Binswanger

Die Politik der Angst

Wir werden von Emotionen beherrscht. Was bedeutet das für das Herrschen? Ein philosophischer Essay von Martha C. Nussbaum geht dieser Frage nach.

Von Daniel Binswanger, 29.09.2018

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Es gibt Begriffe, die wie ein Emblem für eine Epoche stehen. Der Begriff unserer Jetztzeit lautet Angst. Vor zwei Wochen ist der Bestseller von Bob Woodward über die Trump-Regierung herausgekommen. Sein für ein politisches Enthüllungsbuch eigentlich seltsamer Titel lautet: «Fear». Angst ist das Schlagwort, mit dem Woodward die so extreme, so ungewöhnliche Dynamik der Trump-Präsidentschaft auf den Punkt bringen will. Angst erscheint ihm als der innerste Erklärungsgrund für den Siegeszug des Donald Trump. Er beruft sich dabei auf ein Zitat des Präsidenten selber. «Echte Macht – ich will das Wort gar nicht benutzen – ist Angst», sagte der Mann, der heute der mächtigste der Welt ist.

Worin liegt das Wesen der Angst? Warum hat sie so grosse Macht über uns? Als Martin Heidegger 1927 sein philosophisches Jahrhundertwerk «Sein und Zeit» veröffentlichte, bezeichnete er die Angst als die existenzielle «Grundbefindlichkeit». Sie erschliesst dem Menschen seine radikale «Vereinzelung» und sein «Sein zum Tode». Heidegger entwirft eine zutiefst tragische und dem Tod verfallene Vision des «eigentlichen» Menschen. Nicht umsonst wurde dieses angstgetriebene Pathos in Verbindung gebracht mit den politischen Verwerfungen der Dreissigerjahre und mit Heideggers eigener Hitler-Begeisterung.

Auch heute erscheint wieder ein gewichtiger philosophischer Essay über die Angst. Martha C. Nussbaum hat vor kurzem «The Monarchy of Fear: A Philosopher Looks at Our Political Crisis» (die Monarchie der Angst: eine Philosophin analysiert unsere politische Krise) veröffentlicht. Sie hat das Buch als unmittelbare Reaktion auf die Wahl von Trump ins Weisse Haus geschrieben. Sie geht darin der Frage nach, worin eigentlich das Wesen der Angst liegt, warum sie eine so fundamentale und mächtige Emotion ist und warum sie unter bestimmten Bedingungen eine so prägende politische Kraft hat. Es handelt sich jedoch weniger um eine existenzialistische Beschwörung als um eine Kritik der Angst.

Nussbaum ist von Haus aus Altphilologin. Bis heute speist sich ihre politische Philosophie aus antiken Quellen, besonders aus Lukrez und Aristoteles. Bekannt und bedeutend jedoch ist sie geworden mit ihren Analysen zur Bedeutung von Emotionen für die Politik und die Moral. In ihrem Buch «Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions» (Umbrüche des Denkens. Die Intelligenz von Emotionen) analysiert sie den ethischen Gehalt von Gefühlen, insbesondere der Emotion der Liebe. In «Hiding from Humanity» (versteckt vor der Menschlichkeit) untersucht sie die Bedeutung von Ekel und Scham für unser Rechtsempfinden und welch destruktive Macht diese Affekte besitzen können. Mit «Monarchy of Fear» führt sie diese Analysen weiter. Die grundlegendste Emotion von allen, schreibt sie heute, sei die Angst.

Ihre Untersuchungen reihen sich ein in eine ganze Serie von jüngeren Arbeiten, die sich – häufig vornehmlich aus neurophysiologischer Perspektive – mit der sozialen Rolle von Emotionen beschäftigen. Nussbaum setzt sich jedoch von der Naivität rein empirischer Forschungen ab. Sie berücksichtigt zwar die Erkenntnisse der experimentellen Psychologie, aber sie stützt sich auch auf die Psychoanalyse, die Literaturgeschichte und eine an den philosophischen Klassikern geschulte, differenzierte Kategorisierungsarbeit.

Angst ist nach Nussbaum eine anthropologische Grundgegebenheit, so etwas wie der Basisaffekt des Menschen, ganz einfach deshalb, weil Neugeborene in eine Welt kommen, der sie nicht gewachsen sind. Das Kleinkind ist auf Gedeih und Verderb seinen Erzeugern ausgeliefert, weil es seine elementarsten Bedürfnisse selber nicht befriedigen kann. Es ist kognitiv weit genug, um seine Defizite zu realisieren, aber es ist physisch zu unterentwickelt, um darauf zu reagieren. «Der einzige Weg zu bekommen, was man braucht, besteht darin, eine andere Instanz in dieser Welt dazu zu bringen, es für einen zu tun», sagt Nussbaum. Dass man damit scheitern könnte, ist der Stoff, aus dem die Urangst ist: «Angst ist die früheste Emotion im menschlichen Leben», sagt die Philosophin. Und fügt hinzu: Dass das Baby schon ein Bewusstsein seiner radikalen Abhängigkeit hat, ist der Beginn der Politik. Und zwar einer sehr tyrannischen.

«Babys sind so schwach, dass sie entweder herrschen oder sterben müssen», sagt Nussbaum. Deshalb «beginnt das menschliche Leben nicht in der Demokratie, sondern in der Monarchie». Jeder Mensch wird als Monarch geboren, weil sein Grundaffekt die Angst ist. «Das demokratische Selbst» entsteht erst, wenn das Kleinkind reif und autonom genug geworden ist, um reziproke Beziehungen einzugehen, seinen primären Narzissmus zu überwinden und seine Eltern als Personen statt als Agenten der eigenen Bedürfnisbefriedigung wahrzunehmen.

