«Ich will, dass die Leute so wütend werden, wie ich es bin»

Die britische Autorin Reni Eddo-Lodge wollte eigentlich nicht mehr mit Weissen über Rassismus reden. Dann hat sie ein Buch darüber geschrieben – und tut seither nicht mehr viel anderes, als mit Weissen über Rassismus zu reden.

Ein Interview von Miriam Suter, 04.04.2019

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«Ganz ehrlich, die Linken sind die Schlimmsten»: Reni Eddo-Lodge.Mark Harrison/Camera Press/Keystone

Ein Hotelzimmer in Zürich, draussen reissen Bagger die Altstadt­gassen auf, der Pressluft­hammer dröhnt durch den Raum. Aber drinnen gibt Reni Eddo-Lodge den Takt an und übertönt den Lärm locker. Am Abend wird sie in einem ausverkauften Saal im Literatur­haus lesen. Sie sei das langsam gewohnt, sagt sie. «Ich habe das Gefühl, mein Buch erschien genau zur richtigen Zeit.» Vor allem bei Frauen, schwarzen und weissen, findet ihr Buch grossen Anklang. «Ob das daran liegt, dass das Buch starke politische, feministische Inhalte hat, oder an meinem Auftreten als Person, kann ich nicht sagen.»

Mit Weissen wolle sie nicht mehr über Rassismus reden, schrieb Eddo-Lodge 2014 in ihrem Blog. Der Post ging viral, und 2017 veröffentlichte die Journalistin und Autorin das gleichnamige Buch: «Why I’m No Longer Talking to White People About Race». Dieses Jahr erschien die deutsche Übersetzung. In Eddo-Lodges Buch geht es um die Geschichte Gross­britanniens, die eng mit der Sklaverei verbandelt ist. Um polizeiliche Diskriminierung von Schwarzen, um weissen und schwarzen Feminismus, darum, wie stark die Hautfarbe und die soziale Klasse den Alltag und ein ganzes Leben beeinflussen. Und um Privilegien, die Weisse geniessen. Kurz: Es geht um strukturellen Rassismus.

Reni Eddo-Lodge wuchs in London auf, mit einer alleinerziehenden Mutter nigerianischer Abstammung. Sie besuchte die St. Anne’s Catholic High School in Enfield und schloss 2011 an der University of Central Lancashire ihr Studium in englischer Literatur ab. Heute schreibt sie als freie Journalistin unter anderem für die «New York Times», «The Guardian», «The Independent» und «BuzzFeed». Nach der Veröffentlichung ihres Buches stand ihr Name auf der Liste der «Top 30 Young People in Digital Media» des «Guardian», und das Onlinemagazin «The Root» setzte sie auf die «30 Viral Voices Under 30»-Liste.

Reni Eddo-Lodge, haben sich die Unterhaltungen mit Weissen seit Ihrer Buchveröffentlichung verändert?
Definitiv. Sie haben eine höhere Qualität als vorher. Ich schrieb aber bereits in meinem ursprünglichen Blogpost, dass sich meine Unlust auf Diskussion nicht auf alle weissen Menschen bezieht. Sondern bloss auf diejenigen, die sich weigern, strukturellen Rassismus und seine Symptome anzuerkennen. Und das ist heute noch genau so.

Sie kritisieren in Ihrem Buch auch den Feminismus, der sich bloss für weisse Frauen einsetzt.
Feminismus war für mich der Einstieg in eine kritische Auseinandersetzung mit meiner Umwelt, meine erste grosse Liebe sozusagen. Daher ist meine Kritik am Feminismus auch eine mit guten Absichten. Trotzdem: Die Art Feminismus, die die lauteste Stimme hat, ist oft die Sorte, die eigentlich gar nicht viel verlangt. Diese Art Feminismus hat keine klare Vision, sicherlich keine, die über die Vorstellung einer geschlechtergerechten Welt hinausgeht.

Sondern?
Die Art Feminismus, wie sie etwa Sheryl Sandberg, die Co-Geschäfts­führerin von Facebook, in ihrem Buch «Lean In» beschreibt, profitiert von einer Struktur, die aus meiner Sicht abgeschafft werden sollte. Frauen wie Sandberg fordern mehr Frauen in Führungs­positionen, mehr weibliche CEOs, kritisieren aber nicht die Macht­strukturen, die solche Positionen überhaupt erst ermöglichen. Dieser Feminismus spricht mich nicht an.

