Raumdeutung

Tschiatura

Industrieruinen werden heute für Kreativwirtschaft umgenutzt. Aber kann man echte Städte «kuratieren»?

Von Philip Ursprung, 13.11.2018

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Im Oktober war ich mit meinen Studierenden auf Seminarwoche in Georgien. Wir reisten in die Hauptstadt Tiflis. Aus den Ruinen des Sozialismus spriesst überall Kultur. Die Angst, dass Russland Georgien überfallen könnte, ist zwar spürbar. Aber die Jugend lässt sich die Laune nicht verderben und feiert Technopartys in den Fundamenten von Brücken. Die Literatur- und Theaterszene zeigt sich auf Festivals, zeitgenössische Kunst ist ein Exportschlager, und auch eine Architekturbiennale ist lanciert worden. Alte Karawansereien erinnern an die Zeit der Seidenstrasse. Eine Synagoge, eine Moschee, sogar die Ruine eines Zoroaster-Tempels zeugen von religiöser Toleranz. Wie so manche gebeutelte Stadt ist auch Tiflis «arm und sexy», zieht die Jeunesse dorée, Investoren und die Kreativwirtschaft an – und gilt als «neues Berlin».

Wir schlossen die Holzbalkons, die bröckelnden Jugendstilpaläste und die sowjetischen Monumente sogleich ins Herz und mussten uns ein wenig überwinden, nach Tschiatura zu fahren, einer Industriestadt zwei Stunden westlich von Tiflis. Hier befand sich einst eines der bedeutendsten Vorkommen von Mangan, einem Element, das für die Herstellung von Edelstahl unerlässlich ist. Im ausgehenden 19. Jahrhundert ging das meiste Mangan ins Ruhrgebiet. Aber die Minen sind fast versiegt, und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Tschiatura eine shrinking city.

Es regnete. Die Sonne war den ganzen Tag nicht zu sehen. Die düstere Stimmung passte zur Stadt, die in einer dunklen, tiefen Felsschlucht entlang eines schwarzen Flusses liegt. Alles ist überzogen von einer schwarzsilbernen Patina aus Manganstaub. Ich war erstaunt, dass in einer solchen Topografie überhaupt eine Stadt entstehen konnte. Sie zieht sich die Hänge entlang steil in die Höhe. Einige Wohngebiete liegen auf Ebenen hoch über der Schlucht. Weil viele Menschen weggezogen sind, stehen manche Plattenbauten leer. Die Fenster fehlen in den oberen Etagen, nur einzelne Wohnungen sind noch bewohnt, die übrigen Balkons dienen als Holzlager. Es ist kaum zu unterscheiden, welche Fabriken noch funktionieren und welche stillgelegt und am Zerfallen sind. Ausser ein paar Plakaten mit Politikern sah ich keine Werbung. Nur die Hauptstrassen sind asphaltiert. Zwischen den Häusern stand ich im schwarzen Schlamm. Im Vergleich dazu ist das Set von Andrei Tarkowskis Film «Stalker» idyllisch.

Die Musikerin und Architektin Li Tavor – sie ist Teil des Teams, das mit «Svizzera 240» im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale dieses Jahr den Goldenen Löwen gewonnen hatte – plante mit unserer Gruppe eine Musikperformance. Sie trug uns auf, in Tschiatura Geräusche und Töne zu sammeln. Mit den Smartphones folgten wir dem Hämmern der Pressluftbohrer, dem Rattern der Seilwinden, dem Glucksen von Rinnsalen, dem Röcheln von Dieselmotoren, dem Grunzen von Schweinen und dem Gackern von Hühnern.

Einst war ein Netz von sechzig Seilbahnen über die Stadt verteilt, etliche funktionieren noch immer. Einige transportieren das Erz in die Fabriken. Andere verbinden die einzelnen Quartiere mit dem Stadtzentrum. Die Seilbahnstationen aus den frühen 1950er-Jahren zeugen von der früheren Blüte. Sie erinnern an Tempel oder kleine Paläste für die Arbeiter, auch wenn inzwischen die Farbe von den Säulen abgeblättert ist und die Springbrunnen trocken sind. Ich habe Höhenangst, aber ich wagte es dennoch, in eine der völlig verrosteten Kabinen zu steigen. Die ursprüngliche Farbe konnte ich nicht mehr erraten. Die Blechwände waren zerbeult, die Fensterscheiben trüb, im rostigen Fussboden klafften Löcher. Ich fühlte mich eher in einen «Mad Max»-Film versetzt als in die Schweizer Berge. Die Frau, welche die Kabine bediente und über ein uraltes Telefon den Befehl zur Abfahrt erteilte, bot mir an, die Fenster zu öffnen, damit ich Fotos machen könne. Ich zog es vor, nicht nach unten sehen zu müssen.

Nach einigen Stunden verliessen wir die Stadt. Im Kurort Tskaltubo, wo sich einst die Arbeiter in pompösen Badehotels erholen durften, führten wir unsere Musikperformance auf. Li Tavor dirigierte in der Ruine eines alten Heilbades das Geräuschorchester. Die Studierenden zückten ihre Smartphones und spielten die Aufnahmen ab. Im Rückblick, umgeben vom Summen, Rattern und Hämmern, wurde mein Bild von Tschiatura immer klarer. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir, weil wir nach Geräuschen gesucht hatten und nicht nach Bildern, keine Voyeure waren. Unsere Haltung war nicht das, was gern als «Ruinenpornografie» bezeichnet wird, also die Ergötzung am Elend aus der vermeintlich sicheren Distanz. Wir glichen eher Analytikern, die lange zuhören, um etwas zu verstehen.

Dank des Zugangs über die Geräusche erkannte ich, dass Tschiatura keine Ruine war. Die Künstlerin Lara Almarcegui, die mit uns reiste, erinnerte daran, dass Bergbau nicht Vergangenheit sei, sondern Gegenwart. Bergbau, so meinte sie, sei zwar aus unserem Gesichtskreis verschwunden, aber unverzichtbar. Was Tschiatura so gegenwärtig machte, war die Tatsache, dass diese Stadt in ihrer Ganzheit erkennbar war. Vom Abbau der Ressourcen über die Fabrikation bis zur Distribution, von der Arbeit bis zur Erholung, war alles im Zusammenhang hör- und sichtbar. Ich konnte den Grund, auf dem sie stand, die Ränder, die sie begrenzten, und die Infrastruktur – die vielen kleinen Seilbahnen –, die sie in Bewegung hielten, wie in einem offenen Buch lesen.

Trotz des Zerfalls war diese Stadt auf eigentümliche Weise intakt und wirklich. Im Unterschied zu den meisten Innenstädten – auch derjenigen von Tiflis – war hier nichts musealisiert oder kuratiert. Hier gab es keine Gentrifizierung und keine Umnutzung. Die Zeit – auch dies machten die Rhythmen und Melodien der Tonaufnahmen deutlich – wird nicht angehalten, sondern sie läuft weiter. Ich war nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Und ich sah plötzlich den blinden Fleck in der Diskussion über die Zukunft der Stadt in der Schweiz. Wir haben keinerlei Vorstellung davon, was wäre, wenn unser Land plötzlich verarmen würde.

Illustration: Michela Buttignol

Zum Autor

Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte und Vorsteher des Departements Architektur der ETH Zürich.

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