Internationale Solidarität?

Was kümmert polnische Gewerkschafter das Schweizer Lohnniveau? SGB-Chef Pierre-Yves Maillard sucht am Europäischen Gewerkschaftskongress Verbündete für den Erhalt der flankierenden Massnahmen. Wir waren dabei.

Von Jonas Vogt, 29.05.2019

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«Everybody understands English, but nobody understands England»: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Wien. Robert Jäger/APA/Keystone

Im Publikum der lang gezogenen Messehalle, Reihe 17 halbrechts, sitzt Pierre-Yves Maillard und hört genau zu. Der 51-Jährige hat das Sakko abgelegt, die Füsse sind unterm Tisch ausgestreckt, die Hände vor dem Bauch gefaltet.

Vorne spricht, zur Eröffnung des Kongresses des Europäischen Gewerkschafts­bundes (EGB), der scheidende EU-Kommissions­präsident Jean-Claude Juncker. Er macht seine Sache gut, wechselt fliessend die Sprachen, verweist auf seine Vergangenheit als Arbeitsminister, baut Pointen ein: «Everybody understands English, but nobody understands England.» Doch die Lage ist angespannt. Für die EU, die gerade Wahlen abhält. Für den Bundesrat, der sich auf eine Position zum Rahmen­abkommen einigen muss. Und auch für Pierre-Yves Maillard.

Der Chef des Schweizerischen Gewerkschafts­bundes (SGB) braucht den Support seiner europäischen Kollegen, um sein grosses Ziel zu erfüllen: im Rahmen­abkommen mit der EU die flankierenden Massnahmen zu sichern. Diese wurden beim letzten bilateralen Vertragsupdate vor fünfzehn Jahren begleitend zur Personen­freizügigkeit eingeführt, um die hohen Schweizer Löhne zu schützen. Der EU-Kommission sind sie jedoch ein Dorn im Auge. Sie pocht auf eine Abschwächung, auf einen Ersatz durch EU-Richtlinien.

Kann es den Schweizer Gewerkschaften gelingen, mit ihren Verbündeten aus anderen Ländern genug Druck auf die Kommission aufzubauen? Hält die vereinigte Front gegen Lohndumping, was sich der SGB von ihr verspricht?

Unerwartete EU-Kritik von links

Knapp 600 Delegierte aus ganz Europa haben sich für vier Tage in Wien versammelt. Es ist ein beeindruckender Kongress, mit Stargästen der Linken wie dem portugiesischen Ministerpräsidenten António Costa. Aber auch mit typischen Alltagsszenen – Delegierte überziehen ihre Redezeit, man grüsst alte Bekannte und sammelt an Ständen Kugelschreiber ein.

Offiziell geht es in Wien darum, Aktions­programme zu verabschieden, ein neues Präsidium zu wählen. Aber es geht natürlich auch irgendwie um die ganz grossen Fragen: Wie könnte eine Antwort auf den Rechtspopulismus in Europa ausschauen? Lässt sich ein Kapitalismus, der die Menschen im ungleichen Mass an seinem Wachstum teilhaben lässt, reformieren? Und welche Rolle können Organisationen wie die Gewerkschaften darin spielen?

Wenn es um die ganz grossen Fragen geht, muss man geschickt sein, um mit den vermeintlich kleinen Fragen durchzudringen. Pierre-Yves Maillard steht mit ein paar deutschsprachigen Gewerkschafts­kollegen in der Cafeteria der Messe und erklärt die Schweiz: wo die Diskussion um das Abkommen gerade stehe, warum Kritik dieses Mal nicht nur von rechts, sondern auch von links komme. Es ist sein erster internationaler Auftritt in dieser Funktion. Der Waadtländer mit dem grauen Haarkranz spricht leise und konzentriert.

Die Österreicher und die Deutschen sind aufgrund der geografischen und sprachlichen Nähe wichtige Verbündete im EGB. Die kleine Schweizer Delegation hat dort einen guten Ruf. Auch bei den mächtigen Deutschen, die ja ohnehin eine unerwiderte Liebe zu ihren südlichen Nachbarn haben.

Und doch ist linke Kritik an der EU ein überraschend heikles Thema. Das wird auch in Wien deutlich. Es gibt Seiten, über die sich wunderschön philosophieren lässt. Wenn Juncker sagt, dass alle «wie ein Mann» gegenüber den Rechts­populisten stehen müssten, ist ihm Applaus sicher.

