Operation Nabucco

Am Ende steht schon der übernächste Anfang

Von Michael Rüegg, 21.06.2019

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Generalprobe. Kurz vor elf Uhr vormittags, es ist der Donnerstag vor der Premiere. Vor dem Opernhaus Zürich hat sich Publikum versammelt. Die Haarfarbe grau dominiert, was angesichts eines Donnerstag­vormittags wenig überrascht.

Es sind Freunde, Angehörige, Unter­stützerinnen und Pensionäre des Opernhauses. Zusammen mit Mitarbeitern bilden sie die ersten paar hundert Menschen, die den neuen «Nabucco» zu sehen bekommen.

Das Licht im Zuschauer­raum geht aus, Maestro Luisi betritt unter Applaus sein Podest. Das Orchester spielt die Ouvertüre, der rote Bühnen­vorhang öffnet sich, und zu sehen ist der babylonische Hofstaat, der sich wie auf einem Gruppen­foto präsentiert.

«Nabucco» hat begonnen.

Monika Rittershaus

Würde man jetzt durch den kleinen Eingang neben der Bühne schreiten, an den Technikerinnen, Darstellern und Ankleiderinnen vorbei, den langen Gang entlang­gehen und dann die Treppe hoch, wäre man im ersten Stock eines Gebäudes, das seiner Farbe wegen den Spitz­namen «Fleischkäse» trägt. Es ist der Anbau des Opern­hauses. Und in einem Büro, das aussieht, wie Büros eben aussehen, sässe am Schreib­tisch ein Mann namens Adrian Gosteli.

Er hat eine eigene Espresso­maschine im Regal. Die braucht er.

Denn Adrian Gostelis Job besteht darin, tagein, tagaus eine Art drei­dimensionales Tetris zu spielen. Gosteli ist Chef­disponent. Es gibt keine Aufführung, kein Konzert, kein Ballett und schon gar keine Probe, die er nicht – respektive die nicht er – eingeplant hat. Derzeit beschäftigen ihn bereits die Spielzeiten 2022/23 und 2023/24.

Adrian Gostelis Aufgabe ist es, Dinge aneinander vorbei in eine vernünftige Reihen­folge zu bringen und dabei nichts auszulassen. Nicht nur muss die Rechnung aufgehen, wann welche Bühnen frei sind. Sondern auch, wann welche Sängerinnen Zürich beehren, wann die Dirigenten disponibel sind und wie viel Zeit für wen zwischen welchen Proben für Premieren und Wieder­aufnahmen sowie zwischen den Aufführungen verstreichen muss, damit die in den Verträgen ausgemachten Probe­zeiten des Personals eingehalten werden.

Es sind Gleichungen mit einer Vielzahl an Unbekannten, die Adrian Gosteli zu lösen hat.

Dass an diesem 20. Juni 2019 die «Nabucco»-Generalprobe stattfindet, hat er schon vor Jahren festgelegt. Gostelis Kopf, eine gigantische Agenda.

Dabei hat er eigentlich Jus studiert. Und danach bei der Swissair als Flight-Attendant gearbeitet. In einen Disponenten verwandelte sich Gosteli erst, als er die Arbeit in der Luft gegen eine am Stadttheater Bern eingetauscht hat.

Gibt es für Disponenten einen Lehrgang, Herr Gosteli?
Nein, aber wenn ich hier je aufhören sollte, gründe ich einen.

Manchmal nützt auch die beste Planung nichts. Etwa, wenn kurzfristig eine Darstellerin aussteigt – wie im Fall von «Nabucco», als nach Probebeginn plötzlich die vorgesehene Abigaille abspringen musste. Den Ersatz hat in diesem Fall übers Wochenende der Operndirektor aufgetrieben. (Dass er ihn in Anna Smirnova gefunden hat, bezeichnet Gosteli wie alle am Haus als Glücksfall.)

Wenn Intendant, General­musikdirektor und Opern­direktor beschliessen, eines fernen Tages ein Werk auf den Spielplan zu setzen, weiss Adrian Gosteli bereits kurze Zeit später, wie viele Proben es auf der Haupt­bühne geben wird und wann sie stattzufinden haben. Alles, damit das Haus reibungslos funktioniert und die gegen 250 Vorstellungen im Jahr über die Bühne gehen können, inklusive Auf- und Abbauten.

Was, wenn ein Regisseur findet, ein Stück sei noch nicht bühnenreif, es brauche zusätzliche Proben?
Das ist der Unterschied zu einem kleinen Haus. Bei uns muss man nehmen, was man bekommt. Die Bühnenzeit ist äusserst knapp bemessen.

Pro Saison führt das Haus neun Opern-, drei Ballettpremieren, um die 20 Wiederaufnahmen, also insgesamt rund 32 verschiedene Titel im Spielplan, plus Konzerte plus Liederabende auf. Raum für Spontanes bleibt da kaum. Tetris eben. Jedes Förmchen muss in die dafür vorgesehene Öffnung. Gerät ein Plan durcheinander und müssen etwa die Beleuchter kurzfristig eine Nacht­schicht schieben, wird das teuer.

Die Dernière von «Nabucco» wird bereits am kommenden 12. Juli sein, nach nur sieben Aufführungen. Gleich nach der Sommerpause steht schon die Wiederaufnahme an – mit einem praktisch neuen Cast. Danach geht Andreas Homokis Inszenierung erst einmal auf Reisen, wird in Amsterdam und in Madrid gespielt.

Frühestens in der Saison 2022/23 dürfte sich der grosse grüne Monolith wieder in Zürich drehen. Doch noch muss «Nabucco» erst einmal Premiere feiern.

Schlussapplaus. Auf der Bühne verbeugt sich eine Hundertschaft von Sängerinnen und Sängern. Die Gäste der Generalprobe scheinen an der Aufführung Gefallen gefunden zu haben. Der Test mit dem Premieren­publikum steht Sonntag an. Die ersten Kritiken werden in der Woche drauf erscheinen.

Der neue Zürcher «Nabucco» – er ist nicht wie die letzten beiden am Haus. Er ist auch anders als die «Nabuccos», die derzeit in Dresden, München, Berlin oder in Marseilles und Bratislava gespielt werden. Und sicher ist er ganz anders als der neue «Nabucco» in Hamburg, der den syrischen Bürgerkrieg als thematische Grundlage nimmt. Verdis Musik ist dieselbe, aber keine Inszenierung gleicht der anderen.

Über die Jahrzehnte haben die «Nabuccos» dieser Welt nicht nur die Gedankenwelt ihrer Macherinnen und Macher widergespiegelt – sondern auch den herrschenden Zeitgeist.

Inszenierungen sind Werke für sich. Kreiert für eine Partitur und ein Libretto, die unveränderbar sind. Jede einzelne Produktion der letzten anderthalb Jahrhunderte schrieb ein Kapitel in der Geschichte von Giuseppe Verdis wohl bekanntester Oper.

Und jedes Jahr kommen neue Kapitel hinzu.

Das jüngste wird am Sonntag gezeigt, um 19 Uhr. Und wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die zehn Folgen von Operation Nabucco gelesen haben, dann konnten Sie – wenn auch aus einer gewissen Distanz – seine Entstehung ein bisschen mit begleiten.

Serie Ende. Vorhang auf.

Zur Operation Nabucco

Dies ist die letzte von zehn Folgen der Serie Operation Nabucco. Die Premiere von «Nabucco» am Zürcher Opernhaus kann via Internet am Sonntag, 23. Juni, um 19 Uhr live auf Arte Concert mitverfolgt werden. Und hier finden Sie alle erschienenen Beiträge dieser Serie.

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