Next Level: Kapitalismus

Smartphone-Games sind häufig kostenlos. Scheinbar. Die Umsätze entstehen während des Spielens. In-App-Käufe heisst der Trick, der auch ausserhalb der Spieleindustrie funktioniert.

Von Johnny Haeusler, 11.02.2019

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Die Idee ist clever genug, um die Kapitalistin in uns zu beeindrucken. Und so perfide, dass sie nicht nur Eltern an den Rand der Verzweiflung oder gar des Ruins bringen kann. Die Rede ist von den sogenannten In-App-Käufen, wie sie die Spiele­hersteller mit Vorliebe in vermeintlich kostenlose Smartphone-Games einbauen: Das Spiel ist gratis, aber erst die zusätzlichen Funktionen bringen den vollen Spass – und das kostet. Vor allem, weil das Kaufen selbst so spielend leicht ist.

Völlig neu ist dieser Trick natürlich nicht, und er ist auch keine digitale Erfindung. «Rockefeller-Prinzip» nennt man die Strategie, den wirklichen Gewinn nicht mit dem angeblichen Haupt­produkt, sondern mit den Folgekosten einzustreichen. So soll der namensgebende John D. Rockefeller, der erste Milliardär der Welt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Öllampe zu einem sehr geringen Preis verkauft haben – um dann mit dem ebenfalls von ihm vertriebenen Öl ein Vermögen zu machen.

Von Kaffeekapseln bis zu virtuellen Diamanten

Auch heute noch werden wir als Konsumentinnen von Herstellern in deren Ökosysteme «eingeschlossen», nur sind die Produkte keine Öllampen mehr: wenn unsere Kaffee­maschine nur mit den Kapseln, die elektrische Zahnbürste nur mit den Aufsätzen und der Rasierer nur mit den Klingen des jeweiligen Herstellers seinen Zweck erfüllt. «Komplementäre Güter» nennt die Wirtschaft die Rasier­klingen, Kaffeekapseln und Zahnbürsten­aufsätze, etwas ehrlicher wird auch vom customer lock-in oder gleich vom razor-and-blades-Prinzip gesprochen. Das «Einschliessen» der Kundinnen führt zu dauerhaften Einnahmen beim Hersteller, denn ein Umstieg auf andere Hersteller und Systeme ist meist mit Zusatzkosten verbunden.

Dieses alte Prinzip bekommt nun aber im Digitalen eine neue Ebene, ganz besonders in Game-Apps auf dem Smartphone.

Bei «Angry Birds Blast» hat man die Wahl: Neue Leben kann man mit real bezahlten Goldmünzen kaufen – oder durch reales Warten verdienen. Rovio Entertainment
Auch bei «Clash Royale» wartet, wer nicht zahlt. Supercell

Gerade die sogenannten casual games, Gelegenheits­spiele also, bei denen wir einige Minuten lang beim Warten auf den Bus oder den Arzttermin bunte Süssigkeiten oder Diamanten sortieren, Rätsel oder Puzzles lösen, werden immer häufiger zunächst kostenlos angeboten und dann über In-App-Käufe finanziert. Die Ausgangs­lage für die Anbieter ist dabei sogar günstiger als bei Kaffee­kapseln oder Bürsten­köpfen. Denn in Games sind wir mehr als Benutzerinnen, wir sind eben: Spielerinnen.

Das nächste Level, die nächste Spielstufe zu erreichen, das Weitermachen also ist der alleinige Sinn von Games. Sie fordern uns heraus, wir nehmen die Herausforderung an, unsere Bemühungen und Erfolge im Spiel werden durch die Ausschüttung von Dopamin in unserem Gehirn mit Glücks­gefühlen belohnt. Wir fühlen uns geradezu gezwungen weiterzumachen.

Und genau an der Stelle, an der wir es fast geschafft haben, den letzten fürs Weiterkommen nötigen Diamanten an der richtigen Stelle zu platzieren, genau dann ist leider unsere Zeit um oder wir merken, dass wir gar keine Diamanten mehr haben. Und nun stehen wir vor der Wahl: Beginnen wir von vorn? Oder erkaufen wir uns das sofortige Fortschreiten mit einem schnellen Fingerdruck und einem In-App-Kauf für wenige Rappen? Auf der Höhe der spielerischen Erregung, wenn die Ratio aussetzt und die Hormone übernehmen, fällt die Wahl häufig auf die sofortige Belohnung, das Weiterkommen.