Aber die EU ist eben auch eine markt­wirtschaftliche Institution, die starke und schwache Länder in einem gemeinsamen Markt hält und sie zu Liberalisierungen und Haushalts­disziplin zwingt. Das «soziale Europa» ist, trotz Neuerungen wie Der Europäischen Säule sozialer Rechte, einer rechtlich unverbindlichen Erklärung von 2017 mit zwanzig sozialen Grundsätzen, vielfach noch eine Chimäre. Das ist für Gewerkschafter ein Problem. Und die Vertreter des SGB sind da vielleicht ehrlicher als ihre europäischen Kollegen.

«Für oder gegen die EU zu sein, ist für mich nicht die Frage»: Pierre-Yves Maillard (in seinem Büro in Bern). Gaëtan Bally/Keystone

Für viele Menschen aus EU-Mitgliedsstaaten ist die EU eben auch ein emotionales Projekt. Sie lassen sich in der EU-Flagge ablichten, preisen die EU als Lösung gegen Nationalismus, Krieg und Klein­staaterei an – unabhängig davon, welche konkrete Politik sie gerade macht. Das ist historisch erklärbar, bedarf aber einer gewissen Realitäts­verleugnung. Diese Sichtweise ist Schweizern fremd.

«Für oder gegen die EU zu sein, ist für mich nicht die Frage», sagt Maillard. «Ich habe ein Gefühl für politische Inhalte, weniger für die Institutionen.»

Der Überlebenskampf der Gewerkschaften

Der Kapitalismus steht zurzeit in der Kritik wie lange nicht. Joseph Stiglitz, Wirtschafts­nobelpreis-Träger und Stargast am zweiten Kongresstag, bringt es auf den Punkt. Die Löhne halten nicht mit der Produktivitäts­entwicklung mit. Die Einkommen der obersten zehn Prozent stiegen seit den 1970er-Jahren viel stärker als die der unteren neunzig Prozent. Es brauche einen «neuen sozialen Vertrag», um das Vertrauen der Menschen in die EU zu stärken, sagt er.

Eigentlich müsste es die Sternstunde der Gewerkschaften sein. Ist es aber nicht. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad nimmt überall in Europa ab. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat so wenig Mitglieder wie zuletzt 1951.

Die attraktiven Antworten auf die Fragen, die eine globalisierte Gesellschaft aufwirft, werden zunehmend auf der Rechten gegeben, nicht auf der Linken. Die Gewerkschaften haben sich zu lange am schwindenden Ideal des Vollzeit-Industrie­arbeiters orientiert. Ihre Antwort an die Mitglieder der prekären Gig-Economy war: Euren Job sollte es so gar nicht geben. Die Position ist verständlich, aber für die Angesprochenen in der Realität nicht wirklich hilfreich.

Woher diese Position kommt, wird an einem Kongress wie dem in Wien klar. Die Gewerkschaft ist eine über 160 Jahre alte Organisationsform, entstanden in einer Ökonomie, die es so immer weniger gibt. Das Problem der Gewerkschaft: Menschen wollen schwache Bindungen, Organisationen brauchen aber starke. Was in dieser Halle passiert – die Rednerlisten, die Danksagungen, die Diskussionen darüber, ob es eine Jugendquote braucht –, mag notwendig sein, ist aber langsam und unsexy. Es braucht schon gute Argumente, um sich das anzutun.

Begrenzter Einfluss in Brüssel

Als der Sauerstoff in der Halle bereits dünner wird, geht Pierre-Yves Maillard festen Schrittes auf die Bühne. Er hält eine Rede zum EGB-Aktionsprogramm für die nächste Periode – auf Französisch, recht schnell, ein wenig nervös.

Er zählt die monatlichen Ausgabeposten einer Schweizer Familie auf. Als Gewerkschaftschef des Landes mit dem höchsten Lohnniveau steht man hier wahrscheinlich unter einem Rechtfertigungs­druck, ob man will oder nicht.

«Meine Botschaft ist, dass die Schweizer Arbeitnehmer sehr beeindruckt sind von der grossen Solidarität, die wir erfahren haben», sagt Maillard ins Mikrofon. Tatsächlich hat der SGB unter den europäischen Kollegen eine Menge relativ verlässlicher Verbündeter gewonnen, auch weil er in den letzten Jahren diskret, aber kontinuierlich seine Kontakte gepflegt hat.

