«Ich will Grenzen ausloten»

Matthias von Hartz, der neue künstlerische Leiter des Zürcher Theaterspektakels, über Stammtischgespräche, Postkolonialismus und seinen Wunsch nach Kontroversen.

Ein Interview von Andreas Klaeui (Text) und Kim Allamand (Bilder), 16.08.2018

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Heute geht es los: Das Zürcher Theaterspektakel (16. August bis 2. September) unter neuer künstlerischer Leitung. Was wird anders? Matthias von Hartz verantwortet das Programm, über dessen Dramaturgie er im Gespräch mit der Republik Auskunft gibt.

Matthias von Hartz, was bedeutet das Theaterspektakel für Sie?
Das Theaterspektakel liegt zwischen den Berliner «Foreign Affairs», die in einer Stadt, in der es schon viel gibt, ein relativ spezialisiertes Programm angeboten haben, und dem Festival von Athen und Epidaurus, dem nationalen griechischen Festival, dieser grossen Institution, die von Oper über klassisches Konzert, antikes Schauspiel im Amphitheater bis zur internationalen Avantgarde alles abdeckt. Zürich hat von beidem etwas. Die Kombination aus einem traditionell anspruchsvollen, hochkarätigen und durchaus auch sperrigen Programm und dem Fest für das breite Publikum gibt es selten. Sie interessiert mich.

Ist es dieser Spagat zwischen Kunst und Volksfest, was die Bedeutung des «Speki» für die Stadt ausmacht?
Eine wichtige Funktion ist, dass sich ein Publikum Dinge anschaut, die es sich sonst nicht angucken würde. Für «Foreign Affairs» habe ich Projekte koproduziert, die dort ein wirklich breites Publikum fanden, sonst aber selbst in einer Stadt wie Berlin nur ein 80-Personen-Nischenpublikum anzogen. Am Theaterspektakel hat es Sandro Lunin (der scheidende Theaterspektakel-Leiter, Anm. d. Red.) geschafft, auch für völlig unbekannte Namen aus dem globalen Süden mit anspruchsvollen Programmen ein Publikum aufzubauen.

Theaterspektakel 2018

«Mir ging es immer darum, Themen zu popularisieren und zugänglich zu machen. Aus der Nische herauszubringen, woran ich gesellschaftlich, politisch und künstlerisch glaube»: Der neue künstlerische Leiter des Zürcher Theaterspektakels, Matthias von Hartz, 1970 in Augsburg geboren, ausgebildeter Ökonom und Theaterregisseur, kommt von ausgeprägten Entdecker-Festivals und Formen-Labors wie den «Impulsen» in Nordrhein-Westfalen und den «Foreign Affairs» bei den Berliner Festspielen. Aber auch das breit und populär aufgestellte Allround-Festival in Athen und Epidaurus hat er mitgestaltet – mit einem internationalen Programm. 

In Zürich nun soll alles neu bleiben, wie die Stadt es liebt, und gleichwohl auch ein bisschen diskursiver werden. Postkoloniale Themen ziehen sich als nicht explizit deklarierter, aber unschwer auszumachender inhaltlicher Fokus durch das Theaterspektakel-Programm mit Teilnehmenden wie Felwine Sarr, Nikita Dhawan und dem Grand Old Man der postkolonialen Theorie, Achille Mbembe. Auch die Barbecue- und Trommelwiese am See soll wieder mehr mit Theater durchsetzt sein: mit Interventionen zum Beispiel des US-amerikanischen Schauspielers und Aktivisten «Reverend Billy» oder des Performers Zora Snake aus Kamerun.

Schauen die Zürcherinnen beim Theaterspektakel an, was sie nicht kennen, schlicht weil sie darauf vertrauen, es könnte interessant sein?
Ja, und das in einem stärkeren Ausmass als an den anderen mir bekannten Orten. Ich habe das Gefühl, man kann hier vieles anbieten, weil man mit der Neugier des Zürcher Publikums rechnen darf.

Wie stellen Sie in Ihrem Programm diese Breite her?
Es ist mein Ziel, dass mehr aus den Bühnenprogrammen auf die Wiese schwappt. Wir wollen auch unter freiem Himmel mehr Kunst machen, auch installativer arbeiten mit mehr bildender Kunst. Dieser Ansatz wurde schon vorher gepflegt, aber wir versuchen, an manchen Stellen weiterzugehen.

Welche Stellen meinen Sie? Wo wollen Sie mehr?
Wir bieten ein diskursives Programm an, das es bisher nicht gab. Es bezieht sich einerseits auf eine bereits bestehende Programmtradition, sucht anderseits aber einen neuen Umgang mit dem Publikum: Traditionell gibt es in Zürich viele Arbeiten aus dem globalen Süden und viele Arbeiten, die sich mit Migration und Kolonialismus beschäftigen – was andernorts vielleicht als postkoloniales Programm bezeichnet worden wäre, ohne dass Sandro Lunin es so thematisiert hätte. Ich habe mich entschieden, das weiterzuführen und gleichzeitig zu einem expliziten Debattenthema zu machen: Was bedeutet es, wenn wir uns Kunst anschauen, deren kulturellen Kontext wir nicht kennen? Warum kennen wir ihn nicht? Muss das so bleiben? Soll es vielleicht sogar so bleiben – oder was könnte man dagegen tun?

