Strassberg

Exklusiv enthüllt: Die Wahrheit über das Entlarven

Ist eine Wahrheit mehr wert, wenn sie zuerst ans Licht gezerrt werden muss? Wie die Enthüllungs­rhetorik funktioniert – und warum sie ziemlich billig ist.

Von Daniel Strassberg, 14.01.2020

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Journalistinnen, Psycho­analytiker und Philosophinnen haben eines gemeinsam. Sie leben von der Enthüllung. «Neueste Forschungen zeigen» lautet die Rhetorik der einen, «Sie meinten bislang, aber in Wirklichkeit» die der anderen. «Ich aber sage euch!», verkünden die dritten. Kants Forderung an die Aufklärung scheint perfekt erfüllt zu werden: Sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Die Enthüllung bezeugt nicht nur Aufrichtigkeit und Glaub­würdigkeit, sondern auch Unerschrockenheit und eben Mut.

Aber bezeugt sie auch eigenständiges Denken?

Enthüllung als Spielart aufgeklärter Kritik nimmt, im Gegensatz zum unentbehrlichen Investigativ­journalismus, nicht nur Missstände (oder vermeintliche Missstände) ins Visier, sondern auch den Versuch, diese zu verschleiern. Als wäre das Verschleiern noch ein Extravergehen, eine Art Zugabe zum Missstand. Als verstünde es sich nicht von selbst, dass die Mächtigen ihr Tun verschleiern wollen. Wenn zum Beispiel in Medien Enthüllungs­reportagen über Treffen rechts­extremer Gruppierungen mit anderen rechts­extremen Gruppierungen erscheinen: Mit wem, in aller Welt, sollen sich Rechts­extreme sonst treffen, fragt man sich.

Enthüllungen dieser Art bringen keine wirklichen Missstände ans Licht – Macht­missbrauch, Korruption, Ungerechtigkeit –, sondern produzieren lediglich eine bräsige Kultur­kritik, die den nahen Untergang beschwört. Im Journalismus, in der Psycho­analyse und in der Philosophie.

Dagegen schien auch Friedrich Nietzsche Vorbehalte zu hegen:

Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur «Wahrheit um jeden Preis», dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief … Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben.

Aus: Friedrich Nietzsche, «Die fröhliche Wissenschaft», Vorrede § 4.

Der Wahrheit den Schleier zu belassen, dadurch beweise man Mut – diese Worte Nietzsches sind in Zeiten von Fake News eine gefährliche Behauptung. Die Wahrheit ist ohne Zweifel das höchste Gut der Aufklärung und die Suche nach der Wahrheit ihre vornehmste Tugend. Ist dies nun der endgültige Beweis, dass Nietzsche ein Antiaufklärer war? Ich denke nicht. Er glaubt bloss nicht, dass es der Wahrheit guttut, auf diese Weise ans Licht gezerrt zu werden.

Seit Platons Höhlen­gleichnis gilt: Eine Wahrheit, die sich von selbst zeigt, die ganz ohne Anstrengung zu haben ist, zählt nichts. Sie ist trügerisch und oberflächlich. Nein, die «eigentliche» Wahrheit bedarf eines enormen Einsatzes. Was ohne Arbeit ans Licht komme, sei bloss erbaulich und fad, fand Hegel, deshalb gelten nur entborgene, entlarvte, enthüllte, demaskierte, ans Licht gezerrte, unter Gefahren gewonnene Wahrheiten etwas. Journalistinnen, Psycho­analytiker und Philosophinnen (und einige andere Berufe, die Wahrheits­arbeit vollbringen) sind deshalb die wahren Heldinnen unserer Zeit: Wie Indiana Jones dringen sie in die Tiefe vor und räumen unter Einsatz ihres Lebens den Schutt der Verschlagenheit, der Trägheit und der Tradition fort, um den unermesslichen Schatz der Wahrheit zu bergen. (Ist Ihnen übrigens schon aufgefallen, wie häufig Psychiater und Journalisten die Helden des amerikanischen Kinos sind? Philosophen kaum.)

