Die Stadt, die alle zu ihren Bürgern machte

2007 führte New Haven im US-Bundesstaat Connecticut gegen zahlreiche Widerstände eine ID für alle ein – und verhalf damit Papierlosen zu mehr Rechten. Viele Städte folgten dem Beispiel.

Von Michael Rüegg, 20.09.2018

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John DeStefano Jr. ist überzeugt, dass man mit grosser Sorgfalt für jeden Anlass den richtigen Raum auswählen muss. Für Veranstaltungen zu Steuern oder Budgetfragen bevorzugt er eine Kirche, weil sich die Leute dort zu benehmen wissen. Für Nachbarschaftsthemen am liebsten die Mensa einer Schule – auf gar keinen Fall aber die Aula, in der man auf einer Bühne ausgestellt und vom Publikum getrennt ist.

Der ehemalige Bürgermeister von New Haven, Connecticut, empfängt den Reporter aus Übersee im Rosenkranz-Gebäude der Yale-Universität. Ein Sitzungsraum mit Glasfront. Im Gegensatz zu den unzähligen Unibauten, die an die Zauberschule Hogwarts erinnern, wirkt das Rosenkranz-Gebäude modern, nüchtern.

Soll der Raum die Sachlichkeit der Geschichte unterstreichen, um die es hier geht? Soll er zeigen, dass man das Gegenteil dessen tun und sein kann, was die anderen um einen herum tun und sind?

«Nein», sagt John DeStefano. «Das Gebäude ist zentral gelegen, und im Untergeschoss unterrichte ich meinen Kurs.»

Der Mann ist nicht nur Taktiker. Er denkt auch pragmatisch. 

Einwohnerinnen ohne Rechte

Anfang sechzig ist John DeStefano heute. Je zur Hälfte sizilianischer und neapolitanischer Abstammung. Seine Grosseltern kamen als Wirtschaftsflüchtlinge mit dem Schiff aus Italien in die USA. John, wie er sich vorgestellt hat, trägt sein angegrautes Haar kurz, hat einen wachen Blick, eine schnelle Zunge. Die Krawatte blieb im Schrank, hier an der Uni trägt man so etwas nicht. Und bevor er auch nur einen Satz erzählt, stellt er Fragen: Warum bist du hier? Wie viele Flüchtlinge hat die Schweiz aufgenommen? Wie ist eure wirtschaftliche Situation? Was macht die Politik, was nicht?

«Die City ID entschädigt mich für alle Fehler, die ich als Bürgermeister gemacht habe», sagt John DeStefano Jr. Mary Altaffer/AP Photo/Keystone
Um die Karte zu beantragen, genügen etwa ein Pass oder eine Kombination aus ausländischem Führerschein und Stromrechnung oder Lohnausweis. Bob Child/AP Photo/Keystone

Zwanzig Jahre regierte John DeStefano als Bürgermeister New Haven und seine rund 130’000 Einwohner, zwei Stunden Zugfahrt nördlich von New York City. Die erste als Stadt geplante Siedlung Nordamerikas. New Haven trägt den Übernamen «Elm City», der vielen Ulmen wegen, die die Strassen einst säumten. Bis ein eingeschleppter Pilz sie dahinraffte.

Berühmt ist New Haven für seine Eliteuniversität Yale. Berüchtigt für die hohe Zahl an Gewaltverbrechen. Und bekannt für seine zahlreichen undocumented immigrants – oder Sans-Papiers, wie sie in der Schweiz heissen.

Hier entstand, was sich Aktivistinnen auch für Schweizer Städte wünschen: die City Identification Card, kurz City ID. Allerdings wurde sie nicht so sehr aus ideologischen oder humanitären Gründen geboren. Sondern aus praktischen.

Im Jahr 2006 tat sich eine Tür auf, die DeStefano zu höheren politischen Weihen hätte führen können. Damals wählten ihn die Demokraten zum Kandidaten fürs Gouverneursamt des Staates Connecticut. Wäre er nicht als grosser Verlierer aus dem Rennen gegen seinen republikanischen Herausforderer hervorgegangen, hätte die Geschichte möglicherweise einen anderen Verlauf genommen. Doch DeStefano blieb auf seinem Bürgermeisterstuhl in New Haven sitzen und konnte dort durchsetzen, was später Dutzende andere Städte kopierten: die ID für alle, auch für Papierlose.

