Bergs Nerds

Nerds retten die Welt

Folge 14: Gespräch mit Robert Riener, Professor für Senso­motorische Systeme am Departement für Gesundheits­wissenschaften und Technologie der ETH Zürich und Professor für Rehabilitations­robotik an der Universitäts­klinik Balgrist.

Von Sibylle Berg, 21.05.2019

Teilen3 Beiträge3

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

Guten Tag, Herr Professor. Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?

Ja, mit einem Blick in die aktuellen Nachrichten.

Was irritiert Sie im Moment am meisten, und haben Sie eine Idee, was man dagegen unternehmen kann?

Die «falschen Fakten». Gerne würde ich Dinge unternehmen – und mit meiner Präsenz in den Medien mache ich das ja auch –, die mehr Klarheit in die Welt brächten. Zum Beispiel zu erreichen versuchen, dass wieder mehr Vertrauen in die Ergebnisse der Wissenschaft gesetzt wird und man den Märchen selbst ernannter Heilsbringer nicht Glauben schenkt.

Darum sind wir hier. Mehr Wissenschaft für alle. Beginnen wir ganz einfach: Gelingt es Ihnen, Ihren Beruf in drei Sätzen zusammenzufassen?

Ich versuche mit meinen Mitarbeitern aktuelle Herausforderungen zu erkennen bei der Rehabilitation von Patienten mit Bewegungs­einschränkungen und bei der Bewältigung des Alltags von Menschen mit körperlicher Behinderung. Wir versuchen technische Lösungsansätze zu entwickeln und erforschen deren Wirkung. Dieses Wissen möchten wir zudem den Lernenden und der Gesellschaft vermitteln. Mit etwas Glück gelingt auch die Kommerzialisierung mancher Ideen.

Gab es einen Schlüssel­moment, oder war es wie so oft die Logik des Suchens, die Sie zu Ihrem Spezialgebiet – Robotik und Medizin – führte?

Unser berufliches wie auch privates Sein ergibt sich aus so vielen kleinen Iterationen, getrieben von Wünschen, Zielen und Zufällen. Da kann man nicht so einfach sagen, was zuerst war – die Henne oder das Ei. Klar ist aber, dass ich mich schon immer für die Robotik und die Medizin interessiert habe.

Wobei Ihre Tätigkeit auch soziale Aspekte beinhaltet …

Im Laufe meiner Forschungs­arbeit habe ich sehr viele Patienten mit Lähmungen kennen­gelernt. Dabei habe ich gemerkt, dass es nicht nur die motorische Herausforderung des Bewegungs­lernens gibt, sondern auch viele Probleme bezüglich der sozialen Akzeptanz von Menschen mit Behinderung, der Herausforderungen bei der Barriere­freiheit und der Finanzierung neuer – teurerer – technischer Lösungen.

Können Sie für alle Laien beschreiben, auf welchem Stand die Robotik und die virtuelle Realität im medizinisch-rehabilitativen Bereich aktuell sind?

Wir sind heute dank schnellerer Computer, leistungsfähigerer Batterien, kleinerer Motoren und Sensoren in der Lage, Menschen auf interessante Weise mit virtueller Realität verbinden zu können. Da ist in den vergangenen Jahren viel passiert, die Robotik erlebt derzeit ein imposantes Wachstum. Es gibt in diesem Bereich immer mehr Forschung und Entwicklung, immer mehr Firmen und Produkte.

Judith Stadler & André Uster
«Wir sind in der Robotik noch sehr weit von Maschinen­menschen wie Terminator oder Iron Man entfernt.»
Robert Riener

Andererseits muss man aber auch sagen, dass viele tolle Innovationen nur im Labor funktionieren oder nur für ganz spezielle Anwendungen entwickelt wurden – entsprechend eingeschränkt einsatzfähig sind die meisten Maschinen heute. Die Erwartungen in der Bevölkerung sind aber leider sehr hoch – viele Menschen glauben, dass wir die menschliche Biologie heute schon nachbilden können. Doch wir sind in der Robotik noch sehr weit von Maschinen­menschen wie Terminator oder Iron Man entfernt.

Wie sieht ein durchschnittlicher Tag bei Ihnen aus? Oder gibt es unterschiedliche Abläufe, die mit Reisen, Forschung und Lehre überschrieben sind?

