Streiken während der Arbeit im Hotel? Höchstens eine halbe Stunde. Und das in der Pause. Daniel Pilar/Laif

Wenn Protest die Existenz kosten kann – Alltag einer Putzfrau

Nicht arbeiten am Frauenstreik? Unmöglich. Mit der Chefin über mehr Lohn sprechen? Gefährlich. Marlene Santos kämpft trotzdem für ihre Rechte. So gut es eben geht.

Von Andrea Arezina und Carlos Hanimann, 13.06.2019

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Die Anliegen zu divers, die Forderungen zu banal oder zu unscharf, irgendwie alles zu diffus – so geht die gängige Kritik am Frauen­streik. Der 14. Juni sei eigentlich nur etwas für privilegierte Frauen – Akademikerinnen und Staats­angestellte, die sich über banale Probleme ärgerten.

Nun, Marlene Santos ist keine privilegierte Frau. Sie bezeichnet sich auch nicht als Feministin. Und von #MeToo hat sie nur entfernt gehört.

Marlene Santos ist Putzfrau in einem Luxus­hotel. Und am Frauen­streik will sie sich für ihre Rechte einsetzen.

Am Morgen des 14. Juni wird sie allerdings nicht den Streik vorbereiten, sondern das Frühstück ihrer Kinder. Um fünf Uhr in der Früh steht sie auf, so wie jeden Morgen, und macht den Kindern gemeinsam mit ihrem Mann etwas zu essen. Wenn die Kinder erwachen, sind Santos und ihr Mann längst am Arbeiten: er als Fahrer in einem Linienbus, sie als Reinigungs­frau. Die 15-jährige Tochter betreut die zwei Jüngeren und sieht zu, dass alle rechtzeitig in die Schule kommen.

Santos ist Mitte dreissig, sie stammt aus Südamerika und lebt seit über zehn Jahren in der Schweiz. Zuerst putzte sie privat – und schwarz. Seit einigen Jahren legal. In Wahrheit heisst Marlene Santos anders. Aber sie fürchtet, sie bekäme Probleme bei der Arbeit, stünde an dieser Stelle ihr echter Name.

Santos’ Arbeitsplan ist jeden Tag ein anderer, eine Planung der Freizeit im Voraus so gut wie unmöglich. Nur wenn sie einen unverzichtbaren Termin hat, meldet sie das den Vorgesetzten, damit sie an diesem Tag nicht arbeiten muss. Ansonsten nimmt sie die Tage, wie sie kommen.

Manchmal erhält Santos auf dem Weg zur Arbeit einen Anruf von der Chefin, sie sei für den Tag nicht eingeteilt. Dann kehrt sie wieder um. Manchmal muss sie im Hotel während Stunden warten, bis sie mit dem Putzen beginnen kann – unbezahlt. Die Arbeit im Hotel ist Arbeit auf Abruf.

Es ist also nicht ganz einfach, sich mit Santos zu verabreden. Kurz vor dem vereinbarten Interview­termin ruft sie an und verschiebt das Treffen: Die Chefin hat sie kurzfristig für ein paar Stunden mehr eingeteilt.

Die Sonne steht schon tief, als wir Santos doch noch treffen. Sie kommt mit einer Arbeits­kollegin und einer Gewerkschafts­sekretärin, die den Kontakt zu Santos hergestellt hat. Wir wollten wissen, wie es einer Frau geht, die wenig Gelegenheit hat, sich Gehör zu verschaffen. Wie sie den Alltag meistert. Woher sie vom Frauen­streik erfahren hat. Und wie sie sich daran beteiligt.

Wir setzen uns in eine Ecke im Migros-Restaurant. Santos öffnet eine Colaflasche und zögert kurz, das Getränk ins Glas zu leeren. Sie hält das Glas ins Licht, stupst ihre Kollegin an. Völlig verkalkt. Sie lachen.

Wie viel arbeiten Sie?
In meinem Vertrag steht 80 Prozent. Aber ich arbeite mehr.

Wie viel mehr?
Ich mache mindestens 44. Laut Vertrag arbeite ich 32 Stunden in der Woche.

Werden Ihnen die Überstunden ausbezahlt?
Manchmal. Aber es ist auch schon vorgekommen, dass mich meine Chefin nach Hause geschickt hat wegen der Über­stunden. Dann war ich zwei Wochen zu Hause, und als ich wieder zur Arbeit erschien, sagte sie, sie habe einen Fehler gemacht. Ich hätte gar keine Über­stunden gehabt. Dann war ich im Minus. Das Problem ist: Sie manipulieren manchmal die Zeiterfassung.

Was heisst das?
Wir stempeln zum Beispiel um sieben Uhr ein. Aber das Gerät zeigt an, dass wir erst um acht gekommen seien. Darum kontrolliere ich jeden Tag, ob meine Stunden richtig eingetragen wurden.

Wie viel verdienen Sie?
18.80 Franken auf die Stunde. Brutto.

Wie hoch war Ihr Lohn letzten Monat?
3300 Franken. Aber gearbeitet habe ich weit mehr als 40 Stunden pro Woche.

Sind Sie zufrieden damit?
Nein.

Haben Sie schon einmal mit Ihrer Chefin über einen höheren Lohn geredet?
(Santos lacht.)

Warum lachen Sie?
Ich kann nichts über meine Chefin sagen. Sie ist sehr rachsüchtig.

Was würde die Chefin sagen, wenn Sie 25 Franken verlangten?
Dass sie mir schon erklärt habe, dass der Lohn gesetzlich festgelegt ist: 18.80 Franken – so steht es im GAV.

Was wäre ein gerechter Lohn?
25 Franken pro Stunde wären das Mindeste. 30 Franken wären gerecht. Die Arbeit als Zimmer­mädchen ist hart. Das ist schwere Arbeit.

Was ist das Beste an Ihrem Job?
Nichts. Die Kolleginnen vielleicht. Die sind gut.

Was ist das Schlechteste?
Der Stress. Wir haben viel zu wenig Zeit, um die Zimmer zu reinigen. Fünfzehn Minuten pro Zimmer.

Marlene Santos’ Job: Toiletten putzen, Abfall­eimer leeren, Zimmer staubsaugen, Betten frisch anziehen – alles in fünfzehn Minuten. Häufig ist das an der Grenze zur Unmöglichkeit.

Seit kurzem putzt Santos nicht mehr nur, sie ist zur Gouvernante aufgestiegen. Sie kontrolliert jetzt die Arbeit der Zimmer­mädchen, ist verantwortlich dafür, dass alles in Ordnung ist. Dafür steht sie jeweils um halb sieben uniformiert in den Gängen des Hotels und bereitet Putzmittel, Lappen und Hand­tücher für ihre Kolleginnen vor, die eine halbe Stunde später kommen. Bis dahin ist alles, was Santos erledigt, unbezahlte Arbeit.

Zwölf Stunden ist sie in der Regel auf den Beinen, ehe sie wieder in die S-Bahn steigt und eine knappe Stunde nach Hause fährt. Manchmal kocht sie dann den Kindern das Essen für den nächsten Tag. Manchmal hat ihr Mann das schon erledigt.

Wann haben Sie zuletzt ausgeschlafen?
Das weiss ich nicht.

Was haben Sie letztes Wochen­ende gemacht?
Ich war im Hotel. Und habe gearbeitet.

Wann hatten Sie zum letzten Mal am Wochen­ende frei?
Ich glaube, das war letzten Monat. Ja, da hatte ich einen Samstag frei. Da habe ich geschlafen bis zehn Uhr.

Was bedeutet Ihnen Ihr Job?
Ich erhalte einen Lohn, und den brauche ich für meine Familie.

Würden Sie einen anderen Job wollen?
Neben meinem Job lasse ich mich zur Hotel­fachfrau ausbilden. Ich hoffe, dass mein Leben und das meiner Kinder so etwas besser wird. Aber ich habe nicht viel Zeit für die Ausbildung. Und abends bin ich oft zu müde zum Lernen.

Mögen Sie Hotels?
Ja, die Atmosphäre gefällt mir. Vorher war ich bei McDonald’s und habe privat geputzt. Im Hotel bin ich lieber. Die Leute kommen aus verschiedenen Ländern, reden verschiedene Sprachen. Das mag ich.

Arbeiten auch Männer im Hotel?
Ja, aber nur nachts. Tagsüber sind wir nur Frauen.

Was macht Marlene Santos am 14. Juni? Einigen Frauen wird es dann möglich sein, die Lohnarbeit nieder­zulegen und den Tag wortwörtlich als Streiktag zu begehen. Viele werden einen Freitag einziehen. Und sehr viele Frauen werden – trotz Streik­aufrufen – ganz regulär arbeiten müssen und erst nach Feier­abend an den Kund­gebungen teilnehmen können.

Denn viele Angestellte befinden sich in einer rechtlichen Grauzone: In Branchen mit Gesamt­arbeits­vertrag gilt in der Regel eine Friedens­pflicht. Die Gewerkschaften haben sich verpflichtet, auf Kampf­massnahmen wie Streiks zu verzichten.

In einigen Branchen sind die Arbeits­bedingungen so schlecht, die Abhängigkeit vom Arbeitgeber so gross, dass an Streiken gar nicht zu denken ist. Für Frauen in prekarisierten Jobs steht teilweise die ganze Existenz auf dem Spiel.