Game-Entwicklerinnen wissen, wie wir ticken. Sie kennen die menschliche Psyche, wissen, wie wir funktionieren. Und sie nutzen dieses Wissen bisweilen schamlos aus: mit In-App-Käufen, die an die Grenze des moralisch Vertretbaren gehen.

Das Spiel mit der Kaufbereitschaft

Denn es ist eine Sache, wenn die Hersteller um ein Abo bitten, also eine regelmässige Zahlung, um die Weiter­entwicklung ihres Produkts finanzieren und für Updates sorgen zu können. Auch die Freischaltung zusätzlicher Funktionen mittels In-App-Kauf ist an und für sich legitim. Viele Apps zur Bild­bearbeitung können kostenlos in ihren Grund­funktionen genutzt werden, für die Freischaltung aller Funktionen erwarten die Entwicklerinnen aber einen kleinen Aufpreis – das ist ein fairer Deal. Zumal die Kosten der Entwicklung, der Fortführung und der Betreuung von professionell erstellter Smartphone-Software denen im PC-Bereich zwar in nichts nachstehen, die Kauf­bereitschaft der Nutzerinnen auf dem Smartphone aber grundsätzlich eher gering ist.

Während Software für den Schreibtisch­rechner durchaus dreistellige Summen kosten kann, sind auch nur zweistellige Preise für eine App noch immer die Ausnahme; wir geben am Smartphone einfach nicht gern grössere Summen aus. Regelmässige Zahlungen kleinerer Beträge im Abo-Modell oder kostenlose Basis-Apps mit möglichen Kosten für Erweiterungen (das sogenannte «Freemium»-Modell, eine Wortmischung aus «free» und «Premium») sind daher das probate Mittel für viele Unternehmen, die Software für mobile Geräte anbieten. Das ist grundsätzlich okay, wenn das Spiel nicht zu weit getrieben wird und die Gier siegt.

Eine völlig andere Sache aber ist es, wenn eine App ohne Zuzahlung einfach nicht wie angegeben funktioniert. Wenn ein Spiel nur durch endlose Käufe fortgesetzt werden kann. Oder wenn in Spielen für Kinder und Jugendliche die Preise für rein kosmetische, also für den Spielverlauf unerhebliche Erweiterungen jedes Mass überschreiten.

Kleines Pony, grosser Aufpreis

In den zahlreichen Spielen der Serie «My Little Pony» summieren sich die Kosten für einzelne Charaktere oder deren Aussehen schnell auf 30 Franken und mehr. Im Rennspiel «Real Racing 3» kostet die teuerste Erweiterung gar 110 Franken. Zwar funktioniert das Spiel auch ohne den zusätzlichen Kauf, doch der Spielfluss wird dann im wahrsten Sinne des Wortes ausgebremst, und zwar um mehrere Stunden, die zahlungs­unwillige Gamer warten müssen, bevor es weitergeht.

Ähnliches gilt für Spiele wie «Angry Birds Blast» oder «Forge of Empires»: Die Games sind theoretisch auch ohne zusätzliche Zahlung spielbar, aber nur sehr stark verzögert. In beiden Fällen werden einzelne Pakete für bis zu 100 Franken angeboten, einzelne, temporär erhältliche «Sonder­angebote» sind oft noch teurer. Spass macht das alles nicht mehr, und das Risiko von Impuls­käufen, weil man gerade mitten im Spielfluss ist, ist auch für bedacht agierende Erwachsene sehr hoch.

Das Erforschen von Pfahlbauten kostet virtuelle Diamanten, die erspielt oder real gekauft werden können. InnoGames

Der dänische Medienexperte und Autor Thomas Baekdal vergleicht das Vorgehen der Unternehmen mit einer Taxifahrt, die der Kundin kostenfrei angeboten wird, aber auf halber Strecke vorläufig endet mit der Ansage: In 24 Stunden geht es dann weiter – oder Sie bezahlen, um sofort ans Ziel zu gelangen. In seinem viel beachteten Artikel wirft Baekdal den entsprechenden Spiele­herstellern vor, die Game-Industrie zu zerstören, in einem weiteren Text rechnet er vor, dass es beim Spiel «Asphalt 7» sage und schreibe fast 3500 Franken kosten würde, alle spiel­internen Möglichkeiten freizuschalten.