Meine Aktivität als Professor ist eine ausgewogene Mischung aus Erkenntnis­gewinn – wie Publikationen lesen und Vorträge hören –, Ideen­generierung – dazu gehört, Brainstorming-Treffen und Workshops durchzuführen und Konzepte zu entwerfen –, Wissens­vermittlung – wie Personal­führung, Vorlesungen halten – sowie Ergebnis­verwertung, also Publikationen schreiben, Konferenzen in aller Welt besuchen und Vorträge halten. Dazu kommen Pflicht­aufgaben der akademischen Administration, die wahrscheinlich nicht so spannend klingen: Sitzungen besuchen, Protokolle schreiben, Besprechungen mit Kollegen abhalten, Gelder für die Forschung beantragen.

Ich nehme an, dass Sie Ihren Beruf nicht als Beruf, sondern als Leben betrachten, denn da gibt es für kreative Menschen ja keine Trennung.

Ja, der Professor ist zu seinem Beruf berufen. Der Beruf wird zum Leben und das Leben zum Beruf. Und klar, es ist schon ein sehr schönes Gefühl, wenn die erste wissenschaftliche Publikation angenommen wird oder man die erste Patent­urkunde in den Händen hält.

Sie sind massgeblich an 24 Patenten beteiligt, haben zahlreiche Preise gewonnen – den Humantech-Innovations­preis, den Swiss Technology Award, den IEEE TNSRE Best Paper Award 2010 und die euRobotics Technology Transfer Awards 2011 und 2012 – und geben Zeit­schriften heraus. Ausserdem sind Sie Gründer und Organisator des Cybathlon, wofür es den European Excellence Award, den Yahoo Sports Technology Award und die Ehrendoktor­würde der Universität Basel gab. Preise und Anerkennung sind sicher sehr gut für das Selbst­bewusstsein und als Antwort auf die Frage, die wir uns alle stellen: Bin ich wirklich gut genug?

Der echte Erfolg, die echte Pionier­leistung besteht nicht aus einer einzelnen Publikation oder einem Patent, sondern aus sehr vielen Publikationen und Patenten, gewürzt mit einer Portion Netz­werk und Sichtbarkeit, die es braucht, damit andere Menschen in der Forschung und der Gesellschaft die Bedeutung einer Pionier­leistung erkennen und bewerten können.

Eine elegante Antwort.

Forscher um Susan Harkema von der University of Louisville und Wissenschaftler der University of California haben gemeinsam mit dem Pavlov Institute of Physiology in Sankt Petersburg eine experimentelle Therapie entwickelt. Sie besteht darin, Elektroden direkt auf die dem Rücken­mark aufliegenden Hirnhäute zu implantieren. Diese senden elektrische Signale, welche jene ersetzen, die in einem unversehrten Körper vom Gehirn ins Rücken­mark übermittelt werden. So werden noch vorhandene Nerven­fasern aktiviert.

Welche anderen Möglichkeiten gibt es unterdessen für gelähmte Patienten?

Manchmal kann man durch intensives Training eine heilende Wirkung erzielen. Dabei helfen Maschinen dem Therapeuten, das Training intensiver und auch vielseitiger und interessanter zu machen, zum Beispiel durch den Einsatz von Virtual Reality (VR).

Dabei kann man die Patienten durch tragbare Displays oder grosse Bild­schirme, guten Sound und robotische Bewegungs­unterstützung in eine virtuelle Umgebung versetzen. So werden ihnen Aufgaben durch Bild und Ton künstlich dargestellt. Sie können sogar Objekte anfassen und bewegen, dabei deren Gewicht spüren oder merken, wie sie den virtuellen Tisch oder andere virtuelle Objekte berühren. Dies macht die Bedienung nicht nur effizienter und praktischer, sondern führt auch dazu, dass der Patient mehr Spass an der Therapie hat und dadurch länger und intensiver trainiert.

Bleiben die Menschen in ihrer Beweglichkeit und Mobilität eingeschränkt, so können – je nach Art der Einschränkung – technische Hilfsmittel dabei helfen, die Einschränkung zu überwinden. Beispiele solcher Technologien sind angetriebene, geländegängige Roll­stühle, robotische Prothesen, gelenkstabilisierende, passive Orthesen oder motorisierte Exoskelette.

Bei einem Schlag­anfall verlieren einige Patienten motorische Fähigkeiten. Hier kommt die Neuro­rehabilitation ins Spiel. Können Sie uns den fantastischen Begriff «neuronale Plastizität» erklären?