Doch was bringen diese Kontakte? Auf Maillards Platz in Wien, Reihe 17 halbrechts, liegt der Brief, den der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds im Herbst an Jean-Claude Juncker geschrieben hat. Der DGB zeigt sich darin über den Druck auf die flankierenden Massnahmen besorgt. Konkreter als dies wurde die Unterstützung der europäischen Gewerkschaften bisher allerdings nicht.

Was nicht heisst, dass man der Schweiz nicht gut zuspricht. Der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» sei nicht verhandelbar, hört man in Wien überall. «Wir stehen da klar an der Seite unserer Schweizer Kollegen», sagt EGB-Generalsekretär Luca Visentini. Die flankierenden Massnahmen seien notwendig. Über gewisse technische Fragen, etwa die Höhe der Kaution, könne man reden. Aber der Kern müsse gewahrt bleiben: Man müsse sich am höheren Lohnniveau orientieren, nicht am niedrigeren.

Hinter die Schweiz stellen sich sogar die Gewerkschaften aus Mittel- und Osteuropa. «Die polnischen Arbeiter auf den Schweizer Baustellen sprechen mit ihren Schweizer Kollegen, und sie wollen denselben Lohn», sagt Adam Rogalewski vom polnischen Gewerkschaftsverband OPZZ. Der junge, gross gewachsene Mann hat vier Jahre bei der Unia gearbeitet, hat Arbeiter bei Lohndumping­skandalen wie jenem am Zürcher Hauptbahnhof organisiert.

Wollen Gewerkschaften international funktionieren, müssen sie es schaffen, Lohndumping länderübergreifend zu bekämpfen. Keine leichte Aufgabe. Die EU hat zwar erst letztes Jahr eine verschärfte Entsenderichtlinie beschlossen, um die Lohn­konkurrenz durch Kurzzeit-Gastarbeiter einzudämmen. Den Schweizer Gewerkschaften geht diese Richtlinie aber nicht weit genug.

Und der Einfluss der Gewerkschaften in der EU ist begrenzt. Der EGB vertritt zwar offiziell 45 Millionen Mitglieder. Doch die nationalen Verbände haben eigene Verbindungsbüros in Brüssel. Lobbying findet über den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss statt, der aber nur beratende Funktion hat. Oder über die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Allerdings schwindet dort die Anzahl linker und sozialdemokratischer Vertreter: Am Wochenende nach dem Kongress werden diese bei den Europawahlen eine weitere Schlappe erleiden. Im künftigen Parlament sitzen noch weniger von ihnen.

Die Gewerkschaften haben in Brüssel also wenig formelle Macht. Einfluss haben sie höchstens auf einzelne Menschen, verteilt über den EU-Apparat. Sie müssen sich also einig sein.

Die Schweiz als Nebenschauplatz

Im EGB hat man durchaus Verständnis. Die Schweiz sei in einer schwierigen Situation, im Zuge der Brexit-Diskussion wolle die EU keine Milde gegenüber einem Drittstaat zeigen. «Ich glaube, die Kommission ist sich nicht im Klaren darüber, dass das Abkommen auch das Schweizer Volk überzeugen muss.»

Bevor es wieder in die Schweiz geht, sitzt Pierre-Yves Maillard im Vorraum der Messe Wien. Er wirkt müder als am Vortag, aber zufrieden. Er hat einige Adressen gesammelt und Folgetermine ausgemacht. Was die Unterstützung der europäischen Kollegen bringt, wird die Zukunft zeigen. Aber Partner schaden nie. Flankenschutz für die flankierenden Massnahmen quasi.

«Man muss den Text des Rahmenvertrags erneut verhandeln», sagt Maillard. Und dann wiederholt er fast wortgleich den Satz des EGB-Funktionärs: «Ich hätte gerne eine Erklärung dafür, wie man in Brüssel glauben konnte, dass dieser Text das Volk überzeugen würde.» Aber vielleicht ist die Annahme, dass Brüssel überhaupt darüber nachgedacht hat, schon ein Missverständnis.

Maillard, der neue SGB-Chef, verabschiedet sich. In Richtung der Messehalle, wo es wieder um die grossen Themen geht. Und wo man als Schweizer gute Freunde braucht, um die flankierenden zu einem dieser Themen zu machen.

Zum Autor

Jonas Vogt ist Journalist in Wien und schreibt für verschiedene Magazine in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Er beschäftigt sich mit Politik, Wirtschaft, Gesellschaft – allem, was das moderne Leben prägt. Vogt führte für die Republik bereits ein Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Robert Sidelsky.

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