Leichte Zielscheibe für Kriminelle

Es war eines von zahlreichen Tötungsdelikten in der New Havener Kriminalstatistik des Jahres 2006. Doch der Mord an Manuel Santiago am 18. Oktober 2006 gilt als Symbol dafür, wie bitter nötig ein Wandel im Umgang mit Papierlosen war. Der Mexikaner war fünf Jahre zuvor nach New Haven gekommen, arbeitete in einer Bäckerei und besuchte wie viele seiner Freundinnen und Nachbarn die «Santa Rosa», die katholische Kirche der heiligen Rosa von Lima – Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet, um sich um irische Einwanderer zu kümmern. Sie liegt im Stadtteil Fair Haven, wo heute die meisten Einwanderinnen aus Lateinamerika leben.

Als Papierloser konnte Manuel Santiago kein Bankkonto eröffnen. Er war gezwungen, seine Gehaltschecks in bar zu kassieren. Kaum hatte er an jenem Tag seinen Lohn in der Hand, wurde er niedergestochen. Der Täter wusste, dass Sans-Papiers wie Manuel Santiago leichte Opfer sind.

Das war vielleicht der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die Bevölkerung hinter den Plänen ihrer Stadtregierung versammelte. Seit Jahren waren undokumentierte Einwanderer in New Haven regelmässig Opfer von Überfällen. Frauen, die vergewaltigt oder in Beziehungen verprügelt wurden, trauten sich nicht, zur Polizei zu gehen. Und die Polizistinnen wussten nicht, mit wem sie es in den communities zu tun hatten. Die Zugewanderten gingen den Beamten aus dem Weg, wo sie nur konnten.

«Als Polizist musst du wissen, wer die Leute in der Nachbarschaft sind», sagt John DeStefano. Community policing heisst der Ansatz, der längst auch von Schweizer Ordnungshüterinnen übernommen wurde. Polizeikräfte stehen im Austausch mit den Menschen der Nachbarschaft, in der sie im Einsatz sind. Ziel ist ein partnerschaftliches Verhältnis. «Polizisten sind keine Soldaten», sagt der langjährige Bürgermeister. Respekt und civility aufrechtzuerhalten, das sei die tägliche Aufgabe der Polizei. Civility lässt sich etwas unbefriedigend mit «Höflichkeit» übersetzen.

Aber dafür muss man sich kennen, sagt DeStefano: «Wenn sich die Leute vor der Polizei fürchten, braucht es nicht viel, und die Polizei muss sich vor den Leuten fürchten.»

Den Anstoss gab die Zivilgesellschaft

Die heilige Rosa von Lima ist die Schutzpatronin der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas. Kein Wunder also, ging die Initiative, mit der alles begann, von der Kirchgemeinde Santa Rosa aus. Denn Kirche meint in den USA in der Regel nicht das Gebäude, sondern die Gläubigen und ihren Zusammenhalt. Zwei Organisationen, die sich für die Rechte von Migrantinnen einsetzen, engagierten sich ebenfalls an vorderster Front. Als junger Bürgermeister war DeStefano in den Neunzigern überzeugt, dass er führen muss, indem er anführt. Mit der Zeit merkte er, dass man manchmal besser führt, indem man folgt. Also folgte er 2006 den Aktivisten.

Die City ID stiess von Anfang an auf grosse Akzeptanz: Nicht nur Papierlose, sondern auch viele legal anwesende Bürger liessen sich aus Solidarität eine ausstellen. CJ Gunther/EPA/Keystone
Zwei Stadtangestellte helfen Immigranten dabei, die Antragsformulare auszufüllen. CJ Gunther/EPA/Keystone

Der Bürgermeister und sein Polizeichef sahen die Notwendigkeit eines Wechsels im Umgang mit undokumentierten Migrantinnen. Schliesslich waren diese Menschen Teil der Bevölkerung, der Gemeinden. Sie hatten Jobs, ihre Kinder besuchten die Schulen, sie waren Teil von sozialen Netzwerken, des sozialen Kapitals der Stadt. Doch sie hatten kaum Rechte und mussten stets fürchten, deportiert zu werden: «Für uns sind das Bürger, egal, was die Bundesregierung denkt», sagt DeStefano.

Gemeinsam mit den Aktivistinnen erarbeitete die Stadtverwaltung einen Massnahmenplan:

  • Offizielle Texte sollen sukzessive ins Spanische übersetzt werden (die Mehrheit der undokumentierten Einwanderer stammte aus Mittel- und Südamerika). Die ersten spanischen Dokumente waren Geburts- und Sterbeurkunden.