Verletzungen im zentralen Nerven­system – im Gehirn oder im Rücken­mark – führen fast immer zum Ausfall von neurologischen Funktionen, was mehr oder weniger stark sichtbar ist. Nerven­zellen, die durch mechanische Einwirkung oder durch die ausbleibende Versorgung mit Sauerstoff absterben, wachsen – im Vergleich zu peripheren Nerven – nicht nach.

Hier setzt die Neuro­rehabilitation an: Durch ein häufiges Wiederholen von zunächst geführten Bewegungen und die dabei erzeugten sensorischen Rückmeldungen finden verändernde Vorgänge im Gehirn und/oder im Rückenmark statt, bei denen intakte Regionen alte, verlorene Funktionen neu übernehmen. Das heisst, die intakten Regionen werden für die verlernten Aufgaben neu programmiert; das Gehirn wird neu verschaltet, und man kann so alte Bewegungen oder neue «Trick­bewegungen» wieder lernen. Diese Eigenschaft des Gehirns heisst auch Neuroplastizität. Sie wird auch von gesunden Menschen laufend genutzt, zum Beispiel, wenn man eine neue Sportart lernt.

Welche der Erfindungen, die Sie und Ihr Team entwickelt haben, ist bereits in den sogenannten Markt eingeführt?

In den vergangenen Jahren haben wir einen Armtherapieroboter entwickelt, mit dem wir zeigen konnten, dass die Therapie des gelähmten Armes eines Schlaganfall­patienten schneller und effektiver wird. Das Gerät ist inzwischen kommerziell erhältlich.

Eine andere Erfindung war unser Exoskelett MyoSuit. Hierbei handelt es sich um eine Art Hose mit Sensoren und Motoren. Die Motor­kräfte werden vom Becken über Seilzüge an das Hüft- und das Kniegelenk übertragen. Zieht ein Mensch, der im Roll­stuhl sitzt, die Hose an, so kann er wieder aufstehen und gehen.

Das Training zum Wiedererlernen von Bewegungen, wie das der Arm­therapie­roboter ARMin zum Ziel hat, kann mit Virtual Reality erweitert werden. Haben Sie noch andere Anwendungs­möglichkeiten für die Virtual Reality?

Virtual Reality hilft den Trainierenden beim Wiedererlernen von Bewegungen, weil das Bewegungs­szenario sehr praktisch dargestellt werden kann und die Patienten dabei auf spielerische Weise motiviert werden. Zudem wird man sehr einfach und intuitiv instruiert, und die vielen Sinnes­reize können helfen, Neuro­plastizität zu verstärken. Wir wenden VR auch zum Lernen von sportlichen Aktivitäten bei Gesunden an. Zudem kann man VR auch zu rein spielerischen Zwecken, also zur Unterhaltung, anwenden.

Viele Ihrer Entwicklungen sparen die Arbeit von Therapeutinnen. Diese sei «ineffizient», weil repetitiv und nicht fordernd – oder bloss in unzureichendem Ausmass fordernd. Sagt der Markt. Denken Sie, dass Ihre Entwicklungen in der Pflege Erleichterung bringen, in einer Zeit, in der Arbeits­kräfte in diesem Bereich schwer zu finden sind? Oder tragen sie dazu bei, dass die Arbeit von Therapeuten noch schlechter bezahlt wird? Oder befinden wir uns einfach an der Schwelle zu einer neuen Entwicklungs­stufe der Welt?

Durch die Überalterung unserer Gesellschaft gibt es leider immer mehr therapie- und pflegebedürftige Menschen. Gleichzeitig fehlen die jungen Nachwuchs­kräfte, die sich um die Patienten und die Alten kümmern. Technik kann hier enorm helfen, die Arbeit effizienter zu machen, indem sie zum Beispiel den physisch anstrengenden, unbeliebten Teil übernimmt, während der intellektuell schwierigere und kreativere Teil weiterhin vom Menschen durchgeführt wird. In der Schweiz wird heute immer mehr Technologie, auch Robotik, in der Therapie und der Pflege eingesetzt. Die Therapie­zeiten können so verkürzt werden, und das Therapie­ergebnis kann besser werden. Die Löhne der Therapeuten und Pfleger haben sich in der letzten Zeit trotzdem erhöht und sind in der Schweiz mindestens doppelt so hoch wie im benachbarten Ausland.

