33 Fragen

Die Angst vor Flüchtlingen entschädigen – ist das liberale Migrations­politik?

Von Andrea Arežina und Urs Bruderer, 29.07.2019

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1 – Herr Schlegel, Sie stehen für eine liberale Migrationspolitik. Heisst das, dass kommen kann, wer will?
Das wäre Laisser-faire-Politik. Ich orientiere mich an liberalen Grundwerten. Ziel und Zweck der Politik ist für mich die Autonomie des Einzelnen über sein Leben. Und nicht – zum Beispiel – die nationale Homogenität. Migration ist eine zwar riskante, aber potenziell sehr nützliche Tätigkeit wie internationaler Handel. Sie sollte darum grundsätzlich erlaubt sein und nur ausnahmsweise verboten.

33 Fragen

Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer bewegen auch diesen Sommer die Gemüter. Was könnten Lösungen sein? Stefan Schlegel (36) forschte am Max-Planck-Institut zu Migrationsrecht und arbeitet heute als Oberassistent für öffentliches Recht an der Universität Bern. Er ist Mitgründer der Operation Libero und Nationalrats­kandidat für die Grünliberale Partei (GLP).

2 – Migration als Chance, das tönt gut. Aber faktisch ist Migration ein grosser Stress. Für die Migrierenden, denen eine Heimat lieber wäre als der Aufbruch in ein neues Land. Und für die Gesellschaften, die sich von der Migration bedroht fühlen. Was ist damit?
Mit diesen Nebeneffekten muss man sich befassen. Migration führt nicht für jeden Einzelnen zu einem Gewinn, aber insgesamt für die Gesellschaft. Daher müssen wir wegkommen von der Frage, wie wir den Geist wieder in die Flasche und die Migration wieder unter staatliche Kontrolle bekommen. Und die interessantere Frage beantworten, wie die Gewinner der Migration die Verlierer entschädigen könnten.

3 – Wie?
Sodass unter dem Strich beide zufrieden sind. Es geht um Schlecht­qualifizierte in Hilfsarbeiter­tätigkeiten, der Reinigung, zum Teil in der Pflege. In diesen in der Schweiz eher kleinen Branchen führt Migration zu zusätzlichem Druck. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir diese Leute entschädigen. Und dafür müssen wir Aufstiegs­chancen schaffen für Leute, die hierzulande in einer tiefen sozialen Schicht aufwachsen.

4 – Haben wir das nicht längst gemacht? Gereinigt wird die Schweiz von Ausländerinnen und Ausländern. Die Schweizer haben die besseren Jobs.
Das stimmt. Der Verdrängungs­effekt auf dem Arbeitsmarkt durch Migration wird überschätzt. Aber es gibt auch andere Verlierer, die man entschädigen müsste. Wenn der frühere FDP-Präsident Philipp Müller sagt, er fühle sich nicht mehr wohl in Aarau am Bahnhof, wenn da Asylsuchende in Gruppen herumsitzen, dann sind das Kosten, die man ernst nehmen muss, auch wenn man die ethische Haltung dahinter für problematisch hält. Auch in solchen Fällen stellt sich die Frage, wie man diesen Verlust an Identität oder Heimatgefühl entschädigen kann.

5 – Konkret: Wie viel soll die Angst vor Asylsuchenden kosten?
Den Betrag, den Leute wie Philipp Müller nennen würden, wenn man sie fragen würde, was sie dafür bezahlen würden, dass die Asylsuchenden nicht mehr am Bahnhof herumsitzen. Das ist der Wert des Verlustes, den sie wegen der Migration empfinden.

6 – Kein Nationalist oder echter Patriot wird sich auf diese Rechnung einlassen. Für ihn ist die Schweiz unbezahlbar, eine Raison d’être. Kann man die ökonomisieren?
Die Personenfreizügigkeit mit der EU ist das beste Beispiel dafür, dass die Bevölkerung bereit ist, auch auf diesem Gebiet zu rechnen. Sie akzeptiert die Öffnung des Schweizer Arbeits­marktes für EU-Bürgerinnen und Bürger, weil sie im Gegenzug den wirtschaftlichen Vorteil des Marktzugangs erhält.

7 – Wir sollen die Kontrolle darüber aufgeben, wie viele Leute in die Schweiz einwandern?
Kontingente sind ein Instrument der sozialistischen Planwirtschaft und in einer liberalen Migrations­politik undenkbar. Heute ist eine Aufenthalts­bewilligung für jemanden aus einem Drittstaat eine Ausnahme­bewilligung. Er muss ein unersetzlicher Spezialist sein, nur dann ist er in der Schweiz willkommen. Liberal ist das nicht. Liberal wäre zu sagen, dass die Leute kommen dürfen, deren Migration ein überschaubares Risiko darstellt. Das wären Leute, die zum Beispiel einen Arbeits­vertrag oder eine gute Ausbildung haben oder über ein Vermögen verfügen. Und der Staat hätte nicht mehr das Recht, Migration einfach so abzuwehren.

8 – Liberale Migrationspolitik ist also nicht Laisser-faire, sondern freies Spiel auf dem Markt?
Richtig. Und das schliesst eine soziale Marktwirtschaft nicht aus. Jetzt leben wir in einer Planwirtschaft, wo der Faktor Arbeitskraft bürokratisch zugeteilt wird. Es profitiert, wer sich mit der Bürokratie am besten arrangieren kann. Das andere Extrem wäre, dass nur noch der Markt entscheidet. In der Mitte wäre die soziale Marktwirtschaft, die die Eckpunkte des Marktes definiert, Massnahmen gegen Dumping­löhne, für gerechte Arbeits­bedingungen und so weiter. Wer diese Eckpunkte nicht gefährdet, der darf grundsätzlich migrieren.

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