Wie vermitteln sich solche Inhalte?
Unsere Grundfrage war: Was können wir dem breiten Publikum, das hierherkommt und vielleicht Strassenkunst anschaut, darüber hinaus noch anbieten? Daraus entwickelten wir einerseits ein Konzept für Vorträge, anderseits das neue Stammtisch-Format. Ein sehr einfaches Format, durch das wir die Leute ins Gespräch zu bringen versuchen, mittels Gastgebern, die an den Tischen sitzen. Die Gastgeber bringen ein Thema oder eine Expertise mit, bieten aber ein niederschwelliges Gespräch an, an dem sich jeder beteiligen soll.

Wird ein solcher Austausch nicht in der «Bubble» bleiben?
Vielleicht ist es ja die Lebenslüge von Leuten mit meinem Beruf: daran zu glauben, dass Kunst neue Formen von Bewusstsein schafft, die sich anders nicht herstellen lassen. Ich habe aufgehört, selber zu inszenieren, als ich anfing, thematische Wochenenden zu konzipieren. Die hatten damals, 2001, mit dem Aufkommen des Begriffs «Globalisierung» zu tun. «Globalisierung» diente meist als Ausrede für etwas, das die Politik nicht beeinflussen zu können glaubte. «Das müssen wir tun, weil in China. Und mit der Globalisierung, so ist das …». Da begann ich mit Künstlern und Theoretikern Wochenenden über Globalisierung zu veranstalten, die eine ganz andere Perspektive entwickelten. Es war so was wie eine künstlerische Volkshochschule. Oder weniger despektierlich formuliert: Ich glaube schon, dass man mit Kunst und mit Künstlern einen anderen Zugang zu gesellschaftlichen Themen herstellen kann, als das üblicherweise angeboten wird. Anders als die Medien, Universitäten oder eben Volkshochschulen es können.

Kann das Theater die Welt verändern?
Ich kann nicht messen, wieweit solche Veranstaltungen eine politische Wirkung haben, aber ich kann sagen, dass die Resonanz damals wie heute gross ist, wenn ich mit ähnlichen Formaten arbeite. Ob es auch diesmal zu Kontroversen kommt, weiss ich nicht – aber bei der Menge von Leuten, die die Landiwiese besuchen, ist die Chance jedenfalls da. Das Publikum ist am Spektakel diverser als im klassischen Stadttheater oder im klassischen Off-Theater. Da glaube ich schon, dass man es schaffen sollte, durch die richtige Kombination von Kunst und Diskurs nochmal andere Denkprozesse anzustossen. Ob man damit die Gesellschaft verändert? Keine Ahnung. Aber zu sagen: «Das hilft eh nix und jetzt mache ich lieber Hoch-das-Bein», wäre für mich keine Alternative.

Die Podien und die Interventionen auf der Landiwiese folgen dem klassischen Weg der Debatte. Was sind die Positionen in der Kunst, mit denen Sie diesen Diskurs suchen?
Zum Beispiel Marta Górnicka, die das Spektakel eröffnet mit ihrer «Hymne an die Liebe»: Sie geht aus von der Frage, wie sich Gemeinschaft über Hymnen und Bekenntnisse oder politische Manifeste herstellt, und kommt als junge Polin nicht umhin, den Nationalismus in Europa zu verhandeln. Das tut sie mit Sprechchören, die eine grosse emotionale Kraft entwickeln. Ein tolles Beispiel für eine Künstlerin, die sehr scharf politisch arbeitet und gleichzeitig versucht, eine kraftvolle theatrale Umsetzung zu finden.

Eine andere Gruppe, die Sie sogar mit einer Werkschau einladen, ist Forced Entertainment. Wieso?
Das kann ich biografisch beantworten: Die Gruppe war schon wichtig für mich, als ich Regie studierte. Sie ist wichtig geblieben, weil sie in dem, was Theater heisst, immer wieder Neuland betritt. Sie ist aber auch wichtig für so was wie eine «Biografie» des Theaterspektakels: Die ersten internationalen Schritte hat Forced Entertainment hier gemacht. Als ich Tim Etchell sagte, dass ich jetzt beim Theaterspektakel arbeite, antwortete er: «Wow! That was the first time that we ever left Great Britain.» Und weiter: «And what’s even more important: The first time that we arrived and somebody said, you have a drink, we unload your truck!»*