Wenn eine Entwicklung wirklich schädlich für die Patienten oder die Gesellschaft ist, dann müssen und werden wir sie aufhalten. Meistens überwiegen ja die Vorteile neuer Entwicklungen, und man muss – in einer gemeinsamen Aktion – mit den Entwicklern, Gesetz­gebern, Klinikern und Pflegern alles tun, den Einsatz der Technik in die richtigen Bahnen zu lenken. Dazu braucht es aber auch die Vernunft der Nutzer. Wir sitzen alle im selben Boot.

Sie haben den Cybathlon ins Leben gerufen. Eine Meisterschaft, in der es unter anderem darum geht, mit prothetischen Armen Brot zu schneiden und Wäsche aufzuhängen. Ist der Cybathlon ein Schritt zur Normalisierung aller Menschen?

Es geht darum, auch Menschen mit Behinderung zu akzeptieren und an der Gesellschaft ganz normal teilhaben zu lassen. «Normalisierung aller Menschen» ist aber wahrscheinlich der falsche Begriff. Einerseits steckt darin das Wort «Norm», und es geht ganz sicher nicht darum, den Menschen zu normieren, zu standardisieren und Unterschiede nicht zuzulassen. Andererseits steckt darin auch das Wort «normal». Das trifft es schon besser, denn wir wollen erreichen, dass Unterschiede unter den Menschen zur Normalität werden. Man könnte also besser sagen, dass es beim Cybathlon um eine Normalisierung der Diversifizierung geht.

Sie haben recht, danke für die Differenzierung.

Wenn robotergesteuerte Glied­massen – und in Zukunft auch Sinnes­organe – präziser und störungs­unanfälliger funktionieren als die ursprünglich vorhandenen Organe und Glied­massen eines Menschen, könnte es dann möglich sein, dass irgendwann ein sozialer Druck entsteht, sich seine Körper­teile ersetzen zu lassen?

Ja, das kann irgendwann schon passieren. Aber nicht alles, was wir ersetzen oder ergänzen, muss unbedingt schlecht sein. Wir verbessern uns ja schon heute durch moderne Kommunikations­mittel wie das Smart­phone oder durch den Computer und den Taschen­rechner und können mit alten Kommunikations­mitteln (zum Beispiel Rauch­zeichen, Morsesignale) und Rechen­schiebern nicht mehr umgehen, werden vergesslich und in bestimmten Bereichen kognitiv oberflächlich. Wir fahren lieber mit dem Auto oder der Bahn und akzeptieren, dass unser Bewegungs­apparat verkümmert. Solange eine neue Technologie, auch wenn sie in den Körper eingepflanzt wird, für den Anwender und die umgebenden Menschen sicher ist, solange die Benutzung freiwillig ist und sie quasi für jeden verfügbar ist, kann man ethisch nichts dagegen einwenden. Was es aber religiös oder philosophisch bedeutet, zum Beispiel, wenn sich Menschen zu verstümmeln anfangen würden, kann ich nicht beurteilen.

Es gibt jetzt bereits eine Cyborg-Bewegung, die allerdings nach meinem Kenntnis­stand relativ albern ist und sich mit dem Einsetzen von Hörnchen-Implantaten und sonstigen Spielereien beschäftigt. Wissen Sie mehr darüber?

Es gibt eine Gruppe von Menschen, über die ganze Welt verteilt, die sich elektronische Implantate einsetzen lassen. Momentan ist das medizinisch – und daher ethisch – noch sehr bedenklich, da es zu Entzündungen, ungewollten kosmetischen Entstellungen, Schmerzen bis hin zu Not­operationen und Amputationen kommen kann. Liessen sich aber die Risiken und Probleme deutlich verringern und der funktionelle Gewinn – zum Beispiel die Funktion der Öffnung eines elektronischen Schlüssels – deutlich erhöhen, dann spräche auch hier ethisch nichts dagegen. Allerdings habe ich bis heute keine Cyborg-Funktionen gesehen, die nicht durch einfachere und sicherere konventionelle Ansätze umgesetzt werden können.

In Science-Fiction-Filmen werden Menschen zu Cyborgs, und die Optimierung des Menschen mittels Technologie ist weit fortgeschritten. Meist endet es aber in Tötungs­versuchen durch die Roboter, einem Selbstständigwerden künstlicher Intelligenzen in teils menschlichen Körpern. Ein Kampf von Robotern gegen die Menschen. Woher kommt die Angst vor diesen Entwicklungen?