So ist es auch im Hotel, in dem Santos arbeitet. Viele Arbeits­kolleginnen fürchten direkte Konsequenzen, wenn sie sich offen für bessere Bedingungen einsetzen. Santos engagiert sich trotzdem in einem Frauenkomitee.

Die Treffen sind ein Austausch unter Gleichen: Die Frauen besprechen alltägliche Probleme im Job, der 14. Juni ist dabei nur ein Thema unter vielen. Gut, dass es den Frauen­streik gibt, aber die wichtigsten Fragen für diese Frauen werden auch danach noch bestehen: Wie kommen sie zu besseren Arbeitsbedingungen?

Für den 14. Juni planen Santos und ihre Kolleginnen eine kleine Protest­aktion. Sie wird nicht für grosses Aufsehen sorgen und die Verhältnisse in ihrem Betrieb ganz sicher nicht umstürzen. «Die Chefin weiss nichts davon», sagt Santos. Und das soll auch so bleiben. Die Aktion wird in der halbstündigen Pause stattfinden. Zu sehr fürchten die Frauen, dass ihnen sonst Nachteile entstehen.

Was planen Sie für den Frauenstreik am 14. Juni?
Eine kleine Aktion im Hotel. Ehrlich gesagt haben wir ein bisschen Angst, aber das ist wohl normal. Wir treffen uns in der Pause und werden dann ein Foto schiessen. Die Chefin weiss aber nichts.

Wie haben Sie vom Frauen­streik erfahren?
Über die Frauen­kampagne der Gewerkschaft Unia.

Was fordern Sie?
Wir wollen mehr Respekt. Uns wird kein Respekt gezeigt. Wirklich nicht. Wir sind Frauen, die den ganzen Tag arbeiten. Die letzten zwei Wochen habe ich immer nur gearbeitet. Ich glaube, ich hatte seit über zehn Tagen nicht mehr frei. Ich bin kaputt. Aber wir hören nie: Danke! Wir hören nie: Guter Job! Und wenn wir nur den kleinsten Fehler machen, dann gibt es ein Riesentheater.

Wie bereiten Sie sich auf den Frauenstreik vor?
Wir haben Vorbereitungs­treffen. Ich glaube, wir hatten etwa drei oder vier Treffen.

Was besprechen Sie dort?
Wir reden über die tiefen Löhne, über fehlenden Respekt. Wir tauschen unsere Erfahrungen aus. Wir haben darüber geredet, wie wir unsere Aktionen organisieren wollen. Wir arbeiten ja zum Teil im Schicht­betrieb. Da haben wir uns gefragt, wie wir noch mehr Kolleginnen überzeugen können, mitzumachen.

Wie viele machen mit?
Wir sind jetzt neun Frauen, die Hälfte.

Wie haben Sie die überzeugt?
Ich habe mit Ihnen geredet, sie gebeten mitzumachen. Und ein bisschen Druck gemacht.

Wie das?
Im Gespräch. Ich habe den anderen gesagt, dass die Unia zwar viel für uns macht. Aber dass wir eben auch selbst aktiv werden müssen. Viele Frauen haben aber Angst. Eine ältere Kollegin zum Beispiel hat gesagt: Für sie wäre es schwierig, einen neuen Job zu finden, wenn sie entlassen würde. Sie könne wirklich nicht mitmachen.

Und Sie? Warum machen Sie mit?
Natürlich bin ich jeden Abend müde. Aber es gibt mir ein gutes Gefühl, mit den anderen zu sein. Es zeigt mir, dass ich nicht allein bin. Das ist eine gute Erfahrung. Der Austausch tut uns allen gut.

Bezeichnen Sie sich als Feministin?
Nein, ich glaube nicht.

Warum nicht?
Ich denke, eine Feministin ist eine Frau, die ständig protestiert. Auch gegen die Männer. Ich bin nicht so. Ich will, dass es für meine Kolleginnen und mich besser wird. Aber ich denke nicht, dass ich deswegen eine Feministin bin.

Aber Sie protestieren ja auch.
Klar, aber für mich hat der Protest eine andere Bedeutung. Wir brauchen auch die Männer dabei.

Was macht Sie als Frau wütend?
Wenn jemand zu mir sagt: Du bist die Frau, du musst die Wohnung putzen. Wieso sollte ich? Männer können das genauso gut wie Frauen. Bei uns zu Hause machen wir das auch so: Beide putzen.

Was muss sich nach dem 14. Juni ändern?
Wir haben heute schlechte Bedingungen bei der Arbeit. Viele Frauen sind bei Temporär­firmen angestellt. Das ist nicht der Fehler der Chefin oder der Firma. Schuld daran ist die Politik. Ich will also mehr Respekt. Weniger Stress. Und einen besseren Lohn.

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