  • Gegenüber der Polizei sollte die «Order 06-2» erlassen werden, die keinen Unterschied zwischen Einwohnerinnen mit und ohne legalen Aufenthaltsstatus macht. Wer nicht eines Verbrechens verdächtigt wird, dessen Aufenthaltsstatus soll nicht geprüft werden.

  • Und: eine ID für alle in New Haven, die als offizieller Ausweis dient.

Speziell die Order gegenüber der Polizei lässt aufhorchen: Schliesslich gelten in einer Stadt nicht nur die Gesetze der Gemeinde und des Staates, sondern auch diejenigen des Bundes. Doch der Pragmatiker DeStefano hat eine simple Antwort: Wenn die Bundesregierung ihre Einwanderungspolitik nicht im Griff habe, könne sie die Verantwortung nicht an die Kommunen und ihre Polizeikorps delegieren. «Eure Fehler sind nicht unser Problem», fasst DeStefano zusammen.

Während die ersten beiden Massnahmen bei Medien und Bevölkerung auf wenig Echo stiessen, hatte es die ID in sich. Allerdings hatte die «Order 06-2» die Aufmerksamkeit der Einwanderungsbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement) auf sich gezogen. Doch davon wusste man im Stadthaus von New Haven Ende 2006 noch nichts. Die Folgen würden erst später spürbar werden.

Die Rache der Bundesbehörden

DeStefano hatte sich die Lancierung der ID gut überlegt. Aus taktischen Gründen wollte er dafür vorderhand keine Steuermittel verwenden. Finanziert wurde das Unterfangen via die Spende eines Finanzinstituts. Das 30-köpfige Stadtparlament, das Board of Alders, hatte lediglich deren Annahme zu beschliessen.

Keine 36 Stunden nachdem das Board of Alders der City ID seinen Segen erteilt hatte, am 6. Juni 2007 um 8.15 Uhr morgens, klingelte im Büro des Bürgermeisters das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war ein aufgebrachter Bürger. Was das für Razzien seien, die da gerade im Stadtteil Fair Haven in Gang waren, wollte der Mann wissen.

DeStefano rief seinen Polizeichef an. Doch der wusste von nichts.

Wie sich herausstellte, war die Einwanderungsbehörde ICE seit 5.30 Uhr an jenem Morgen damit beschäftigt, sich ohne richterliche Genehmigung Zugang zu Wohnungen zu verschaffen. Als Grundlage für den Einsatz diente eine veraltete Liste von 25 flüchtigen Personen. An jenem Morgen und am darauf folgenden Tag verhafteten die Bundesbeamten insgesamt 32 Einwohnerinnen von New Haven. 27 von ihnen hatten noch nie zuvor Kontakt mit der ICE gehabt. Sie waren Kollateralverhaftungen im Rahmen der Operation.

Mütter wurden vor den Augen ihrer weinenden Kinder in Handschellen abgeführt. Die Verhafteten verteilt auf Gefängnisse in ganz Neuengland – damit es Bürgerrechtsgruppen schwerer haben, sie aufzuspüren und ihre Entlassung gegen Kaution zu erwirken. Entgegen ihrer eigenen Praxis hatte die ICE die lokalen Behörden nicht vorab informiert.

Jetzt gingen die Bürger von New Haven auf die Barrikaden. 1500 Kirchengängerinnen von Santa Rosa protestierten in den Strassen gegen die ICE-Razzien. Zahlreiche Geschäfte blieben geschlossen, weil deren Angestellte fürchteten, aufgegriffen und deportiert zu werden.

E-Mails von ICE-Mitarbeitenden, die später publik gemacht wurden, vermochten die Wut der Stadtbewohner über die herzlose Einwanderungsbehörde nicht zu mindern – im Gegenteil:

«Hey Carmine ... wir haben (...) eine Operation in New Haven auf der Agenda. Ich weiss, dass ihr nachts arbeitet, aber wir hätten euch gerne dabei! Wir haben 18 Adressen – sollte also ein Spass werden! Lass mich wissen, ob ihr mitspielen könnt.»

Es war nicht zuletzt der Tonfall der Einwanderungsbeamtinnen, der die Menschen von New Haven gegen sie aufbrachte. Schliesslich richteten sich deren Aktionen gegen Nachbarn, Freundinnen, Familienmitglieder – oder den Typen, der einem am Morgen den Kaffee verkauft.

Auf Druck der Bevölkerung schalteten sich die Kongressabgeordneten und Senatoren des Staates Connecticut ein. Sie forderten vom Department of Homeland Security, zu dem die ICE gehört, das Vorgehen einzustellen.