Ein Grund für solche Ängste liegt sicherlich in der Film­industrie, welche diese übernatürlichen Kräfte und die Bedrohung durch die Technik häufig thematisiert und populär macht. Offensichtlich gibt es hierfür auch ein Publikum, welches für diese Themen empfänglich ist. Es gehört eine gewisse Vorliebe zum Voyeurismus dazu. Warum das so ist, kann ich nicht erklären. Vielleicht hängt es mit irgend­welchen Urtrieben und Urängsten zusammen, welche den Urmenschen in Urzeiten prägten.

Oder die Film­industrie, gerade die amerikanische, ist immer noch ein Werkzeug der herrschenden Klasse, für die die Angst der Bevölkerung immer eine hervorragende Manipulations­möglichkeit ist. Ich nehme an, die reale Wissenschaft ist auf einem anderen Stand, als uns Boston-Dynamic-Hunde Glauben machen?

Sie ist viel weniger weit, als die meisten Menschen denken. Es ist eben sehr schwierig, die Komplexität, die Effizienz und die Vielseitigkeit der menschlichen Biologie, die sich durch die Evolution in Millionen von Jahren entwickelt und optimiert hat, durch Technik nachzuahmen.

Gibt es denn Ihren Kenntnissen nach schon Menschen, die sich freiwillig Körperteile ersetzen lassen, um effektiver zu sein?

Angeblich gab es in China Athleten, die zumindest den Wunsch geäussert haben, sich Glied­massen amputieren zu lassen, um mittels Hochleistungs­prothesen zu besseren sportlichen Leistungen zu kommen. Ob sie das tatsächlich gemacht haben, wage ich zu bezweifeln. Es wäre – zumindest heute und in absehbarer Zukunft – eine extrem törichte Entscheidung, denn Amputationen haben schwerwiegende Risiken und Nebenwirkungen wie etwa sehr belastende Phantom­schmerzen. Zudem sind die Hochleistungs­prothesen im Sport funktionell sehr eingeschränkt: Sie eignen sich nur zum Springen oder Sprinten, aber nicht zum Sitzen, Treppen­steigen oder gar Autofahren.

Ihre Forschung könnte auch für andere Zwecke als bloss die medizinische Verwendung hinsichtlich Neuro­rehabilitation genutzt werden. Brauchen wir neue Gesetze für die neuen Möglichkeiten?

Ja, viele technische Errungenschaften können in andere Anwendungs­bereiche transferiert werden. Das ist häufig der Fall. Dabei müssen natürlich ethische Grundregeln erfüllt bleiben und, wenn nötig, die gesetzlichen Grundlagen dafür immer wieder angepasst werden.

Es gibt noch keine überzeugenden Ansätze, eine Roboter­ethik weltweit gesetzlich zu verankern. Oft sind die Gedanken dazu vom Menschen her gedacht, was ja auch eine gewisse Limitation in der Vorstellung von Utopien beinhaltet. Kate Darling, Wissenschaftlerin am Massachusetts Institute of Technology und am Harvard Berkman Center, wies zum Beispiel nach, dass Roboter Menschen nicht als neutrale Objekte betrachten. Sicher tauschen Sie sich mit anderen Wissenschaftlerinnen über philosophische, aber natürlich auch praktische Problematiken aus. Wie weit sind die Diskussionen?

Wir diskutieren sehr oft ethische und philosophische Grundsätze der Robotik. In meinem Bereich geht es dabei vorrangig um den Einsatz der Robotik in der Bewegungs­therapie, zum Beispiel im Rahmen klinischer Studien. Hier sind die aktuellen Vorgaben seitens des Gesetz­gebers aber recht ausgeprägt, insbesondere, wenn man als Anwender das «Verhalten» des Roboters recht genau vorschreibt – und das ist bei uns in der Rehabilitations­robotik meistens der Fall.

Komplizierter wird es beim Einsatz vollständig autonomer Roboter, da es hier oft keine klaren Regeln gibt, wer im Falle eines fahrlässig oder vorsätzlich verursachten Unfalls haftet. Der Käufer, der Verkäufer, der Entwickler oder gar staatliche Einrichtungen?

Im Zweifel bin ich immer für – die anderen.

