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Ein Gespräch mit dem jüdischen Lyriker und Politaktivisten Max Czollek über das Selbstbild der Deutschen, das Integrationstheater und die Gefahr von rechts.

Von Sieglinde Geisel, 10.09.2018

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«Ich habe die Marginalisierung der Ostdeutschen in meinem familiären Umfeld mitbekommen»: Max Czollek ist von den rechtsradikalen Ausschreitungen nicht überrascht. Hans Praefke

Seine Kampfschrift «Desintegriert euch!» hat den Berliner Lyriker Max Czollek fast über Nacht zu einem gefragten Interviewpartner gemacht. Wer die Forderung nach Integration anzweifelt, sticht in ein politisches Wespennest, und die Ereignisse von Chemnitz haben die Debatte über den Rechtsruck in Deutschland zusätzlich aufgeheizt.

Über Chemnitz hat Max Czollek auf «Zeit online» einen Artikel geschrieben mit dem Titel «Wer überrascht ist, der hebe den rechten Arm». Gerade weil ihn die rechtsradikalen Ausschreitungen nicht überrascht hätten, falle ihm zu Chemnitz eigentlich gar nicht so viel ein, sagt er im Café in Berlin Kreuzberg, in dem wir uns zum Gespräch treffen. Er habe nie an das neue Selbstbild der geläuterten Deutschen als Erinnerungsweltmeister geglaubt. «Schon die #Metwo-Debatte um den Fussballer Mesut Özil hat doch gezeigt, dass die Zugehörigkeitsvorstellungen in Deutschland viel homogener sind, als es das Narrativ vom guten Migranten und von der Migrationsgesellschaft behauptet.»

Ein Viertel der Deutschen habe heute einen Migrationshintergrund, auch gegen sie habe sich die Hetzjagd von Chemnitz gerichtet. «Sogar in der kritischen Berichterstattung über Chemnitz war oft von einer Hetze gegen Ausländer die Rede. Damit jedoch übernehmen die Medien das rechte Narrativ, dass Migranten keine Deutschen sein können.» Das Integrationsdenken gehe von der Vorstellung eines Zentrums aus, das definiert, wer zu Deutschland gehört. «Und wenn du schwarze Haare hast und Muslim bist, dann gehörst du auch in der vierten Generation nicht wirklich dazu. Oder eben nur dann, wenn du Tore für die Nationalmannschaft schiesst.»

Wie man zum Juden gemacht wird

Auf den ersten Seiten von Czolleks Kampfschrift «Desintegriert euch!» heisst es, dies sei «ein Buch von einem, der auszog, kein Jude zu werden», und der dann doch Jude geworden sei.

Wie wird einer, der 1987 in der DDR geboren wurde, zum Juden?

Mit sechs Jahren sei er in die eben gegründete jüdische Schule gekommen, erzählt Max Czollek. Die Heinz-Galinski-Schule (damals noch Jüdische Schule Berlin an der Grossen Hamburger Strasse, wo sich heute das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn befindet) war nicht nur die erste jüdische Gesamtschule in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, sie sei auch ein Anlaufpunkt für deutsche Fernsehteams gewesen, die wissen wollten, ob die Juden sich wohlfühlten in Deutschland. «Andere werden das nicht gefragt, und ich hätte mich das auch selbst nicht gefragt, wenn es nicht von aussen an mich herangetragen worden wäre. Ich habe gelernt, Fragen zu beantworten, bevor ich sie mir selbst gestellt habe.»

Solche Fragen zielten darauf ab, die jüdische Rolle innerhalb des Koordinatenfeldes Shoah, Antisemitismus und Israel zu entwerfen. «Manche antworten schon, bevor die Fragen gestellt werden, weil sie gelernt haben, dass in Deutschland auf diese Weise eine jüdische Position abgebildet wird.»

Juden sind keine Migranten

Die Deutschen brauchen die Juden für ihre Vergangenheitsbewältigung, so die These, die Max Czollek in seinem Buch ausführt. Wie hältst du es mit den Juden? Seit 1945 sei das die Gretchenfrage an die Deutschen. Czollek benützt dafür den Begriff «Gedächtnistheater», den der Soziologe Michal Bodemann bereits 1996 geprägt hat (das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich). «Die Pointe im Gedächtnistheater ist immer die Versöhnung. Im Grunde fragt man die Juden: ‹Ist nun alles wieder gut?›» Sogar die AfD trage Kippa: Mit der Floskel vom jüdisch-christlichen Abendland instrumentalisiere sie die Juden für den Kampf gegen den Islam.

«Niemals würde man die Juden als Migranten bezeichnen, obwohl sie es in ihrer überwiegenden Mehrheit sind.» Neunzig Prozent der 100’000 heute in Deutschland lebenden Juden kamen in den Neunzigerjahren als Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion und haben demgemäss einen Migrationshintergrund. Dabei habe man die Juden aktiv nach Deutschland geholt, weil man sie für das deutsche Selbstbild brauchte. «Und dann sagte Gauck, es sei ein Geschenk, dass wieder Juden nach Deutschland kämen! Aber Juden sind keine Geschenke, schon gar nicht für Deutsche.»