In Anlehnung an den Psychoanalytiker Donald Winnicott leitet Nussbaum politische Grunddispositionen aus der Entwicklungspsychologie des Kleinkindes ab. Sie begründet damit, weshalb der Affekt der Angst so bedrohlich sein kann für die Demokratie: «Angst droht immer die Demokratie zu destabilisieren, weil Demokratie von uns allen verlangt, unseren Narzissmus einzuschränken und Gegenseitigkeit zu akzeptieren. Im Moment gerade ist die Angst überall verbreitet in der amerikanischen Nation.» Auch Nussbaum betrachtet Angst also als grundlegende Dimension der menschlichen Existenz. Aber sie kann uns mehr oder weniger beherrschen. Sie kann uns überwältigen oder überwunden werden. Es ist eine Frage der demokratischen Reife.

Ebenfalls verbreitet – und ein bedrohliches Problem für die heutige Demokratie – ist der Zorn. Zorn, sagt Nussbaum, sei letztlich eine Entwicklungsform von Angst. Er taucht in der Psychologie des Kleinkindes später auf, weil Zorn erst möglich wird, wenn man zu kausalen Zuschreibungen fähig ist, wenn für das Gefühl der Angst und des Ausgeliefertseins an die Welt ein Sündenbock verantwortlich gemacht werden kann, dem man eben zürnt. Allerdings gesteht Nussbaum dem Zorn eine ambivalente Rolle zu. Er kann produktiv sein, indem er uns dazu anstachelt, die Welt zum Besseren zu verändern. Er kann aber auch narzisstisch und regressiv sein, wenn er sich in Bestrafungsfantasien gegenüber dem Objekt unseres Zorns erschöpft. Zorn ist transformativ – oder rachsüchtig.

Das ist besonders deshalb eine Bedrohung für das Zusammenleben, weil viele Dinge auf dieser Erde schiefgehen können, ohne dass jemand dafür verantwortlich wäre. Die menschliche Psyche hat Schwierigkeiten, das zu akzeptieren. Sie stützt sich intuitiv auf die «Gerechte-Welt-Hypothese», auf die Theorie, dass ohne böswillige Fremdeinwirkung alles gut wäre auf dieser Welt. Dann sucht sie sich einen Übeltäter und rächt sich an ihm dafür, dass die Dinge so sind, wie sie sind – und leider eben nicht zwingend gut.

Als Beispiel von produktivem Zorn zitiert Nussbaum die Kriegsreden von Winston Churchill. Es sind Monumente des bedingungslosen Sichaufbäumens gegen die Nazibedrohung, aber sie sind frei von Rachsucht. Als Beispiel von regressiver Rachsucht zitiert sie die Reden von Donald Trump, der manisch davon besessen ist, seine vermeintlichen Gegner zu bestrafen, und ihnen immer irgendetwas heimzahlen will.

Nussbaum analysiert aber auch noch andere Grundaffekte, die unser politisches Zusammenleben prägen: den Ekel und den Neid. Auch der Ekel entspringt der Angst, allerdings ist es eine Angst, die nicht durch den realen oder vermeintlichen Fehler eines Dritten ausgelöst werden muss wie beim Zorn, sondern eine tief verwurzelte, immer präsente Angst vor der eigenen Körperlichkeit und der eigenen Sterblichkeit, die auf ganze Gruppen projiziert werden kann, zum Beispiel auf Angehörige anderer Ethnien oder anderer sexueller Orientierung.

Neid führt Nussbaum ebenfalls auf Angst zurück. Es ist die Angst, seinen Teil an notwendigen oder erstrebenswerten Dingen nicht zu bekommen, die sich in Aggression und Bestrafungsfantasien entlädt gegenüber denjenigen, die diese Dinge haben. Es ist die Urerfahrung der infantilen Bedürftigkeit und Machtlosigkeit, die sich auch in der Eifersucht manifestiert.

Bemerkenswert ist, dass Nussbaum jeden biologischen Determinismus zurückweist. Zwar sind Emotionen wie Angst, Ekel und Neid in den tiefsten Schichten unserer Persönlichkeit verwurzelt, aber sie sind nicht angeboren, sondern bleiben in ihren Ausprägungen individuell und zufällig, werden geformt durch Erfahrungen, Erziehung und Lebensumstände. Selbst da noch, wo diese Emotionen gegeben sind, können ganz unterschiedliche Formen des Umgangs mit ihnen entwickelt werden. Unsere moralischen Emotionen bestimmen uns, aber sie sind nicht unser Schicksal.

Schliesslich ist Angst zwar ein potenziell zerstörerisches, aber auch ein unverzichtbares Gefühl. Sie ist die Kehrseite der affektiven Bindung. Wer anderen Menschen nahesteht, der fürchtet für sie. Philosophien wie der Stoizismus, der die Angst überwinden wollte, weisen im selben Zug die Liebe zurück.

Um sinnvoll zusammenleben zu können, sagt Nussbaum, würden wir die Angst brauchen – aber nur in gesunden Dosen. Für ein Gemeinwesen, das von ihr beherrscht wird, ist sie eine vernichtende Bedrohung.

Debatte: Diskutieren Sie mit Daniel Binswanger

Stimmen Sie mit seinen Einschätzungen überein, oder erscheinen Ihnen seine Argumente nicht schlüssig? Sind bestimmte Ausgangshypothesen falsch? Entbrennt in Ihnen heftiger Widerspruch? Und welche Themen vermissen Sie in seiner Kolumne? Hier geht es zur Debatte.

Illustration: Alex Solman

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