Weshalb werden uns diese Metaphysik der Anstrengung und die ihr zugehörige Entlarvungs­rhetorik so schnell so fad? Enthüllungen dieser Art entschleiern die Wahrheit oft im Namen einer Wahrheit, die kritiklos hingenommen wird. Stellen Sie sich folgende Schlagzeile vor: «Die neueste Hirn­forschung zeigt: Gummi­bärchen verursachen Depression. Wusste Haribo davon?» Der Schreiber inszeniert sich als Helden, der eine bislang unbekannte Wahrheit ans Licht bringt und sich dabei mit einer mächtigen Verschwörung anlegt. Dabei beruft er sich auf eine Arbeit, die zwar korrekt durchgeführt sein mag, aber

  • die ihre Resultate von einem Versuch mit Mäusen bezieht, die über Jahre mit Unmengen von Gummi­bärchen gefüttert wurden, und die nicht auf den Menschen übertragbar sind. Was sind schon Mäusedepressionen?

  • deren Versuche nie wiederholt wurden und deshalb Zufalls­treffer sein könnten. (In der Medizin und in den Sozial­wissenschaften werden Versuche kaum repliziert, weil sich Wiederholungen schlecht veröffentlichen lassen.)

  • die vielleicht zwanzig unveröffentlichten Versuchen entgegensteht, welche keinen Zusammen­hang feststellen konnten, womit das positive Resultat im Fehler­bereich liegt. (Negative Resultate lassen sich auch kaum veröffentlichen.)

  • die Korrelationen mit Kausalitäten verwechselt. Ein erhöhtes Vorkommen von Depressionen bei Gummi­bärchen­essern beweist genauso, dass Gummi­bärchen die Ursache von Depressionen sind, wie der parallele Rückgang von Störchen und Geburten beweist, dass Babys von Störchen gebracht werden.

Sich auf irgendwelche obskuren Forschungen zu berufen – derzeit ist die Hirn­forschung sehr in Mode –, ist also nichts als ein rhetorischer Kniff, ein billiger sogar, würde ich sagen. Der Enthüllungs­diskurs folgt immer wieder denselben Mustern:

  • 1. List: Überlegenheit ersetzt Wissen. Diese Rhetorik erzeugt eine fragwürdige Überlegenheit, die Nietzsche Priester­moral nennt. Wer sich mit einer glaubwürdigen Macht verbündet, kann für sich selbst Glaub­würdigkeit und Wissen beanspruchen. Der Journalist weiss die Forschung im Rücken, der Psycho­analytiker die Psycho­analyse, die Internationale Psycho­analytische Vereinigung oder gar Freud. Und der Philosoph? Der Philosoph spricht sogar im Namen des Seins.

  • 2. List: Anstrengung ersetzt das Argument. Die Rhetorik wirkt authentisch und aufrichtig. Der Entlarver besitzt einen Wahrheits­bonus, den er durch Anstrengung erworben hat: Die Recherche, die Lehranalyse oder der Kampf gegen traditionelle Ansichten hat Jahre in Anspruch genommen und musste sich gegen massive Widerstände durchsetzen. Dieser lebenslange, selbst­quälerische Kampf legitimiert Überlegenheit, nicht das bessere Argument. (demonstratio: Haben Sie schon mal versucht, einen Journalisten, einen Psycho­analytiker oder einen Philosophen telefonisch zu erreichen? Unmöglich, sie sind gerade im Kampf um die Wahrheit engagiert.)

  • 3. List: Das Zitat ersetzt die Denk­arbeit. Der Entlarver erspart sich das Selberdenken, also genau das, was Kant ins Zentrum der Aufklärung gestellt hat. Er enthüllte nämlich im Namen derer, die schon früher für ihn gedacht haben. Und die deshalb nicht hinterfragt werden können. Wie Freud schon sagte, heisst es dann. Der Ich-aber-sage-euch-Besserwisser-Philosoph entlarvt umgekehrt gegen diejenigen, die vor ihm gedacht haben. Was, ehrlich gesagt, noch öder ist.

Wenn ich noch einen Wunsch frei hätte, wünschte ich mir fürs neue Jahr, keinen Artikel lesen zu müssen, der mit den Worten beginnt: Neueste Forschungen zeigen …

Nächste Woche klären wir mithilfe des zweiten Teils von Nietzsches Aphorismus die Frage, ob Lois Lane an einer Prosopagnosie (Gesichts­erkennungs­schwäche) leidet, da sie Clark Kent über Jahre nicht als Superman erkennt.

Illustration: Alex Solman

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