Das finnische Game-Studio Supercell, dessen bekannteste Smartphone-Spiele «Clash of Clans» und «Clash Royale» sein dürften, hat 2017 mit insgesamt nur vier verfügbaren Games 2 Milliarden Dollar über In-App-Käufe umgesetzt – bei rund 800 Millionen Dollar Gewinn. Und dabei ist die In-App-Vorgehens­weise von Supercell noch relativ verträglich im Vergleich zu anderen Anbietern.

Es ist unklar, wie viele dieser Einnahmen durch Kinder oder Jugendliche generiert wurden – das Spiel ist bei jungen Gamern beliebt. Eltern jedenfalls muss man wohl raten, in den Smartphones, zu denen Kinder Zugang haben, sämtliche In-App-Zahlungs­möglichkeiten abzuschalten – oder sie wenigstens mit einer zusätzlichen Passwort­eingabe zu schützen, um böse Überraschungen auf dem eigenen Konto zu verhindern. Beide grossen mobilen Betriebs­systeme lassen eine solche Kostenkontrolle zu.

Ausweitung durch smarte Technik

Ein Ende des Geschäftsmodells In-App-Käufe ist jedenfalls nicht abzusehen, ganz im Gegenteil: Die Vermarktungs­strategie wird Einzug halten in immer mehr Konsum­bereiche. Das Unternehmen Tesla sorgte bereits vor zwei Jahren für Aufsehen, als es die In-App-Käufe für seine elektrischen Fahrzeuge ankündigte. Mit der Technik kann Software für zusätzliche Reichweite oder den Autopiloten später hinzugekauft werden. Hier geht es dann um Summen von ein paar Tausend Dollar.

Auf diese Weise könnten auch andere Hersteller die Einstiegs­preise ihrer ohnehin schon ans Netz angeschlossenen Elektroautos «niedrig» halten und Kundinnen erst später erneut zur Kasse bitten – ohne zusätzlichen Aufwand für das Unternehmen. Gut denkbar, dass andere Auto­hersteller nachziehen und dass bald Kleinwagen für wenige Tausend Franken angeboten werden, bei denen sich die Kosten für den vollen Funktions­umfang erst später auf fünfstellige Summen erhöhen. Jedes Gerät, jeder Service, jedes Produkt wird in den kommenden Jahren wenigstens teilweise digital sein oder eine Schnittstelle zum Internet haben. Sie alle eignen sich damit für das Rockefeller-Prinzip per In-App-Kauf.

So wie die digital gesteuerte Heizung bei Nichtzahlung der Gebühren aufhören wird zu wärmen, so wird der kostenlose Fernseher bei Abo-Rückstand kein Bild mehr zeigen. Ratenzahlungen in der bisherigen Form werden dann Vergangenheit sein, denn wir werden nicht mehr kaufen, sondern nur noch abonnieren, und zwar jeden Monat neu. Wir werden zu Mieterinnen von allem: nicht nur von Geräten, sondern auch von Kultur. Amazon macht es mit Bücherabos in beschränktem Masse bereits vor, Streaming­dienste für Musik und Filme haben sich besonders bei der jüngeren Generation ja längst durchgesetzt.

Das muss nicht nur neue Kostenfallen bedeuten. Im besten Fall erhalten wir durch die neue Technik die Möglichkeit, Produkte nur partiell und temporär zu nutzen und sie damit noch besser unseren tatsächlichen finanziellen Möglichkeiten anzupassen. Das aber erfordert neues Wissen, neue Kompetenzen und neues Auf-der-Hut-Sein. Das Digitale, so lautet das Versprechen, wird unser Leben vereinfachen. Doch für den, der seine Selbstbestimmung ganz gerne behalten würde, gilt oft das Gegenteil – selbst beim Spielen.

Zum Autor

Johnny Haeusler ist Blogger, Journalist und Mitgründer der re:publica, der grössten jährlichen Konferenz zur digitalen Gesellschaft im deutschsprachigen Raum. Auch die Jugendkonferenz TINCON hat er mitinitiiert. Er twittert unter @spreeblick und verliert beim Spielen immer gegen seine Söhne. Für die Republik schrieb Haeusler bereits über das Game-Phänomen «Fortnite».

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!