Ein irrer Abgesang auf den amerikanischen Traum
Von Alfred Schlienger, 29.10.2019
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Es gibt mindestens drei gute Gründe, warum man auf die Premiere von «Früchte des Zorns» am Schauspielhaus Zürich gespannt sein konnte (und einige mehr, warum es sich lohnt, die Produktion anzuschauen):
John Steinbecks 500-Seiten-Roman von 1939 ist ein wuchtiger Jahrhundertstoff, eine Urgeschichte der Migration, die vielerlei Früchte hervorbrachte. Bereits ein Jahr nach Erscheinen wurde das Buch von John Ford hochkarätig verfilmt (Oscarnomination für Henry Fonda als Tom, Regie-Oscar für Ford); im gleichen Jahr kam der Pulitzerpreis und 1962 der Nobelpreis für Steinbeck hinzu. Bruce Springsteen widmete dem anklagenden Gestus des sozialkritischen Romans seinen eindringlichen Song «The Ghost of Tom Joad» vom gleichnamigen Album. In Kalifornien wurde der Roman sofort als aufrührerisch eingestuft, verboten und verbrannt.
Regisseur Christopher Rüping ist der Theatermann der Stunde: Er hat letztes Jahr an den Münchner Kammerspielen den zehnstündigen Theaterrausch «Dionysos Stadt» auf die Bühne gewuchtet. Sein Antiken-Marathon wurde flugs ans Berliner Theatertreffen eingeladen und von der Fachzeitschrift «Theater heute» zur Inszenierung des Jahres, Rüping zum Regisseur, Protagonist Nils Kahnwald zum Schauspieler des Jahres gekürt. Mehr Theaterehre innerhalb eines Jahres geht gar nicht.
«Früchte des Zorns» ist nach dem Eröffnungsfestival der neuen Intendanz nun die erste Produktion, die mit der frischen Truppe in Zürich erarbeitet wurde. Mit dabei auch das grandiose schauspielerische Kernteam aus «Dionysos Stadt» mit Maja Beckmann, Nils Kahnwald und Wiebke Mollenhauer. Hier lässt sich ein erstes Mal überprüfen, ob die Truppe in Zürich angekommen ist und wie sie den alten Stoff neu erzählt.
So viel Erwartungsdruck könnte auch lähmen. Nichts davon im Zürcher Pfauen. Genauer: Wo Lähmung aufscheint, gehört das zum Konzept.
Rüping macht eine scharfe Trennung zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Er nimmt nicht das Elend dieser Migrationsgeschichte in den Fokus, sondern unseren Blick darauf. Steinbecks parabelhafte Fabel der verarmten Farmer-Grossfamilie Joad, die sich so verzweifelt wie hoffnungsvoll ins gelobte Land Kalifornien durchschlägt, lässt er von einer grellen heutigen Gucci-Gang neu aufmischen. Sie beherrscht die Bühne schon beim Einlass, sie bestimmt, wer das Wort bekommt und wem es wieder entzogen wird. Sie spricht die Erzählpartien ins Mikro, reisst bei Bedarf selbst Rollenteile der Joad-Familie an sich und wirbelt das Ganze zu einer Roadshow auf mit trendigen Rhythmen, Loredana-Rap und sweeten Radiosongs (Gesang Kotoe Karasawa). Kurz: Sie führt die Wirtschaftsflüchtlinge für uns vor – am zynischsten beim Elendsreporter im Auffanglager (Steven Sowah). «Sag das noch mal», meint er zur hier gestrandeten Mutter, «aber ein bisschen trauriger.»
Im Leben wie im Spiel sind diese Joads von A bis Z fremdbestimmt – und beengt wie in einem Korsett. Aber ihre Figuren vibrieren auf der Bühne. Sie möchten mehr, sie dürfen nicht. Ihre Kraft liegt in den spartanisch kleinen Gesten. Und wenn etwas ausbricht, gibts gleich Tote.
Schon optisch ist das Ensemble streng geteilt: in das schlichte Einheitsblau der Farmerfamilie und den bunten Label-Fetisch-Mix der pfauenhaften Gucci-Gang, die den Takt vorgibt (Kostüme Lene Schwind). Das Sehnsuchtsland Kalifornien ist mit aufblasbaren Riesenkakteen und Orangenbäumen garniert (Bühne: Jonathan Mertz). Alles Luft.
Weder luftig noch lustig sind die Reaktionen der Ansässigen auf die fremden Ankömmlinge. Es sind die Archetypen der Fremdenangst, deren sich auch heute die Rechtspopulisten aller Länder bedienen. Den Gegenpunkt markiert der abgefallene Prediger Jim Casy (Benjamin Lillie), der Tom (Nils Kahnwald) zum Widerstand aufruft: «Deine Not ist das Abfallprodukt von Menschen ohne Not.»
Es gibt keinen Ausweg: Wir sind mitgemeint.
Dieser irre Abgesang auf den (nicht nur) amerikanischen Traum kann kein Rausch sein. Er bietet kluge Ernüchterung. Er spricht mehr das Hirn als das Herz an.
Und doch. Nachdem der Prediger eben noch verkündet hat: «Trost ist Gift, Hoffnung ist Gift», versucht es die Regie nochmals anders und bietet Rose (Nadège Kanku), die gerade ein totes Kind geboren hat, einen esoterisch grundierten Fremdtext zur Reinkarnation an, die Kurzgeschichte «Das Ei» von Andy Weir (im Netz millionenfach geteilt). Wäre das was?
In einem Akt singulärer Souveränität weist Rose diesen Ausweg von sich, tritt, still ermuntert von ihrer Mutter (Maja Beckmann), an die Rampe und spricht schlicht und ergreifend das wirkliche Ende dieses grossen Romans. Als sie in einer verfallenen Hütte Unterschlupf suchen, stossen sie auf einen alten Mann, der am Verhungern ist. Rose, die durch die Totgeburt eben das tiefste Elend durchschritten hat, bietet dem Sterbenden ihre Brust an.
Die Szene machte damals Skandal. John Ford verzichtete in seiner Verfilmung auf sie. Dabei fliesst hier alles zusammen. Herz und Hirn. Elend und Mitmenschlichkeit.
Solidarität ist keine Geschmackssache. Solidarität ist eine Entscheidung.
«Früchte des Zorns» am Schauspielhaus Zürich. Hier finden Sie alle Informationen.
Alfred Schlienger, ehemaliger Dozent für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, ist Theater- und Filmkritiker sowie Mitgründer der Bürgerplattform «Rettet Basel!». Er schreibt regelmässig für die Republik. Letzte Buchveröffentlichung: «Forever Young. Junges Theater zwischen Traum und Revolte». Christoph-Merian-Verlag, Basel 2017.