Zur Aktualität

Ein Land geht offline – wie funktioniert die Internet­sperre im Iran, und wie reagiert die Bevölkerung darauf?

Nach blutigen Protesten hat die iranische Regierung das Internet abgedreht. Internet­expertin Mahsa Alimardani erklärt, was es mit der digitalen Abschottung auf sich hat.

Ein Interview von Solmaz Khorsand, 22.11.2019

Teilen7 Beiträge7

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

80 Millionen Menschen ohne Internet. So sieht seit Samstag die Realität im Iran aus. Nach Protesten, die vergangenen Freitag begonnen hatten, kam es zu schweren Zusammen­stössen zwischen Demonstranten und Sicherheits­kräften in mehreren iranischen Städten. Ausgelöst wurden die Unruhen durch die drastische Erhöhung der Benzin­preise. Irans Präsident Hassan Rohani hatte das Benzin nicht nur rationieren lassen, sondern die Preise auch um das Dreifache heraufgesetzt.

Laut Amnesty International kamen bis jetzt mehr als 100 Menschen ums Leben, die Regierung spricht von einem knappen Dutzend. Aufgrund der Internet­sperre können beide Angaben nicht verifiziert werden. «Das Internet wird erst wieder eingeschaltet, wenn die Sicherheit im Land auch wieder voll und ganz hergestellt ist», sagte ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats am Mittwoch der iranischen Nachrichten­agentur Isna. Bis auf weiteres bleibt der Iran damit digital abgeschottet.

Die iranisch-kanadische Internet­expertin Mahsa Alimardani forscht an der Universität Oxford zur Informations­freiheit im Iran, sie gibt Einblicke in die iranische Internetautarkie.

Frau Alimardani, wie kann man sich das vorstellen, dass ein ganzes Land vom Internet abgeschottet ist? Zynisch gesagt: Der Iran ist auf Digital Detox. Funktioniert da noch etwas?
Doch, doch. Wenn ich mit Freunden und Verwandten aus dem Iran telefoniere, erzählen sie mir, dass es sich teilweise so anfühlt wie in den 1990er-Jahren, als sie noch kein Internet hatten; aber doch auch wie 2019, weil viele Dinge doch wieder funktionieren, etwa das E-Banking, das bis auf ein paar technische Schwierigkeiten nach ein paar Tagen wieder intakt war. Es läuft bloss nicht über die inter­nationale Infra­struktur, sondern über das nationale Internet.

Das National Information Network (NIN) oder – wie es die iranische Regierung nennt – das «Halal-Internet», an dem die iranische Regierung seit fast zehn Jahren arbeitet, ermöglicht die absolute Abschottung, ohne die iranische Ökonomie vollkommen brachzulegen.
Organisationen wie NetBlocks und The Internet Society schätzen, dass der Iran jeden Tag fast 61 Millionen Dollar wegen der derzeitigen Internet­sperre verliert. Aber das nationale Internet federt die Ausfälle durch die komplette Abschottung ab. E-Commerce, die Abwicklung finanzieller Dienst­leistungen oder auch die digitale Infra­struktur im Gesundheits­wesen funktionieren. Seit 2005 hat die Regierung diese Idee, eine nationale Internet-Infrastruktur aufzubauen. 2010 wurde konkret damit begonnen, unmittelbar nach den Ausschreitungen nach der Präsidentschafts­wahl 2009.

Die Ausschreitungen damals wurden auch als «Twitter-Revolution» bezeichnet, weil Regime­gegner die Proteste über soziale Netzwerke organisierten und sie auch dort für die ganze Welt dokumentierten. Etwa den Tod der Studentin Neda Agha-Soltan.
Die iranische Regierung sah das Internet immer schon als eine Bedrohung an, die Proteste 2009 veranschaulichten ihr, warum. Das hat den Iran veranlasst, möglichst schnell am Ausbau der nationalen Infra­struktur zu arbeiten. Aber ich denke nicht, dass die Regierung vorher­gesehen hat, dass sie jetzt dermassen intensiv zum Einsatz kommt. Man hat sich generell vorbereitet auf einen Tag X, wenn Proteste als zu bedrohlich wahrgenommen werden.