Ist es auch ein grundsätzlicher Entscheid für die nächsten Jahre, von einem Künstler mehr zu zeigen als die neuste Arbeit?
Das soll ein Modell werden – aber nicht unbedingt mit einer Werkschau. Für das nächste Jahr rede ich mit dem Choreografen Boris Charmatz. Er wird eine Art Bespielung des Geländes vornehmen, auf mehreren Ebenen, mit unterschiedlichen Gruppen, Amateuren, Profitänzern und Theoretikern. Das Angebot lautet: Wir geben dir einen Raum – das kann eine Spielstätte sein oder das ganze Gelände für ein Wochenende, ein ganz kleiner Raum drei Wochen lang während 24 Stunden. Es ist der Versuch, zu sagen, wir wollen dich kennenlernen. Wir wollen sehen, wie du arbeitest, und nicht nur ein Produkt abgeliefert bekommen. Die meisten Festivals entwickeln sich – aus völlig nachvollziehbaren Gründen – zu Abspielstätten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Künstler zwar oft erst mal leer schlucken, aber gleichzeitig auch sehr froh sind, wenn man ihnen sagt: Okay, ich hab hier einen Raum, in dem können wir was ausprobieren.

Ein vielversprechendes Modell, aber vermutlich auch ein kostspieliges?
Damit kämpfen wir. Es ist in jeder Hinsicht aufwendiger, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Auch die Räume müssen transformiert oder sogar eigens gebaut werden – Dinge, die sich in einem Festival, das temporär stattfindet, teils gut, teils schwierig umsetzen lassen.

Heisst es auch, dass Sie am anderen Ende etwas abzwacken? Wird es weniger Produktionen geben?
Klar, man macht was und lässt was anderes weg. Dieses Jahr ist aber Folgendes passiert: Wir dachten eigentlich, wir hätten weniger Produktionen. Doch weil Forced Entertainment mit so vielen Stücken kommt, haben wir jetzt deutlich mehr Programmpositionen, als wir bei der herkömmlichen Raumbespielung gehabt hätten.

Was wird neben den diskursiven Formaten und dieser Form des Künstlerporträts neu?
Meine ästhetischen Vorlieben unterscheiden sich von denen meines Vorgängers. Das schlägt sich in anderen Künstlereinladungen nieder, aber auch in anderen Suchbewegungen. Was man in diesem Jahr schon sieht und was sich noch verstärken wird, sind Projekte, die sich an den Grenzen zu anderen Genres bewegen. Ich habe viel mit bildenden Künstlern gearbeitet, die Projekte fürs Theater gemacht haben, oder umgekehrt mit performativen Künstlern, die für Museumsräume arbeiten. Zum Beispiel Walid Raad, der gleichzeitig installativ und performativ vorgeht. Er ist mit einer Ausstellung hier, durch die er selber führt – als Performer.

Auch Sie bringen Musik. Was ist anders daran?
Ich will auch hier die Grenzen ausloten. Zum Beispiel zur Popmusik. Mit der Arbeit von Peaches auf der Seebühne, aber auch mit Kante & Khoi Khonnexion, die sich zwischen Diskurspop und afrikanischem Storytelling bewegen. Ihr Projekt ist eine Recherche zu afrikanischen Erzählstoffen, die sich an deutsche Märchen anlehnen: Wie kamen die Brüder-Grimm-Geschichten nach Namibia? Es erzählt viel über Kolonialgeschichte, und ich halte es für spannend, dass Künstler, deren Medium primär die Musik ist, eine solche Recherche unternehmen und daraus wiederum Musik machen.

Sie schreiben es nicht drauf, aber postkoloniale Themen sind ein klarer Fokus in Ihrem Programm.
Mich interessiert, wie koloniales Denken und koloniale Strukturen nach wie vor politische Diskurse prägen. In «Kritik der schwarzen Vernunft» beschreibt Achille Mbembe den Umgang mit dem «Neger» als Sinnbild für Ausgrenzung. Es geht nicht nur um Rassismus, sondern um Ausgrenzungsstrategien in jeglicher Form von politischem und ökonomischem Diskurs. Ich bin ja von Haus aus Ökonom, da interessiert mich die Frage, wie sich das heute in unserm Wirtschaftssystem niederschlägt. Oder wie ich selbst in solchen Strukturen denke, ohne mir bewusst zu sein, woher sie kommen. Sobald man den europäischen Kontext verlässt, wird klar, dass es mit dem Kolonialismus nicht vorbei ist.

Zum Autor

Andreas Klaeui ist Redaktor bei SRF 2 Kultur. Bis 2008 verantwortlicher Redaktor von «du – Die Zeitschrift der Kultur», seither Kritiker und Autor für verschiedene Medien, darunter «nachtkritik.de» und «Theater heute». Aktuell ist er der Schweizer Juror beim Berliner Theatertreffen.

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* Übersetzung: «Wow, dort sind wir erstmals ausserhalb Grossbritanniens aufgetreten. Und was noch wichtiger war: Zum ersten Mal hat man uns gesagt: Geht ihr etwas trinken, wir laden euren LKW aus.»

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