Was ist denn Ihr Feminismus?
Die Art Feminismus, aus der ich Kraft und Inspiration schöpfe, will die Welt verändern, in der wir momentan leben. Dieser Feminismus will eine gerechte Gesellschaft für alle, inklusive der Menschen, die nicht genau so sind wie ich. Ich lese die Werke von schwarzen Feministinnen seit bald zehn Jahren, und ich glaube darum, dass sich der Grossteil schwarzer Frauen von der Art Feminismus, wie Sandberg sie propagiert, ebenfalls nicht angesprochen fühlt – wenn ich mir eine grobe Verallgemeinerung erlauben darf.

Warum geht diese Art des Feminismus an schwarzen Frauen vorbei?
Weil es vor allem um individuelle Freiheit geht, nicht um Systemkritik. Schwarze Frauen hatten zum Beispiel sehr lange Zeit nicht einmal Zugang zu den Sitzungs­räumen, in denen CEOs ihre Meetings abhalten. Und wir haben diesen Zugang auch heute noch immer viel weniger als weisse Frauen. Genauso wenig begeistert mich die britische Premier­ministerin, bloss weil sie eine Frau ist – die führt uns nämlich direkt in den Brexit. Ich bin auch nicht begeistert von Sitzungs­zimmern mit einer 50-Prozent-Frauenquote, wenn in diesen Sitzungen über nukleare Waffen verhandelt wird – weil ich generell gegen nukleare Waffen bin, und so weiter.

Was ist Ihr systemkritischer Ansatz?
Mich interessieren die Leben der Frauen am Rand der Gesellschaft, welche die Kinder der Frauen in besagten Sitzungs­zimmern waschen, füttern und anziehen. Oder uns Kaffee servieren und unsere Häuser putzen. Für diese Frauen ist es wichtig, dass wir nicht bloss Sexismus abschaffen, sondern auch diskriminierende Arbeits­bedingungen. Und ich glaube nicht, dass ein «Lean In»-Feminismus, der sehr weiss ist, sehr Mittel- bis Oberschicht, wirklich allen Frauen helfen wird. Es ist in Ordnung, wenn sich eine weisse Frau aus dieser Gesellschafts­schicht für ihre Anliegen einsetzen will. Aber dann soll man nicht so tun, als spräche und kämpfe man für alle Frauen. Denn das ist einfach nicht wahr.

Feminismus ist seit Jahren auch fest in der Popkultur etabliert, bei H&M gibt es T-Shirts mit «Girlpower»-Prints.
Genau, T-Shirts, die in Bangladesh von Frauen ohne Arbeits­rechte hergestellt werden. Oder von Kindern. Das Rana-Plaza-Desaster, der Einsturz der Fabrik in Bangladesh, der über 1000 Menschen das Leben kostete, ist sechs Jahre her, und niemand spricht mehr über die Not dieser Frauen. Es ist dringend notwendig, dass wir solidarisch werden mit Frauen auf der ganzen Welt, und nicht bloss mit denjenigen, die in denselben Ländern leben wie wir und diese Billig­kleidung kaufen. Wenn man sich damit nicht auseinandersetzen will, okay. Aber dann soll man als Feministin klar deklarieren, mit wem man solidarisch ist: nämlich mit Frauen, die so aussehen wie man selber, die gleich viel verdienen, die die gleichen Probleme haben, wie man sie selber hat. Aber dieses Problem gibt es nicht nur in der Modebranche.

Sondern?
Ich wurde im Februar von der British Academy of Film and Television Arts eingeladen. «The Favourite» mit Olivia Colman wurde mit sieben Preisen ausgezeichnet, und überall hiess es dann, dass Frauen jetzt auf dem Vormarsch seien in der Film­industrie. Ich kenne mich in der Filmwelt zu wenig aus, aber ich habe nun mal einen sehr politisch geprägten Hintergrund und dachte die ganze Zeit: «Ihr wollt eigentlich sagen, weisse Frauen sind auf dem Vormarsch.» Da muss man spezifisch sein. Mir kommt kein Film aus der letzten Zeit in den Sinn, in dem eine Frau die Hauptrolle spielte, die nicht weiss ist. Ausser im neuen Film von Jordan Peele, «Us», mit einer wortwörtlich entzweiten schwarzen Frau in der Hauptrolle.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Frauen von den Kämpfen der anderen lernen müssen. Wie meinen Sie das?
Wenn ich über meinen Feminismus spreche, geht man nie davon aus, dass ich für alle Frauen spreche. Wenn es eine weisse Frau tut, dann ist das eher der Fall. Und das irritiert mich. Wir sprechen hier auch über Macht. Ich als schwarze Frau, die in London aufgewachsen ist, weiss sehr genau, was die weissen Feministinnen aus der Mittel­klasse mit Kindern und genug Geld in meinem Land beschäftigt: dass Mädchen immer bloss Rosa tragen und mit Barbies spielen müssen, die Sex­industrie beschäftigt sie, sie dominieren die feministische Konversation in Gross­britannien. Und das war immer so, es geht hier ja auch um Privilegien.