2009 hatten nur 15 Prozent der iranischen Bevölkerung Internet­zugang, heute sind es laut Weltbank 70 Prozent. Obwohl viele Seiten wie Facebook und Twitter von der Regierung blockiert werden, haben Iraner Wege gefunden, diese Filter mit VPN-Software zu umgehen. Finden sie dieses Mal wieder einen Weg, die Sperre zu umgehen?
Es gibt einige, die noch immer an das internationale Netz angeschlossen sind, der Traffic liegt derzeit auf einem Niveau von zwischen 5 und 10 Prozent der üblichen Werte. Generell sind Iraner sehr technikaffine Menschen, geübt durch das jahrzehntelange Katz-und-Maus-Spiel. Sie haben gelernt, Wege zu finden, um frei zu kommunizieren. Nirgendwo anders gibt es so viele ältere Männer und Frauen, die nicht zur «Internet­generation» zählen und trotzdem wissen, wie man einen VPN-Zugang und eine sichere Verbindung herstellt. Im Iran werden sie gezwungen, so etwas zu können. Auch jetzt sind einige Menschen online – aber es wäre nicht gut, hier zu sagen, wie sie das konkret machen.

Die nationale Infrastruktur ist eine Sache, die nationalen Plattformen eine andere. Seit Jahren bietet der Iran Alternativen zu internationalen Service­leistungen an: etwa Digikala, das iranische Amazon; Snapp, das Pendant zu Uber; oder die Kommunikations-App Soroush, die als regimetreue Version zu Telegram entwickelt wurde, nachdem Telegram während der Proteste 2017/2018 stark zum Einsatz gekommen war. Werden diese Alternativen genutzt?
Gemäss meinen Recherchen hat Soroush beispiels­weise nicht funktioniert. Die Leute vertrauen diesem Dienst nicht. Sie wissen, dass sie abgehört werden und dass die Regierung alles registriert.

Experten wie der iranische Internetexperte Amir Rashidi prognostizieren, dass sich das ändern und die aktuelle Internet­sperre die Iraner zwingen könnte, nun auf die nationalen Angebote zurückzugreifen.
Das kann schon sein. Wenn es hart auf hart kommt und dieses Blackout andauert, wäre es möglich, dass die Iranerinnen zu diesem Schritt gezwungen würden.

Sie wirken skeptisch.
Ich habe vergangenen Samstag noch mit meiner Cousine telefoniert, die mir erzählt hat, wie in Teheran durch die Verkehrsinfo-App Waze ein Autoprotest organisiert wird. Als das Internet abgedreht war, war natürlich auch Waze nicht mehr abrufbar. Ein paar Tage später hat mir ein Bekannter das Bild einer grossen Werbe­tafel auf der Teheraner Autobahn geschickt, wo für ein iranisches Waze-Pendant, Balad, geworben wird. Natürlich wird keiner Balad nutzen, um einen Protest zu organisieren, weil jeder weiss, dass man damit abgehört wird. Im Iran macht man sich nur lustig über solche Angebote. Das ist vielleicht der Unterschied zwischen dem Iran und anderen Systemen wie beispiels­weise China.

Wie meinen Sie das genau?
China war sehr erfolgreich darin, seine Bürgerinnen dazu zu bringen, die eigenen nationalen Platt­formen nutzen. Der Iran ist darin gescheitert. Dafür kann es zwei Gründe geben. Einerseits könnte es an der mangelnden Qualität der angebotenen Technologie liegen, andererseits aber auch an der Tatsache, dass die iranische Bevölkerung der eigenen Regierung nicht traut. Alles, was mit ihr in Verbindung gebracht wird, ist den Menschen suspekt. Wenn Leute daher eine Werbetafel für eine nationale App wie Balad sehen, beginnen sie nur zu lachen.

Kann man ahnen, wie lange die Regierung an der Internet­sperre festhält?
Die Regierung betont, dass sie es wieder einschaltet, wenn sich die Menschen «richtig» verhalten und aufhören zu protestieren. Aber es scheint noch eine Weile anzuhalten.

Auf internationaler Bühne hat man Solidarität mit dem Iran bekundet, unter anderem US-Aussen­minister Mike Pompeo. Wie ernst kann man so etwas nehmen? Wird es digitale Schützen­hilfe geben?
Die Amerikaner haben genug angerichtet. Sie sollen sich bloss raushalten. Punkt!

Zur Person

zvg

Die iranisch-kanadische Politik­wissenschafterin Mahsa Alimardani forscht zum Thema Informations­freiheit im Iran. Derzeit finalisiert sie an der Oxford University ihre Doktor­arbeit über die Nutzung von Kommunikations­diensten wie Telegram und Soroush als Mobilisierungs­plattformen politischer Proteste im Iran. Ausserdem arbeitet sie als Iran-Beauftragte für die britische Menschenrechts­organisation Article 19.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: