Zur Aktualität

Nicht ohne die Ehefrau

Warum sich die Richter am Bundes­gericht über den Familien­nachzug in die Haare geraten sind.

Von Brigitte Hürlimann, 28.02.2020

Teilen6 Beiträge6

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

Die Fetzen fliegen, und zwar an einem Ort, an dem man es nicht unbedingt erwarten würde: in den Respekt heischenden Hallen des Bundes­gerichts in Lausanne. Vorder­gründig geht es darum, ob ein seit über zwanzig Jahren in der Schweiz lebender Kosovare seine Ehefrau ins Land holen darf, unter dem Titel des Familien­nachzugs. Der Mann hatte wenige Monate nach seiner Einreise 1998 einen schweren Arbeits­unfall erlitten, ist seither arbeits­unfähig und bezieht eine IV-Rente. Er lebt als Aufenthalter in der Schweiz, seine Frau und die inzwischen erwachsenen vier Kinder blieben in der Heimat zurück.

Hauptthema der öffentlichen Urteils­beratung ist am heutigen Freitag­morgen also ein Familien­nachzug. Ob dieser genehmigt werden kann oder ob sogar ein Anspruch darauf besteht, das ergibt sich in erster Linie aus dem hiesigen Ausländer­gesetz und aus der Europäischen Menschenrechts­konvention. So weit, so klar. Doch der Grund für die ungewöhnlich heftige Diskussion innerhalb der Zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung ist nichts Geringeres als die Gewaltenteilung.

Die Legislative schafft bekanntlich die Gesetze, und die Richter sind daran gebunden. Gleichzeitig müssen sie die generell-abstrakten Normen auslegen, auf den Einzelfall anwenden – und hier beginnt die höchst­richterliche Uneinigkeit, was den Familien­nachzug im konkreten Fall betrifft.

Wo liegen die Grenzen der Gesetzes­auslegung, ab wann liegt eine Missachtung des gesetz­geberischen Willens vor? Dürfen Gerichte das Recht konkretisieren oder weiterentwickeln? Wie weit geht die richterliche Ermessens­ausübung? Was sind die Anforderungen an eine rechts­gleiche, verhältnis­mässige und willkür­freie Auslegung der Gesetze?

Über solch fundamentale Fragen gehen die Auffassungen im fünfköpfigen Gremium diametral auseinander. Und dies, obwohl alle beteiligten Bundes­richter von Anfang an einhellig der Meinung sind, dass die Beschwerde des kosovarischen Mannes und dessen Ehefrau gutzuheissen ist.

Sprich: Das Urteil der Vorinstanz wird aufgehoben und die Sache zurück an den Waadtländer Migrations­dienst geschickt. Dieser soll prüfen, ob der Ehefrau gestützt auf Artikel 44 des Ausländergesetzes der Familien­nachzug gewährt werden kann, obwohl sie ihr Begehren zu spät gestellt hat. Im Regelfall hätte dies innerhalb von fünf Jahren geschehen müssen. Liegen wichtige Gründe vor – und davon geht man am höchsten Gericht aus –, kann auch später noch ein Familien­nachzug gefordert werden.

Warum also die Aufregung am Bundes­gericht? Die harschen Worte, die unversöhnlichen Positionen? Streitpunkt ist einzig und allein die Begründung der Beschwerde­gutheissung. Eine dreiköpfige Gerichts­mehrheit geht davon aus, das in Artikel 8 der Menschenrechtskonvention garantierte Recht auf die Achtung des Privat- und Familien­lebens bilde eine Einheit. Wer über ein gefestigtes Aufenthalts­recht in der Schweiz verfüge, habe deshalb grundsätzlich Anspruch auf einen Familiennachzug.

Die Gerichts­minderheit wiederum, bestehend aus zwei Richtern, spricht von einer nicht zulässigen Ausweitung der hiesigen Gesetz­gebung, von einer Recht­sprechung, die von der klaren Meinung des Gesetz­gebers abweiche, indem kraft Recht­sprechung eine neue Regel gebildet werde.

Die Krux ist: Für aufenthalts­berechtigte Ausländer gibt es keinen Anspruch auf einen Familien­nachzug, anders als bei eingebürgerten oder nieder­gelassenen Menschen. Beim Gesetzes­artikel, der die aufenthalts­berechtigten Ausländer betrifft, handelt es sich um eine sogenannte Kann-Norm. Die Kantone können den Familien­nachzug bewilligen, falls die Voraussetzungen erfüllt sind – oder eben nicht. Das Bundes­gericht stellt nun klar, dass diese Kann-Regel im Lichte der Menschenrechts­konvention angewandt werden muss. Was zu einem grund­sätzlichen Anspruch auf Familien­nachzug führt, wenn der eine Ehegatte über ein gefestigtes Aufenthalts­recht in der Schweiz verfügt – was ab zehn Jahren der Fall ist.

Der Kosovare, um den es im konkreten Fall geht, lebt deutlich länger als zehn Jahre in der Schweiz. Es bestehen wohl gute Chancen, dass seine Ehefrau einreisen und künftig bei ihm leben darf, obwohl die Eheleute bisher eine Fern­beziehung führten. Der Gesundheits­zustand des Mannes hat sich in jüngster Zeit drastisch verschlechtert; das ist auch der Grund, warum auf das verspätete Gesuch um Familien­nachzug einzugehen ist. Ohne seine Ehefrau müsste der Mann in ein Pflege­heim verbracht werden, weil er nicht mehr in der Lage ist, für sich selber zu sorgen.

Beschwerde einer Belgierin ebenfalls gutgeheissen

Ohne jegliche öffentliche Kontroverse hat die gleiche Abteilung übrigens bereits Anfang Februar einen weiteren bemerkenswerten Entscheid gefällt: Dieses Urteil betrifft den Fall einer 63-jährigen Belgierin, die nach Auffassung des Staats­sekretariats für Migration und des Bundes­verwaltungs­gerichts die Schweiz verlassen muss, weil sie seit Jahren sozialhilfe­abhängig ist.

Die Frau war als Schweizerin in der Schweiz geboren worden und hatte ihr Schweizer Bürger­recht wegen des früheren, diskriminierenden Bürger­rechts­gesetzes verloren. Die Republik hat über diesen Fall berichtet.

Die Zweite öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundes­gerichts heisst ihre Beschwerde nun ebenfalls gut – allerdings nicht wegen der früheren Diskriminierung, die kein Thema ist. Das höchste Gericht stellt fest, dass das Bundes­verwaltungs­gericht lediglich geprüft hat, ob ein Härtefall vorliegt, nicht aber, ob der Frau gestützt auf das Freizügigkeits­abkommen der Aufenthalt in der Schweiz weiterhin gewährt werden könnte. Dies deshalb, weil die Frau inzwischen zu 50 Prozent arbeitstätig ist und eine Überbrückungs­rente bezieht.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: