Am Gericht

Die Dolmetscherin

Zwei Dominikaner sollen in der Schweiz mit Kokain gehandelt haben – und spielen ihre Mitwirkung herunter. Dass sie vor Gericht verstanden werden, verdanken sie Brigitte Weber. Die Dolmetscherin übt eine zentrale Rolle aus. Ohne sie wäre ein fairer Prozess nicht möglich.

Von Brigitte Hürlimann, 17.07.2019

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Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 11. Juli 2019, 8.15 Uhr
Fall-Nr.: DG190123/DG190124
Thema: Qualifizierte Wider­handlungen gegen das Betäubungs­mittel­gesetz etc.

«Es kommt immer anders, als man es sich vorstellt.»

Brigitte Weber verlässt das Gerichts­gebäude, es ist 19 Uhr, und sie hat den beiden soeben Verurteilten höflich den Vortritt gelassen. Sie wartet, bis die Männer wieder an den Händen gefesselt und von der Polizei durch die Sicherheits­schleuse eskortiert werden. Direkt vor dem Eingang steht ein unauffälliger, weisser Lieferwagen. Die zwei Dominikaner, die Vater und Sohn sein könnten, müssen zurück ins Gefängnis. Sie sind konsterniert. Elf Stunden lang waren sie voller Hoffnungen. Doch auch für sie ist es anders herausgekommen, als sie es sich vorgestellt hatten.

Nach einem langen, anstrengenden Prozesstag mit wenig Pausen und immer weniger Sauerstoff im Raum werden die beiden Männer wegen Drogen­verbrechen zu Freiheits­strafen und Bussen verurteilt. Und sie werden für sieben beziehungsweise zehn Jahre des Landes verwiesen. Die Männer sollen an der Einfuhr von fast einem Kilogramm Kokain mit einem Reinheits­gehalt von fast hundert Prozent beteiligt gewesen sein. Staatsanwalt Christian Meier fordert für die beiden mehrjährige Freiheits­strafen. Das Bezirksgericht Zürich urteilt etwas milder, denn es erachtet nicht alle Vorwürfe als erwiesen – bei den angeklagten Geld­transaktionen kommt es zur Verfahrenseinstellung.

Der jüngere, einschlägig vorbestrafte Mann kassiert eine unbedingte Freiheitsstrafe von 40 Monaten, der ältere, bisher unbescholtene Landsmann eine teilbedingte Strafe von 36 Monaten. Davon muss er 14 Monate absitzen, die restliche Strafe wird bei einer Probezeit von zwei Jahren bedingt aufgeschoben. Weil die Männer schon fast ein Jahr in Haft sind, darf der Ältere das Gefängnis bald verlassen – und die Schweiz ebenfalls.

Simultan und im Flüsterton

Den Urteilsspruch haben die beiden nur dank der Gerichts­dolmetscherin verstanden. Brigitte Weber übersetzt Satz für Satz das Verdikt, von der Freiheits­strafe bis zum Landes­verweis, den Beschlag­nahmungen, Gerichts­kosten bis zur Fortsetzung der Sicherheits­haft oder des vorzeitigen Straf­vollzugs. Als der Gerichts­vorsitzende Thomas Kläusli seinen Entscheid kurz mündlich begründet, setzt sich die Dolmetscherin auf sein Geheiss hin zwischen die beiden Männer. Sie übersetzt simultan und im Flüsterton vom Schweizer­deutschen ins Spanische. Eine nicht alltägliche Situation für Brigitte Weber.

Die beiden Männer hören ihr konzentriert zu und lassen die Köpfe immer tiefer hängen; der Jüngere stöhnt auf, vergräbt sein Gesicht in beiden Händen: «Dios mio!» Die Dolmetscherin sitzt Schulter an Schulter zwischen ihnen, sie ist die Überbringerin der schlechten Nachricht. Die unmittelbare körperliche Nähe zu den Beschuldigten und das Simultan­übersetzen passen eigentlich nicht zu ihrem Berufsverständnis.

Aber eben: Es kommt immer anders. Und es ist nicht die einzige Besonderheit bei diesem Einsatz am Bezirks­gericht Zürich. Doch die 58-Jährige ist derart routiniert, dass sie auch mit solchen Situationen klarkommt – und ihre Rolle keine Sekunde lang vergisst.

Keine Vertraute

«Distanz», sagt sie, «ist enorm wichtig. Ich bin keine Vertraute der Beschuldigten und fürs Simultan­übersetzen eigentlich nicht ausgebildet. Aber der Gerichts­vorsitzende wollte die Verhandlung vermutlich nicht noch mehr in die Länge ziehen. Das verstehe ich, alle waren erschöpft. Darum habe ich mitgemacht. Ausnahmsweise.»

Die Urteils­eröffnung findet in einem anderen Gebäude und in einem deutlich kleineren Saal statt als der Prozess. Der Grund für die Verschiebung ist das jährliche Sommer­fest des Bezirks­gerichts Zürich, das im Innenhof des Haupt­gebäudes stattfindet und am frühen Abend beginnt. Thomas Kläusli befürchtet, dass man vor lauter Musik und Festtrubel im Gerichts­saal die eigenen Worte nicht mehr versteht. Also wird kurzerhand disloziert. Jetzt sind es die Polizisten, die aufstöhnen.

Brigitte Weber hingegen ist froh um den Entscheid. Die Vorstellung, dass sie beim Dolmetschen brüllen oder ständig nachfragen muss, weil sie die Ausführungen akustisch nicht versteht, ist ihr ein Gräuel. Sie hat in Deutschland, Spanien und Portugal romanische Philologie studiert. Sie lebt seit den späten 1980er-Jahren in der Schweiz und ist seither als Behörden- und Gerichts­dolmetscherin sowie als Übersetzerin tätig, in verschiedenen deutschsprachigen Kantonen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil jeder Kanton wieder andere Voraussetzungen fürs Gerichts­dolmetschen kennt: mehr oder weniger strenge, mit den unterschiedlichsten Anforderungen und Honorierungen – ganz nach guter, alter, föderalistischer Art. Ein Albtraum für die Dolmetscherinnen und Übersetzer.

Begehrtes Zürcher Verzeichnis

Der Kanton Zürich nimmt in Sachen Gerichts- und Behörden­dolmetschen eine Pionier­rolle ein. Man habe schon früh erkannt, sagt Tanja Huber, wie wichtig korrektes, professionelles Dolmetschen sei. Huber leitet die Fachgruppe und die Zentralstelle für die Sprach­dienstleistungen; Letztere ist dem Obergericht angegliedert. Seit dem 1. Juli ist im Kanton Zürich eine neue Verordnung in Kraft: Sie regelt das Dolmetschen, Übersetzen und die Sprach­mittlung bei der Kommunikations­überwachung. Was fürs Dolmetschen schon lange gilt, wird neu auch für die beiden anderen Bereiche eingeführt: das Erfordernis von Fachkursen und bestandenen Prüfungen für alle, die in diesen Bereichen für die Behörden tätig sein wollen.

Wer die Anforderungen erfüllt, wird im Kanton Zürich akkreditiert und profitiert von einem höheren Stunden­ansatz. Die Akkreditierung kann auch wieder entzogen werden, vorsorglich oder endgültig. Es komme pro Jahr zu rund zwei Dutzend negativen Rück­meldungen der Auftrag­geber, sagt Tanja Huber. Das ist angesichts von jährlich gut 26’000 Dolmetscher­einsätzen im Kanton Zürich wenig. Häufig betreffen die Reklamationen das falsch verstandene Rollen­verständnis – und nicht die Sprachkenntnisse.

Mit seinen Partner­kantonen pflegt Zürich einen regen Austausch. Man kooperiert bei der Ausbildung oder der Vermittlung von Sprach­dienstleistern. Der Kanton Zürich hat interkantonale Zulassungs­kurse fürs Behörden- und Gerichts­dolmetschen initiiert. Und ja: Das aufwendig bewirtschaftete Zürcher Verzeichnis ist schweizweit äusserst begehrt.

Stand heute sind dort 550 Frauen und Männer aufgeführt, die 110 Sprachen vertreten: von Französisch und Dänisch bis Hoch­arabisch oder Swahili. Der Kanton Zürich gab letztes Jahr für Sprach­dienstleistungen 8,2 Millionen Franken aus; rund ein Drittel davon für den Bereich Kommunikations­überwachung.

Im Gesetz verankert

Brigitte Weber übersetzt und dolmetscht Spanisch und Portugiesisch und ist Gründungs­mitglied des Berufs­verbands juslingua.ch. Die Kommunikation mit den beiden Kokain­händlern aus der Dominikanischen Republik klappt reibungslos, was die beiden Männer vor Gericht auch bestätigen. Versteht die Dolmetscherin die Ausführungen nicht haargenau oder ist der Redefluss zu lang, fragt sie nach oder bittet um einen Unterbruch. Weber sitzt vorne auf dem Richter­podest, am äusseren rechten Rand. So hat sie den fragenden Gerichts­vorsitzenden, die beiden antwortenden Männer, aber auch die Verteidiger und den Staatsanwalt im Blickwinkel – und alle auf Distanz. «Eine ideale Ausgangslage für gutes Arbeiten», sagt Weber.

Die neutrale Rolle im Gerichtssaal zu verstehen und korrekt auszuüben, ist ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung ihrer Berufs­kolleginnen, an der sie sich als Referentin beteiligt. Professionelles Dolmetschen ist eine zwingende Voraussetzung für einen fairen Prozess. Der Anspruch aufs Dolmetschen und Übersetzen wird deshalb sowohl in der hiesigen Gesetz­gebung als auch in der Europäischen Menschenrechts­konvention erwähnt.

Und jeder Richter macht jede Gerichts­dolmetscherin zu Beginn der Verhandlung auf deren gesetzliche Verpflichtungen aufmerksam: Es ist wahrheitsgetreu zu übersetzen und das Amts­geheimnis zu wahren. Wer die gesetzlichen Auflagen verletzt, riskiert eine mehrjährige Freiheitsstrafe.

Am Prozess gegen die Kokain­händler führt der Anspruch aufs Dolmetschen und Übersetzen gleich mehrfach zu Diskussionen. Zu Beginn der Verhandlung gibt es Unsicherheiten darüber, ob beiden Beschuldigten die Anklage­schrift übersetzt worden war, ob sie also wissen, was ihnen vorgeworfen wird. Hätte einer von ihnen die Frage verneint, hätte Brigitte Weber im Gerichts­saal die Anklageschrift mündlich auf Spanisch übersetzt: «Was für mich kein Problem gewesen wäre», sagt die Dolmetscherin.

Später kommt es zu einem Antrag vonseiten der Verteidigung, weil dem jüngeren, vorbestraften Beschuldigten zwei Strafbefehle zwar per Post zugestellt, aber nicht übersetzt worden waren. «Damit können die damals bedingt ausgesprochenen Strafen nicht widerrufen werden, wie es der Staatsanwalt verlangt», sagt Verteidiger Dominik Ott. Und tatsächlich: Das Gericht ordnet an, dass die Probezeiten der beiden Strafbefehle um je ein Jahr verlängert werden. Ein Widerruf hätte bedeutet, dass die Geldstrafen bezahlt werden müssen.

Zentral und doch diskret

Dominik Otts Mandant verliest am Ende der Verhandlung, bevor sich das dreiköpfige Gerichts­gremium zur geheimen Urteils­beratung zurückzieht, ein handschriftlich verfasstes Schlusswort: «Werter Herr Richter, der Anklage fehlt die Grundlage, die ganze Geschichte hat weder Hand noch Fuss. Ich sage die Wahrheit. Ich hatte Angst vor Repressionen der Hinter­männer, nur darum habe ich beim Staatsanwalt ein Geständnis abgelegt. Mein Kollege ist vollständig unschuldig. Ich bitte Sie um Entschuldigung für die Fehler, die ich gemacht habe. Die Zeit im Gefängnis war schrecklich.»

Nach jedem Satz macht der 26-Jährige eine Pause und blickt zu Brigitte Weber hinüber, wartet, bis sie seine Worte auf Deutsch übersetzt hat, und spricht dann weiter. Der Beschuldigte habe sich sehr professionell verhalten, attestiert ihm die Dolmetscherin im Nachhinein: «Das ist nicht immer der Fall.»

Den beiden Verurteilten wird nicht in erster Linie die Dolmetscherin in den Sinn kommen, wenn sie über den Prozess nachdenken. Und das ist gut so. Das heisst, dass Brigitte Weber ihrer Rolle gerecht wurde. Sie hat neutral und zur Zufriedenheit aller übersetzt. Sie war zentral – und doch diskret. Und sie hat sich die Anstrengung nicht anmerken lassen.

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