Am Gericht

Sonderbehandlung für Promi-Eltern?

Die Tochter hat am Abend vor dem Skilager eine Panikattacke, und die Eltern entscheiden, dass sie zu Hause bleiben soll. Die Schulbehörde und die Staatsanwältin wittern Strafbares.

Von Sina Bühler, 31.10.2018

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Ort: Bezirksgericht Arbon
Zeit: 8. Oktober 2018, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: SBV_B.2016.3133
Thema: Volksschulgesetz

Wollte die Schule einem Helikopter-Elternpaar zeigen, wie ernst die Weisungen einer Schule zu nehmen sind? War es der Versuch, einem Lokalpromi-Paar mit einer gewissen Medienpräsenz zu sagen: «Bei uns sind alle gleich!»? Letzteres vermutet jedenfalls der Vater. Doch nicht einmal das Gericht kann sich erklären, wie ein verpasstes Skilager vor dem Strafgericht enden konnte.

Die Eltern sind Mitte vierzig, ehemalige Spitzensportler, und leben in einer kleinen Thurgauer Gemeinde am Bodensee. Ein blondes, freundliches Strahlepärchen mit frisch geföhntem Haar, begleitet von drei höflichen blonden Töchtern, die vor dem Gerichtssaal warten, malen und lesen. Die älteste Tochter ist die Protagonistin der Geschichte, die sich an einem Wochenende im Januar 2016 abspielte.

Es ist Samstag, der Tag vor der Abreise ins Skilager der fünften Primarklasse. Skis und Skischuhe sind gemietet, die Tasche ist gepackt, das Lunchpaket schon eingewickelt. Am Sonntag um 11 Uhr soll der Bus nach Sedrun abfahren. Die Mutter erzählt: «Ich merkte plötzlich, dass die Älteste Angst vor dem Skilager hatte. Sie begann zu weinen, war völlig ausser sich. Wie ein Panikanfall. Sie hat gezittert und geheult und konnte die ganze Nacht nicht schlafen.» Die Mutter sagt von sich selber, sie sei damit völlig überfordert gewesen. Und überrascht: Das Mädchen sei eigentlich kein kompliziertes Kind.

Der Vater war schon die ganze Woche in Österreich, arbeitete als Seelsorger für Sportler. Er kann nur übers Telefon helfen. Das Kind sei ihm total aufgelöst vorgekommen, erzählt er. Sie habe sich unerklärliche Sorgen gemacht, dass es auf der Fahrt einen Unfall geben werde, beispielsweise. Auch er war ratlos. Die Eltern warteten ab. Doch am Morgen, nach einer schlaflosen Nacht für Mutter und Tochter, war die Panik immer noch da. «Sie war kreideweiss», schildert die Mutter. Nur mit körperlicher Gewalt hätte sie das Kind in den Bus zwingen können. Am Telefon mit dem Vater entschied sie, das nicht zu tun.

Die Mutter habe dann, ein paar Stunden vor der Abreise, den Klassenlehrer und den Schulleiter kontaktiert, ihnen erzählt, was los war. Deren Reaktion sei gefasst gewesen: «Die einzige Weisung des Schulleiters war, dass er sich am Montag wieder melden werde.» Die Tochter ging sofort ins Bett. Die Mutter berichtet: «Am Montag habe ich eine Art Homeschooling gemacht. Und auf einen Anruf gewartet, der nicht kam. Am Mittag schrieb ich dem Schulleiter eine SMS, fragte, was wir tun sollten. Er meinte, das Mädchen solle am nächsten Tag wieder zur Schule, ersatzweise in die vierte Klasse.» Über Alternativen, beispielsweise, dass die Tochter ins Lager hätte nachreisen können, habe niemand gesprochen. Trotzdem habe die Schulpräsidentin, eine Juristin, der Mutter bei einem Zufallstreffen später gesagt, dieser Vorfall werde noch ein Nachspiel haben.

