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Sorry, Leute – kein Konflikt

Von Brigitte Hürlimann, 05.12.2018

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Wir haben darauf gewartet und uns vorgestellt, wie die Reaktionen ausfallen werden. Die einen hätten Zetermordio geschrien, falls das Bundesgericht dem internationalen Vertrag – konkret dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) – den Vorrang eingeräumt hätte. Die anderen hätten mit den Schultern gezuckt und gedacht: Na und? Die Selbstbestimmungsinitiative ist deutlich abgelehnt worden, und die Schweiz hält sich ja in der Regel an die Verträge, die sie abschliesst. Auch wenn der Vertragspartner EU heisst.

Und nun kommt also das Bundesgericht, fällt zwei Urteile – und sagt zweimal: Sorry, Leute, es gibt in diesen beiden Fällen gar keinen Konflikt zwischen Völkerrecht und Landesrecht. Beide Regelwerke kommen zum gleichen Ergebnis, das eine Recht ergänzt das andere, keine Widersprüche in Sicht, und auch aus der Rechtsprechung des EU-Gerichtshofs lässt sich nichts anderes ableiten.

Konkret bedeuten die beiden jüngsten Entscheide aus dem höchsten schweizerischen Gericht, dass zwei junge Männer wohl des Landes verwiesen werden. Beide haben sich Gewalttaten zuschulden kommen lassen, nicht besonders schwere, aber nicht zum ersten Mal. Der eine ist deutscher Staatsbürger, der andere schwedisch-serbischer Doppelbürger.

Der Clou an der Geschichte: Beide hatten sich vor dem Zürcher Obergericht verantworten müssen. Beim Deutschen hatte die I. Strafkammer auf eine (obligatorische) Landesverweisung verzichtet, weil das FZA Vorrang geniesse. Die Oberstaatsanwaltschaft akzeptierte dies nicht und zog den Entscheid nach Lausanne weiter. Der schwedisch-serbische Straftäter hingegen wurde von der II. Strafkammer beurteilt, und diese sprach eine (fakultative) Landesverweisung für drei Jahre aus. Bei ihm liegt keine Katalogtat vor, anders als beim Deutschen; also kein Delikt, das im Rahmen der obligatorischen Landesverweisung erwähnt wird und bei dem man sich nur noch auf einen Härtefall berufen könnte – oder eben auf den Vorrang des Völkerrechts.

Das Bundesgericht löst beide Fälle ganz anders als das Zürcher Obergericht – und klärt die Frage des Vorrangs des Völkerrechts nicht: «Lässt sich das Landesrecht völkerrechtskonform anwenden, stellt sich die Frage einer Normenhierarchie nicht.»

Beim deutschen Straftäter, der wegen Angriffs zu einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten (und zweitinstanzlich zu keiner Landesverweisung) verurteilt worden war, sagt das Bundesgericht, er könne sich nicht einmal auf ein Aufenthaltsrecht berufen. Der Mann habe sich nicht rechtmässig im Sinne des Freizügigkeitsabkommens in der Schweiz aufgehalten, und «das Völkerrecht ist nicht auf einen systematischen Schutz gegen eine Landesverweisung angelegt». Die Sache geht zurück ans Obergericht – dem wohl nichts anderes übrig bleibt, als doch noch eine Landesverweisung auszusprechen; so, wie es das Bundesgericht vorgibt.

Der schwedisch-serbische Mann hingegen verfügt zwar über einen rechtmässigen Aufenthaltstitel in der Schweiz, die Aufenthaltsbewilligung B. Er erfüllt aber die zweite Voraussetzung für ein Verbleiben in der Schweiz nicht  – ein «rechtskonformes Verhalten». Das Bundesgericht sagt es deutsch und deutlich: Es gebe «keine Freizügigkeit für kriminelle Ausländer», das halte auch das FZA fest, und zwar in Artikel 5 Ziffer 1 Anhang I des Freizügigkeitsabkommens: «Die aufgrund dieses Abkommens eingeräumten Rechte dürfen nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden.»

Der junge Mann ist schon mehrfach gewalttätig geworden, auch gegen Frauen und vor allem, wenn er zu viel getrunken hat. Er hat sich von früheren Strafverfahren und Bestrafungen nicht beeindrucken lassen. Zuletzt wurde er wegen qualifizierter einfacher Körperverletzung und Drohung ebenfalls zu einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Das Bundesgericht bestätigt die Auffassung, dass bereits ein geringes Rückfallrisiko für die schwere Verletzung hoher Rechtsgüter ausreiche, um das Aufenthaltsrecht gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen aufzuheben. Dieses Ergebnis ist kompatibel mit der Anwendung des hiesigen Strafrechts, ergo: Die Landesverweisung wird höchstgerichtlich gestützt. Völlig konflikt- und hierarchiefrei. Schade für all jene, die sich gern aufgeregt hätten. Aber die nächste Chance kommt bestimmt.

Zu den Urteilen

Der Fall des schwedisch-serbischen Doppelbürgers: Urteil vom 1. November 2018, 6B_235/2018.

Der Fall des deutschen Staatsbürgers: Urteil vom 28. November 2018, 6B_1152/2017.

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