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Vor Gericht sind nicht alle Menschen gleich

Von Brigitte Hürlimann, 10.06.2019

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Ende Januar haben wir über einen ägyptischen Mann berichtet, der sich trotz rechtskräftig abgelehnten Asyl­gesuchs und rechtskräftig verfügter Wegweisung weiterhin in der Schweiz aufhält. Und deshalb immer wieder ins Gefängnis gesteckt wird. Weil er zum Beispiel zum Migrations­amt nach Zürich fährt und damit sein Eingrenzungs­verbot missachtet. Wir haben geschildert, warum dem Mann die Entschädigung für eine Überhaft vom Obergericht des Kantons Zürich halbiert wurde. Für ihn sei ein Gefängnis­aufenthalt nicht gleich schlimm wie für andere, so die Begründung.

Wir haben aufgrund dieses Urteils konstatiert, dass abgewiesene Asyl­bewerber von den Gerichten offenbar als Menschen dritter Klasse behandelt werden.

Oder war dies etwa bloss ein Einzelfall, ein Ausreisser?

Offenbar nicht. Inzwischen liegt ein neues Urteil des Zürcher Obergerichts vor, in dem die Haft­entschädigung für einen jungen, vorläufig aufgenommenen Eritreer ebenfalls gesenkt wird. Allerdings korrigiert das Obergericht die Vorinstanz, die noch deutlich weniger zahlen wollte: eine lächerlich kleine Genugtuung für über einen Monat ungerechtfertigte Untersuchungs­haft.

Der junge Mann, um den es hier geht, lebt in einer Asyl­unterkunft für unbegleitete Jugendliche, als er eines geringfügigen Diebstahls verdächtigt wird. Er soll in einem Kiosk an der Zürcher Goldküste die gefüllte Denner-Stofftasche einer Kundin gestohlen haben.

Der Eritreer ist damals 18 Jahre alt. Er wird festgenommen und kommt in Untersuchungs­haft. Die Staats­anwaltschaft macht Flucht­gefahr geltend. Der Jugendliche sei schon einmal straffällig geworden; er habe jemandem nach einem verbalen Vorgeplänkel die Brille vom Gesicht gezogen und sei damit weggerannt. Wegen des zweiten Delikts, dem vermuteten Diebstahl der Denner­tasche mit einem Inhalt im Wert von 264 Franken, drohe eine mehrmonatige, unbedingte Freiheits­strafe. Der Mann habe während der Probezeit erneut delinquiert.

Raphael Weiss, der Verteidiger des jungen Eritreers, erreicht vor Obergericht die Haft­entlassung seines Mandanten. Eine Fortführung der Haft sei unverhältnismässig, so die III. Straf­kammer. Gut zwei Monate später wird der Beschuldigte vom Bezirks­gericht Meilen von sämtlichen Vorwürfen freigesprochen. Das Gericht hat deshalb über eine Haft­entschädigung zu befinden, und es legt diese auf 30 Franken pro Tag fest. Gemäss Recht­sprechung des Bundes­gerichts beträgt die Genugtuung für eine ungerechtfertigte Inhaftierung grundsätzlich 200 Franken pro Tag: sofern nicht aussergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine höhere oder geringere Entschädigung rechtfertigen.

Das Bezirksgericht Meilen findet, 42 Tage Untersuchungshaft sei «nicht ausserordentlich lang». Und auf die persönliche Situation des Betroffenen habe sich die Haft nicht massiv ausgewirkt. Er habe weder eine Arbeits­stelle verloren, noch sei ihm der direkte Kontakt zur Familie genommen worden. «Die Beeinträchtigung der sozialen Existenz des Beschuldigten war somit weitaus geringer als bei einer Person mit Arbeits­stelle und familiärem Umfeld.» Zudem habe der Eritreer vor der Inhaftierung von sehr wenig Geld leben müssen. Mit anderen Worten: Der Ex-Untersuchungs­häftling, der ohne seine Familie in die Schweiz geflüchtet ist, ist dummerweise auch noch arm. Beides wirkt sich zu seinen Lasten aus, wenn es um die Entschädigung geht.

Und nicht zu vergessen: In die Untersuchungs­haft geriet der Jugendliche wegen des Verdachts, einen geringfügigen Diebstahl begangen zu haben. Ein Verdacht, der sich vor Gericht nicht erhärten liess.

30 Franken Genugtuung pro Tag anstatt 200? Das geht sogar dem Obergericht zu weit. Die II. Strafkammer setzt den Betrag neu auf 125 Franken fest. Und erwähnt, eine ungerechtfertigte Haft bedeute für die betroffene Person «regelmässig einen schweren Eingriff in die persönlichen Rechte». Eine Kürzung der Genugtuung sei im konkreten Fall dennoch zulässig, weil der junge Mann ja nur vorläufig aufgenommen sei, ergo «weder über ein familiäres noch soziales Netz verfügte, aus dem er gerissen werden konnte, und auch keiner geregelten Arbeit nachging (…). In persönlicher Hinsicht hat der Beschuldigte durch die Haft deshalb einen weniger schweren Eingriff erlitten als eine Vergleichs­person, die in hier landes­üblichen Verhältnissen lebt.»

Der Verteidiger hat das Urteil des Obergerichts nicht weitergezogen. Die 125 Franken seien einigermassen akzeptabel, sagt Raphael Weiss. Empörend und unverständlich sei hingegen der Ansatz des Bezirks­gerichts Meilen, was nun korrigiert worden sei: «Eine Genugtuung von bloss 30 Franken pro Tag zuzusprechen, ist rechtsstaatlich unwürdig. Bei solchen Entscheiden entsteht tatsächlich der Eindruck, als ob Flüchtlinge nicht gleichwertige Menschen sind.»

Urteil des Obergerichts SB180361 vom 18. März 2019; Urteil des Bezirksgerichts Meilen GG180019 vom 30. Juli 2018; Beschluss des Obergerichts UB180054 vom 8. Mai 2018 (Entlassung aus der Untersuchungshaft).

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