gelandet. Eines kam am frühen Morgen aus Mumbai an – mit Zwischenstopp in Delhi. Das zweite brachte kurz nach Mittag Gestrandete aus Costa Rica und Guatemala. Insgesamt kamen 239 Schweizerinnen und 279 Angehörige anderer Staaten an. Die Rückholaktion des EDA ist damit aber noch nicht beendet. Mindestens zwei weitere Flüge sind in Planung.

  • Italien verlängert Ausgangssperre: Frühestens am 4. Mai dürfen die Menschen in Italien mit einer Lockerung der Massnahmen rechnen. Das berichten diverse italienische Medien. Für Risikogruppen und ältere Menschen würden die Einschränkungen allerdings noch länger gelten. Das Ausgangsverbot gilt seit dem 10. März.

  • Die Welle erreicht Russland: Am Donnerstag wurden 1786 Covid-19-Erkrankungen vermeldet – so viele wie noch nie an einem Tag. Insgesamt zählt das flächenmässig grösste Land der Welt knapp 12’000 bestätigte Ansteckungen. Die Todesfälle stiegen am Donnerstag von 76 auf 94 an. Präsident Wladimir Putin hat angekündigt, die arbeitsfreie Woche bis Ende April zu verlängern. Zudem drohen neu bei Verstössen gegen die Quarantäneregeln bis zu sieben Jahre Haft.

Die besten Gedankenreisen

Vielleicht hatten Sie für die Osterferien eine Reise geplant oder ein langes Wochenende in den Bergen. Nun trinken Sie Ihren Kaffee auf Balkonien. Dafür möchten wir Ihnen ein paar Gedankenreisen vorschlagen. Es geht an drei Strände.

Erste Station: Saint-Tropez. Sie brauchen: einen hellen Anzug oder ein schickes Sommerkleid. Weiter via: Ostia bei Rom. Am besten nehmen Sie einen Volleyball mit. Und zum Abschluss: Vlora in Albanien. Mit einer Kühlbox voller Wasserglace und eisgekühltem Bier.

Wenn Sie noch weiterträumen mögen: Hier finden Sie alle 9 Teile der Serie.

– Und als bedenkenswerte Lektüre aus der «New York Times»: Wussten Sie, dass es Viren gibt, die nach einem Ausbruch im Körper bleiben und später im Leben eine Krankheit auslösen können? Das sei mit ein Grund, warum man unbedingt weiter auf Abstand bleiben sollte, schreibt die Epidemiologin Greta Bauer.

Frage aus der Community: Wird das warme Wetter die Verbreitung des Virus eindämmen?

Die kurze Antwort: Das wird sich leider erst zeigen. Forscher sind sich noch uneins.

Die etwas ausführlichere Antwort: Das deutschsprachige «Ärzteblatt» berichtet von einer Studie, die in ihren (einmal mehr erst vorläufigen) Resultaten festhält, dass 9 von 10 Infektionen mit dem Virus Sars-CoV-2 in Regionen auftraten, in denen es durchschnittlich zwischen 3 und 17 Grad warm ist. Darum sagen die US-Forscher ein Ende der Pandemie im Sommer voraus. Sie hoffen, dass sich das Virus ähnlich verhält wie die Grippe, die mit steigenden Temperaturen jeweils schwächer wird. Andere Forscher sind skeptisch: Wärmeres Wetter mit feuchterer Luft lasse die Epidemie höchstwahrscheinlich nicht verschwinden, sagt etwa der Harvard-Forscher und Epidemiologe Marc Lipsitch. Sicher ist: Auch die Luftfeuchtigkeit beeinflusst die Verbreitung. Und das heisst für den Frühling – oder für Regionen mit tropischem Klima – nichts Gutes: Ein Vergleich der Ausbrüche in chinesischen Provinzen legt nahe, dass sich das Virus nicht nur in trockenen Regionen wie Wuhan oder Hubei schnell verbreiten konnte, sondern auch in Regionen mit einer höheren Luftfeuchtigkeit wie Singapur (die Resultate dieser Studie sind aber ebenfalls erst vorläufig).

Zum Schluss eine gute Nachricht: Sie sind Trauer und Angst nicht einfach ausgeliefert

Die meisten von uns sind es nicht gewohnt, so viel Zeit daheim zu verbringen. Bei manchen verursacht das Nervosität, bei anderen Wut, bei noch anderen Trauer (und manche finden es einfach schön, mehr Zeit auf dem Sofa verbringen zu können – wenn das für Sie zutrifft, können Sie den Rest dieses Absatzes getrost überscrollen). Wenn Sie zu den Menschen gehören, deren Stimmung sich im «Lockdown light» verschlechtert hat, können Sie Folgendes versuchen:

Anerkennen Sie Angst, Trauer, Wut, Nervosität. Es sind normale Reaktionen auf die Ausnahmesituation. Viele Menschen erleben gerade dieselben Gefühle. Sie kommen – aber sie vergehen auch wieder. Ein Trick: Versuchen Sie, Ihren Sorgen einen 30-Minuten-Slot pro Tag zu geben. Und konzentrieren Sie sich während des Rests der Zeit auf andere Sachen:

Suchen Sie Kontakt. Schicken Sie einen Brief, nehmen Sie das Telefon in die Hand – Einsamkeit tut vielen Menschen nicht gut (vielen Tieren übrigens auch nicht).

Helfen Sie anderen, seien Sie solidarisch – in Worten oder in Taten. Das tut auch Ihnen gut.

– Und vergessen Sie nicht: Krisen gehen vorbei. Auch die, die lange dauern.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Frohe Ostern. Und bis Montag.

Philipp Albrecht, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Cinzia Venafro

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Wir dachten erst an einen Scherz, aber das Bundesamt für Gesundheit meint es ernst: Es hat ein kleines Handyspiel programmieren lassen, in dem man einen verpixelten Osterhasen sicher nach Hause tippen muss.

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