Kurz darauf gab es eine Aussprache mit den Schulbehörden. Das Elternpaar empfand das Ganze als eine Vorverurteilung. Man habe sie nichts gefragt, nur gerügt. Für die Schulbehörde waren die Eltern bereits verwarnte Wiederholungstäter: Ein paar Monate zuvor hatten sie, am letzten Schultag vor den Ferien, zwei Kinder zu früh abgeholt, eine knappe Stunde vor Schulschluss. «Ein Missverständnis», sagen die Eltern. Sie hätten nicht gewusst, dass nicht die Lehrerinnen, sondern der Schulleiter über die Ausnahme hätte entscheiden müssen.

Nach dem Gespräch reichte der Schulrat bei der Staatsanwaltschaft Bischofszell eine Anzeige ein. Die Absenz des Mädchens sei ein «Verstoss gegen das Gesetz über die Volksschule». Staatsanwältin Franziska Sutter sah dies auch so und schickte dem Paar einen Strafbefehl: je eine Busse von 450 Franken plus je 300 Franken Gebühren. 1500 Franken.

Die Eltern wehren sich dagegen, die Sache kommt 26 Monate später vor Gericht. «Endlich dürfen wir uns erklären», freuen sie sich. Von der Staatsanwältin waren sie nicht befragt worden. Erst Gerichtspräsidentin Silke Sutter Heer will alles genau wissen: Ob sie die Tochter für das Lager motiviert hätten? Ob eine Schulsozialarbeiterin eingeschaltet worden sei? Wie sich die Tochter den Vorfall erklärt habe? Immer wieder sagen die Eltern, sie hätten einfach nicht gewusst, wie handeln.

In ihrem Schlusswort geht die Mutter jeden einzelnen Vorwurf im Strafbefehl durch. Sie spricht Missverständnisse an, ärgert sich, dass das Wort «Abmeldung» in Bezug aufs Skilager in Anführungszeichen steht: «Ich habe nicht angerufen und einfach gesagt: ‹Sie nimmt nicht teil.› Das ist sehr verharmlosend geschrieben. Es war für uns höchst schwierig. Eine Überforderung im letzten Moment. Darauf ist man nicht eingegangen.» Die Mutter betont, ihnen sei nicht nur klar gewesen, dass das Lager eine «lässige Sache», sondern auch, dass es obligatorisch sei. Und sie hätten da «eine strenge Linie».

Der Vater ergänzt: Es sei für ihn nicht nachvollziehbar, dass man so etwas nicht einfach bespreche, sondern die Justiz einschalte. Er plädiert auf Freispruch. Als die Richterin ihn bittet, den Aufwand zu beziffern, fragt er ungläubig: «Das darf man wirklich?» Er stellt den Antrag auf 500 Franken Entschädigung pro Elternteil.

45 Minuten später, die Kinder haben inzwischen Fleischkäse im Bürli gegessen, das Urteil: «Freigesprochen.» Die Mutter jubelt verhalten, klatscht, ihr Mann umarmt sie. Sie erhalten je 250 Franken Entschädigung. Richterin Sutter begründet den Entscheid: Die Eltern hätten den Vorfall genauso glaubhaft wie die Schulbehörden geschildert. «Ich gebe Ihnen recht, dass das Gespräch mit der Behörde eine Vorverurteilung war. Es ging darum, was Sie alles besser hätten machen können als Eltern. Bis hin zum Vorwurf, der Vater hätte an diesem Sonntag ja da sein können statt bei der Arbeit.»

Der Schulrat sei eben eine Laienbehörde, meint sie dann verständnisvoll. Und dann weniger: «Aber die Staatsanwaltschaft! Für uns ist es nicht nachvollziehbar, weshalb die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt nicht abgeklärt hat.» Für das Gericht lag ein wichtiger Grund für eine Absenz vor – keine körperliche Krankheit zwar, aber eine psychische Situation. Diese sei gleichzustellen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Illustration: Friederike Hantel

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