Inwiefern?
Menschen wie ich mussten schon immer zuhören, wenn andere von ihren Erfahrungen berichteten. Weisse Menschen hatten schon immer ein Privileg, das nicht tun zu müssen. Und das ist ein fundamentales Problem: Rassismus verhindert die Solidarität zwischen schwarzen und weissen Frauen.

Das müssen Sie erklären.
Wenn es weissen Frauen wirklich ernst ist mit dieser Solidarität, dann müssen sie sich mit Rassismus auseinandersetzen und den Betroffenen zuhören, nur so können wir voneinander lernen. Ich persönlich habe extrem viel gelernt von Frauen, die ich durch feministische Bewegungen kennen­gelernt habe. Frauen, die zum Beispiel eine Behinderung haben und dadurch strukturell doppelt diskriminiert werden. Die Gespräche mit diesen Frauen haben mein Denken wirklich verändert, und ich musste mich fragen: Wenn ich diese Menschen nicht in meine Weltsicht einbeziehe, für wen kämpfe ich dann wirklich? Für mich ist es keine Einschränkung, andere Lebens­realitäten kennenzulernen und sie in meine Arbeit einzubeziehen – im Gegenteil, sie machen sie gehaltvoller. Alles andere wäre ignorant.

Wenn ich als Weisse mit anderen weissen Menschen darüber diskutiere, dass wir von einem rassistischen System profitieren, kriege ich oft Gegenwind – auch von Linken. Warum fällt vielen dieses Eingeständnis so schwer?
Ganz ehrlich, die Linken sind die Schlimmsten. Es gibt so viele, die denken, bloss weil sie eine progressive Einstellung hätten, könne man ihnen gar nichts vorwerfen, müssten sie sich nicht mit ihrer Position auseinandersetzen. Ich höre gerade in linken Kreisen von so vielen Leuten: «Oh, ich habe bei dieser Kampagne mitgemacht, und ich habe für jene Organisation gespendet» – und sie benutzen das als eine Art Schild gegen Selbstkritik.

Wie lässt sich dieser falsche Schutzschild überwinden?
Diese Frage ist immer schwierig für mich, sie führt in einen persönlichen Konflikt. Ich habe ein Buch genau darüber geschrieben und verdiene Geld damit. Ich profitiere also davon, dass weisse Menschen daran interessiert sind, wie sie strukturellen Rassismus überwinden können. Aber ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich will, dass Weisse die Verantwortung selber übernehmen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Wie man das genau macht, ist nicht an mir zu sagen. Ich will, dass die Leute so wütend werden, wie ich es bin.

Ist Wut ein gesunder Antrieb?
Sehen Sie Wut als explosives, unkontrollierbares Gefühl? Für mich ist das überhaupt nicht so. Wut ist durchaus ein Motor, ähnlich wie Liebe. Liebt man jemanden, äussert sich das nicht in einem unkontrollierten Knall aus Wahnsinn – im Optimalfall. Liebe ist etwas, das konsistent ist und nachhaltig für viele, viele Jahre. Und so beeinflusst die Wut auch meine Arbeit.

Was möchten Sie sonst erreichen mit dem Buch?
Dass die Leute, die es lesen, kreativ werden und sich überlegen, wie sie Dinge ändern können in ihrer direkten Umgebung. Das muss geschehen. Ich bin keine Politikerin und keine Kult-Anführerin. Wie gesagt ist es nicht mein Job, den Leuten zu sagen, wie sie diese Veränderungen herbeiführen sollen. Emma Watson hat mich für ihren Buchclub interviewt, sie hat mein Buch dafür ausgewählt, und das ist ein Beispiel, das zeigt, was ich meine: Sie hat Millionen von Hörerinnen und Hörern und hat ihre Plattform dafür genutzt, Aufmerksamkeit zu schaffen.

Nicht jede ist eine berühmte Schauspielerin.
Natürlich haben nicht alle eine solche Plattform zur Verfügung, aber das funktioniert ja auch im kleineren Rahmen: Wir alle können unsere Fähigkeiten und unseren Einfluss dazu nutzen, um auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen – auch wenn sie uns selber nicht direkt betrifft.

Zum Buch

Reni Eddo-Lodge: «Why I'm No Longer Talking to White People About Race». Bloomsbury, 2017. 272 Seiten, ca. 16 Franken. Unsere Buchrezension finden Sie hier.

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