Leitkultur und «Integrationstheater»

Zur homogenen Vorstellung von Integration gehört die viel beschworene Leitkultur eines christlichen Abendlandes. Für Czollek ein Phantasma: Es sei absurd, in einer Gesellschaft, in der das Christentum als Religion schon lange keine echte Relevanz mehr habe, von einer jüdisch-christlichen Leitkultur zu reden. «Wir leben in einer postchristlichen, säkularen Gesellschaft. Und Markus Söder hängt Kreuze in Bayerns Behörden auf – als wäre die Abwehr des Islams ein Anlass für ihn, dem Christentum in Deutschland wieder zu einem Siegeszug zu verhelfen.»

Wie die Juden haben auch die Migranten eine Funktion für die Mehrheitsgesellschaft. Analog zum Gedächtnistheater mit den Juden gebe es auch ein «Integrationstheater» mit den Migranten, sagt Czollek. Das Ziel der Inszenierung bestehe dabei in der Abgrenzung der «guten» Deutschen von den «bösen» Muslimen. Auch die «guten» Migrantinnen haben ihre Rolle in diesem Theater, sie sollen das weltoffene Selbstbild der Deutschen bestätigen: «Es gibt die Figur des geläuterten Migranten, der dann quasi mitspielen darf. Auf dem AfD-Plakat mit dem Slogan ‹Islamfreie Schulen› ist es der migrantisch konnotierte Typ rechts in der Ecke. Der ist zwar noch dabei, aber er muss sich hinten anstellen.»

Czollek will nicht abstreiten, dass es in der islamischen Community Probleme gibt und man darüber reden müsse. Aber auch muslimische Islamkritiker wie Ahmad Mansour oder Necla Kelek erfüllten eine Funktion im Integrationstheater. Der Kontext einer Äusserung spiele dabei eine entscheidende Rolle: «Auch im jüdischen Kontext macht es einen Unterschied, ob ich das Thema Israel mit meinen Freunden kontrovers diskutiere oder ob ich in einem Zeitungsinterview Kritik an Israel übe. Denn in der deutschen Öffentlichkeit bedeutet das Reden über Israel etwas ganz anderes, als wenn ich das im vertrauten Rahmen tue.»

Die Marginalisierung der Ostdeutschen

Was bedeutet Max Czollek sein eigenes Judentum? Nun, er kenne die Rituale und wisse, wie man in der Synagoge bete: «Besonders jüdisch fühle ich mich bei den wöchentlichen Treffen auf den Friedhöfen. Oder im Maxim-Gorki-Theater Berlin. Da planen wir die Weltverschwörung.» Nicht von ungefähr weicht er bei dieser Frage in den Sarkasmus aus. Schon in seinem Buch betont er, dass er nicht über seine Biografie sprechen wolle, sondern über die Zuschreibungen von aussen.

Ich hake trotzdem nach und präzisiere meine Frage: «Wann merken Sie, dass Sie Jude sind?» Diesmal lässt sich Max Czollek Zeit mit der Antwort. Das lasse sich schlecht destillieren, was auch daran liege, dass der familiäre Faden zum Judentum so dünn geworden sei. Sein Jüdischsein habe mehr mit der kommunistischen Geschichte seiner Vorfahren zu tun, den Liedern und Weltbildern, in die er hineingewachsen sei. Also auch mit einer spezifisch ostdeutschen Tradition des Jüdischen.

Dass die Rechte gerade in Sachsen so stark ist, überrascht ihn aus seiner ostdeutschen Sicht genauso wenig wie das Aufbrechen der rechten Aggression überhaupt. Die Situation in Ostdeutschland sei ein Resultat von Diskriminierungserfahrungen der Ostdeutschen nach der Wende in Kombination mit unbewältigten politischen Denktraditionen.

Wenn er sich als Ostdeutscher bezeichne, müsse auch er sich regelmässig anhören, das spiele doch keine Rolle mehr, insbesondere für einen, der zwei Jahre vor dem Mauerfall geboren sei. «Doch es spielt eine Rolle. Ich habe die Marginalisierung der Ostdeutschen in meinem familiären Umfeld mitbekommen. Die Generation meiner Eltern hat erlebt, wie ihnen ihre Fähigkeiten aberkannt wurden. Ihr Wissen galt nicht mehr als relevant, sie hatten von einem Tag auf den anderen keine Geschichte mehr.»

Darüber werde viel zu wenig nachgedacht. «Und wenn, dann holt man es immer zum falschen Zeitpunkt hervor, zum Beispiel jetzt, weil Sachsen ein Imageproblem hat wegen Chemnitz.» Zur Marginalisierungserfahrung nach 1989 komme die fehlende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. «In der DDR war der Antifaschismus als Entlastungserzählung allgemein akzeptiert. Damit musste man sich dem Faschismus in den eigenen Reihen nicht stellen.»

Brücken bauen, mit Rechten reden? Nein!

Die Wortschöpfung «Desintegration» geht auf einen Kongress zurück, den Max Czollek zusammen mit der Schriftstellerin und Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann 2016 am Maxim-Gorki-Theater veranstaltet hat. «Die Deutschen brauchen uns für ihre Identität, aber sie interessieren sich einen Scheissdreck für unsere Kultur!», so Salzmanns Vorwurf, den man zu Beginn des Dokumentarfilms über den Kongress aus dem Off hört.

«Desintegriert euch!» sei kein politisches Programm, sagt Czollek. Bei der Desintegration gehe es vielmehr um die konkrete Utopie einer Gesellschaft der «radikalen Diversität», einer institutionalisierten Anerkennung von Vielfalt und grösstmöglicher Diskriminierungsfreiheit. Diese Utopie berge keineswegs das Versprechen eines konfliktfreien Zustands. «Gesellschaft ist eine Zumutung. Auch U-Bahn-Fahren ist eine Zumutung, vor allem an einem heissen Nachmittag im Sommer. Aber diese Zumutung muss man ertragen. Was sich im Rahmen der Gesetze abspielt, habe ich in einem Rechtsstaat auszuhalten, auch wenn es mir fremd ist.» Desintegration sei der Versuch, Fragen von Zugehörigkeit so zu denken, dass auch das migrantische Viertel der deutschen Gesellschaft mit einbezogen wird.

Im Weiteren sei Desintegration ein Aufruf, das deutsche Selbstbild zu hinterfragen. «Wir leben in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft, die ihre eigene historische Verortung nicht mehr reflektiert», so Czolleks Diagnose. In den Neunzigerjahren sei man über brennende Flüchtlingsheime noch erschrocken. Inzwischen nehme man diese Angriffe nicht einmal mehr als Widerspruch wahr zum Bild des antirassistischen und anti-antisemitischen Landes. «Auch die Rechten oder das Fünftel AfD-Wähler und -Wählerinnen vermögen dieses Selbstbild anscheinend nicht grundlegend zu erschüttern.»

Angesichts dessen wundert es Czollek nicht, dass die einzige Strategie, mit der die Politik den Rechten derzeit entgegentrete, der Versuch der Einhegung sei: «Man hofft, mit einem Heimatmuseum oder einer linken Sammelbewegung die Rechten in den demokratischen Konsens zurückzuholen. Mit diesem Konzept sind die SPD und die KPD in den Zwanzigerjahren schon gescheitert.»

Max Czollek will keine Brücken bauen, er will nicht «mit Rechten reden», wie es nach einem sprichwörtlich gewordenen Buchtitel aus dem vergangenen Jahr heisst. Für ihn stehen die Zeichen auf Kampf. Er fühle sich bedroht, gerade weil er die Rechten ernst nehme. «Ich halte sie nicht für frustrierte, verantwortungslose Menschen, die aus Protest rechts wählen. Die wollen wirklich eine andere Gesellschaft, und sie wissen, was sie tun. Vordenker wie Götz Kubitschek entwerfen Strategien. Sie verheimlichen nicht einmal, dass sie, wenn sie an die Macht kommen, Journalisten aus den Redaktionen holen und Leute an die Wand stellen wollen. Ich bin überzeugt: Die Listen liegen schon in den Schubladen.»

Was tun? Als Lyriker setzt Max Czollek auf die Kunst an der Schnittstelle zur Gesellschaft. In der Kunst gehe es darum, Räume zu schaffen, «wo Zugehörigkeit anders verhandelt» werde. Beispielsweise Theaterräume, in denen Migranten ihre Geschichte erzählen und Juden nicht über die immer gleichen drei Themen des Gedächtnistheaters Auskunft geben.

Glaubt Max Czollek daran, dass man mit Kunst Gesellschaft verändern kann? «Man müsste so handeln, als könnte man es», so seine dialektische Antwort. Es gehe um Handlungsfähigkeit. Er zitiert den Philosophen Emmanuel Levinas: In einer Welt, in der es den Guten nicht gelingt zu siegen, ist Gott die einzige Hoffnung. «In diesem Sinn bin ich wahrscheinlich sogar gläubig.»

Zur Autorin

Sieglinde Geisel, Kulturjournalistin und Buchautorin in Berlin, ist die Gründerin und Leiterin von «tell» – Onlinemagazin für Literatur und Zeitgenossenschaft. Am 4. Oktober 2018 erscheint im Zürcher Kampa-Verlag in Buchform das lange Gespräch zwischen ihr und Peter Bichsel: «Was wäre, wenn?». Ein bearbeiteter Auszug aus dem Gesprächsband erschien vorab in der Republik.

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