«Das war kein Zufall», sagt DeStefano noch heute über die Razzien. Das war ein gezielter Vergeltungsschlag.

Doch der ging gründlich in die Hose. Denn nun hatte die ICE-Chefetage nicht nur eine Stadtverwaltung und einige beherzte Aktivistinnen gegen sich. Sondern eine ganze Stadt. Und ihre gewählten politischen Vertreter in Washington D.C. Die Behörde gab daraufhin bekannt, die Razzien in New Haven per sofort auszusetzen.

Ohne es zu beabsichtigen, hatten die ICE-Leute mit ihrem so brutalen wie unüberlegten Vorgehen die erste sanctuary city der USA geschaffen, in der Papierlose einigermassen ungestört leben können. «Obwohl», wie DeStefano meint, «wir uns selber nie als das bezeichnet haben.»

Alle wollen eine ID

Am 24. Juli 2007, knapp anderthalb Monate nach den Razzien, war es so weit. Einwohnerinnen konnten die City ID beantragen. Nötig dafür waren lediglich Dokumente wie eine Geburtsurkunde und Miet- oder Arbeitsverträge.

Um 6.30 Uhr an jenem Morgen fuhr der Bürgermeister mit dem Auto vors Stadthaus. Er traute seinen Augen nicht: Hunderte Personen bildeten eine Schlange vor dem Eingang. Und dies, obwohl die Schalter erst um 9 Uhr öffneten. Um die Menschen herum standen Gegner der City ID, schrien auf die Leute ein und filmten sie. «Doch keiner von den Protestierenden war aus New Haven», hält DeStefano fest.

Die Elm City Resident Card, wie sie vor allem aus Marketinggründen genannt wurde, war geboren. Und alle wollten eine, egal, ob legal oder illegal anwesend. Teils aus Solidarität, teils, weil die Karte auch für andere Zwecke gebraucht werden konnte. Etwa, um Parkuhren zu füttern oder Bücher auszuleihen.

Bereits vier Monate nach dem Start in New Haven beschloss auch San Francisco die Einführung einer City ID. Wenige Jahre später folgte Los Angeles. Zu den Grossstädten mit City ID zählen mittlerweile auch Detroit, Washington D.C., New York sowie zahlreiche kleinere Städte und Bezirke.

Im Jahr 1638 hatten puritanische Siedler aus England auf dem Papier ihre neu gegründete Siedlung namens New Haven gezeichnet. Sie sollte die erste auf dem Reissbrett geplante Stadt der späteren Vereinigten Staaten werden.

Und 2007 war New Haven die erste Stadt der USA, die keinen Unterschied mehr zwischen legal und illegal anwesenden Bürgerinnen machte.

Mit seiner Politik und speziell der City ID hat sich der ehemalige Bürgermeister John DeStefano ein Denkmal gesetzt. Ist er stolz darauf? Einmal mehr antwortet der Mann pragmatisch:

«Sie entschädigt mich für all die Fehler, die ich als Bürgermeister gemacht habe.»

Sans-Papiers und City ID in der Schweiz

Eine vom Staatssekretariat für Migration in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2015 kommt zum Schluss, dass grob geschätzt allein im Kanton Zürich rund 28’000 Menschen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung leben. Viele leben seit Jahren in der Schweiz, sind berufstätig, einige haben schulpflichtige Kinder.

Kantone haben die Möglichkeit, Aufenthalte von Papierlosen im Rahmen der Härtefallregelung durch den Bund bewilligen zu lassen. Derzeit machen aber nur Genf und die Waadt grossflächig davon Gebrauch. In den Städten Zürich und Bern fordern Aktivistinnen seit längerer Zeit Massnahmen wie etwa die Einführung einer City ID nach amerikanischem Vorbild, um Sans-Papiers den Zugang zu Grundrechten zu ermöglichen.

Eine «Züri City Card», wie sie gefordert wird, findet hingegen der Zürcher Stadtrat keine gute Idee. Sie könne die Erwartungen nicht erfüllen, da ihre ausländer­rechtliche Schutzfunktion fraglich sei. Schweizer Städte könnten sich nicht zu sanctuary cities erklären, schreibt die Stadtregierung in einer kürzlich erschienenen Medienmitteilung. Grüne, Alternative Liste und SP hatten im Juli eine dringliche Motion zur Einführung einer City ID eingereicht.

Weniger skeptisch als die Zürcher Stadtregierung sind ihre Berner Kollegen. Die Einführung einer «City Card» für alle ist dort bereits als Integrationsziel für die Periode 2018 bis 2021 festgelegt.

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