Die Begriffe Fortschritt und Innovation enthalten immer die Annahme, dass es weitergeht, ja weitergehen muss. Wie sieht der nächste Schritt in der Cyborg-Forschung aus? Wenn wir, also nicht ich, sondern Sie, Geräte mit dem Gehirn steuerbar machen können, setzt das ein tiefes Verstehen des Verstandes voraus.

Nun kann man das, was man versteht und analysiert hat, auch immer kontrollieren. Sehen Sie da eine Gefahr, die hinausgeht über die Kontrolle und die Manipulation, die heute schon angewendet werden?

Innovation und Fortschritt führen zu wirtschaftlichem Wachstum, und dieser ist die Grundlage unseres Wohl­stands. Ohne Fortschritt würde unser Wohl­stand stagnieren, sich sogar verschlechtern, weil man sich neuen Heraus­forderungen – neuen Erkrankungen, Verknappung von Ressourcen, Schädigung von Klima und Umwelt – sowie Krisen, etwa durch Katastrophen oder Kriege, nicht mehr stellen könnte.

Das Ziel der Forschung ist nicht, Probleme zu schaffen, sondern Probleme zu lösen. Und daher entwickeln wir keine bösen Cyborgs, sondern nutzbringende Technologien. Natürlich braucht es auch in der Gesellschaft einen verantwortungs­bewussten, ja nutzbringenden Umgang mit den neuen Technologien. Jede Technologie kann auch schädlich sein, wenn man sie falsch anwendet.

Jede – alte und neue – Technologie hat immer zwei Seiten. Sie kann uns nutzen, oder sie kann so missbraucht werden, dass sie uns schadet. Die Schrauben an meinem Velo sind die gleichen wie jene, die in einer Waffe eingebaut sind. Die Computer­chips meines Handys sind die gleichen wie jene in Kampfjets, und unsere geliebten Auto­mobile dienen dem Militär zur Fortbewegung und dem Terroristen zum Selbstmord­attentat.

Wir müssen alles dafür tun, dass die Technologie dem Wohl der Menschheit dient und uns nicht schadet. Dafür müssen wir die Menschen richtig aufklären, Fehlverhalten vermeiden beziehungsweise bekämpfen und ahnden. Ausserdem muss die Anwendung von Technik freiwillig bleiben, und die guten Dinge der Medizin und der Technik – wie Medikamente oder Prothesen – müssen für alle Menschen verfügbar sein. Letzteres ist heute wohl das viel grössere und dringlichere Problem, vor allem, wenn man es global betrachtet.

Bei Ihrer Arbeit, die vielen neue Hoffnung gibt, überwiegen die positiven Aspekte. Könnten Sie den Menschen, die auf die Wissenschaft hoffen, um ganz konkret ihr Leben zu vereinfachen, einen Ausblick auf Patente und Entwicklungen geben, an denen Sie gerade arbeiten – beziehungsweise eher auf jene, die schon abgeschlossen sind, damit keine unserer Leserinnen auf die Idee kommt, sie ganz schnell im Keller nachzubauen und vor Ihnen einzureichen?

Klar, unsere Arbeiten sind ja nicht geheim, sondern werden in Form von Publikationen und Patenten im Prinzip allen Menschen zugänglich gemacht. Natürlich heisst das nicht, dass alles einfach verständlich ist.

(Nun ja, die Menschen wissen heute ja auch, dass Impfungen schädlich und die Erde eine Scheibe ist. Warum also nicht ein wenig AI im Schlafzimmer zusammenlöten? Anmerkung Frau Berg.)

Zurzeit arbeiten wir an der Verbesserung der Steuerung des MyoSuit, sodass der Bediener seinen Bewegungs­wunsch der Maschine einfacher und zuverlässiger vermitteln kann. Gleichzeitig übertragen wir die Technik vom Bein zum Arm, sodass auch Menschen mit Lähmungen in den Armen eine bessere Arm­funktion und damit mehr Lebens­qualität zurück­gewinnen können. Im Bereich der Arm­therapie für Schlaganfall­patienten möchten wir ausserdem neue technische Funktionen entwickeln, die es der Therapeutin oder dem Therapeuten ermöglichen, mehrere Patienten gleichzeitig zu behandeln. Wir denken etwa an Displays, die dem Patienten eine einfachere, selbsterklärende Bedienung ermöglichen. Dies könnte die Therapie­kosten drastisch senken.

Herr Professor, ich danke Ihnen für Ihren Optimismus und Ihre Zeit!

Illustration: Alex Solman

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: