Strassberg

Zeig dich, zieh die Maske an!

Es gibt ein Pathos der Enthüllung, das überzogen ist. Aber gibt es eine Tugend der Maskierung?

Von Daniel Strassberg, 21.01.2020

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Vergangene Woche war in dieser Kolumne vom Demaskieren die Rede, heute geht es um Masken. Oder, wie angekündigt, um die Frage, weshalb Lois Lane nicht erkennt, dass Clark Kent und Superman dieselbe Person sind.

Es gibt Schutz­masken, Gasmasken, Verbrecher­masken, Karnevals­masken, Theater­masken, Strafmasken, Operations­masken, kosmetische Masken, kultische Masken, medizinische Masken, Toten­masken. Niemand käme aber auf die Idee, Hosen Beinmasken zu nennen oder ein Tischtuch eine Tischmaske. Nur was das Gesicht bedeckt, heisst Maske.

Weshalb erfordert die Bedeckung des Gesichts eine eigene Bezeichnung?

Die Antwort ist klar: Wer sein Bein bedeckt, verbirgt seine Identität nicht. Wir erkennen den anderen an seinem Gesicht; wir sehen es, ordnen ihm einen Namen zu (oder zumindest versuchen wir es) und wir wissen, wen wir vor uns haben.

Ein Gesicht mit einem Namen zu verbinden, ist die alltäglichste Form der Identifikation, welche die Maske verhindert, diese macht gegebenenfalls andere Formen der Identifikation – Fingerabdruck, DNA, Stimmanalyse – nötig. Das bedeckte Gesicht kann also Ärger auslösen – wie wir von der Burka­debatte oder dem Vermummungs­verbot wissen.

Wir wollen wissen, mit wem wir es zu tun haben.

Wenn das Hirnareal Gyrus fusiformis verletzt wird, kann die Betroffene keine Gesichter mehr erkennen; sie leidet unter einer Prosopagnosie. Die Gesichts­erkennung benötigt eine eigene neuronale Verarbeitung, weil sie anders funktioniert als das Erkennen anderer Gegenstände: Wir sehen von weitem ein Tier und nähern uns ihm. Immer mehr Details werden sichtbar, und sie ermöglichen eine immer genauere Eingrenzung: Säugetier – Hund – Schäferhund – Belgischer Schäferhund – Harro. Ein Gesicht erkennen wir aber nicht aufgrund von Eingrenzungen, sondern aufgrund seiner Einzigartigkeit. Deshalb kann der Philosoph Emmanuel Levinas feststellen:

Die Berührung stellt nicht den ursprünglichen Modus des Unmittelbaren dar. Das Unmittelbare ist das Von-Angesicht-zu-Angesicht.

«Totalität und Unendlichkeit» (1987), S. 65.

In ein Gesicht zu sehen, ist die unmittelbarste Form der Beziehungs­aufnahme, unmittelbarer als die Berührung.

Masken verhindern also nicht nur die Identifikation, sie verunmöglichen auch eine Beziehungs­aufnahme. Die Chirurgin, die aus dem Operations­saal kommt, um die Angehörigen zu informieren, zieht sich zuallererst die Maske vom Gesicht, um identifizierbar zu sein, und dann die Handschuhe, um mit dem Handschlag eine Beziehung aufzunehmen. Tatsächlich hat die Alltags­sprache für Maskierungen wenig übrig. Er ist oberflächlich, sagt man, nur auf sein Äusseres bedacht. Er versteckt sich hinter einer Fassade, man spürt ihn gar nicht, sagt man. Er trägt immer eine Maske, an ihm ist nichts authentisch. Sagt man.

Nichts scheint also für Masken zu sprechen. Wie kommt Friedrich Nietzsche also dazu, für die Verschleierung und die Maskierung einzustehen?

Im zweiten Teil des Aphorismus der letztwöchigen Kolumne lesen wir:

«Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?» fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: «aber ich finde das unanständig» – ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.

Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo? … Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?

Aus: Friedrich Nietzsche, «Die fröhliche Wissenschaft», Vorrede § 4.

Wer ständig in die Tiefe hinabsieht, wo er das verborgene Eigentliche vermutet, übersieht, so deute ich Nietzsche, dass die Oberfläche – die Formen, Töne und Worte – schon alles Wesentliche zeigt. Wir brauchen keine Tiefe, die Oberfläche genügt.

Gegen die Mystifikation der Tiefe traten fast zur selben Zeit Nietzsche, Sir Arthur Conan Doyle, Sigmund Freud und Ludwig Wittgenstein an. Ihr gemeinsames Credo war, dass alles schon auf der Oberfläche gut sichtbar ist, die Suche in der Tiefe lenkt von der Wahrheit nur ab. Nichts hat der Psycho­analyse mehr geschadet als die Bezeichnung Tiefen­psychologie. Achtet auf die Oberfläche, hat Freud gelehrt, auf die kleinen Fehl­leistungen, auf die winzigen Merkwürdigkeiten des Traums, auf die Details des hysterischen Symptoms! Und zieht daraus die richtigen Schlüsse, fügte Sherlock Holmes hinzu.

Die Oberfläche zeigt alles. Das erklärt paradoxerweise, weshalb die meisten Superhelden eine Maske tragen. Nicht etwa um zu verbergen, dass er Batman ist, trägt Bruce Wayne eine Maske, sondern damit alle wissen, wer er eigentlich ist. Der Milliardär ist nämlich in Wirklichkeit ein unerschrockener Kämpfer gegen das Böse. Die Maske ermöglicht Batman, seine bürgerliche Identität zu verbergen und gerade dadurch authentisch zu sein. Maskiert kann er gesellschaftlichen Konventionen entfliehen und jenseits aller sozialen Verpflichtungen und oft auch jenseits des bürgerlichen Gesetzes für die Gerechtigkeit einstehen.

Identifikation verhindert Identität, während die Maske Authentizität ermöglicht. Die totale staatliche Überwachung der chinesischen Bürger verknüpft Gesichter mit Namen, um sie mittels einer ausgefeilten Gesichts­erkennungs­software in das Korsett der Konventionen zu zwängen. Wer immer und überall überwacht wird, kann niemals authentisch sein.

Deshalb sind die Superhelden der Comics so beliebt. Sie sprechen nämlich eine weit verbreitete, vorwiegend männliche Fantasie an: Würde eine Maske meine Identifikation verunmöglichen, könnte ich mich der gesellschaftlichen Kontrolle entziehen und endlich der Held werden, der ich in Wirklichkeit schon immer war.

Im Internet wird diese Fantasie hemmungslos ausgelebt. Maskiert durch den Aliasnamen lässt manch einer jeden Anstand fallen und zeigt sich, wie er wirklich ist: Mutig, unerschrocken, nur der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet – wie er meint. Und dann endlich werden ihn die Lois Lanes dieser Welt erkennen.

Illustration: Alex Solman

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