Das eindeutige Festival-Highlight: Das 14-stündige Epos «La Flor» von Mariano Llinás.

Film

Grosses Kino

293 Filme waren am Locarno Festival zu sehen. Das schafft niemand. Doch wer sich gezielt treiben lässt, entdeckt, was cineastisch alles möglich ist – und was nicht.

Von Alfred Schlienger, 13.08.2018

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Ein Festival besuchen heisst das meiste verpassen – und dennoch unverzagt nach den Perlen zu tauchen. Und auch wenn man in elf Tagen in acht verschiedenen Sektionen 32 Langfilme, 6 Kurzfilme und dazu noch den 14-Stunden-Koloss «La Flor» gesehen hat, ist bei insgesamt 293 Filmen die Verpassensquote zwangsläufig riesig. Ich gestehe: In einen einzigen Film habe ich mich richtig verliebt. Ja, er hat mich süchtig gemacht. Lüstern. Gierig. Hellwach. Auch nach nur vier Stunden Schlaf. Doch davon später.

1. Das All-Star-Team

Man muss die Sache vielleicht sportlich sehen. Und deshalb mache ich es hier wie nach einer Fussball-WM, wo am Schluss aus allen Nationalmannschaften ein All-Star-Team gewählt wird. Nicht alles an den Filmen, die ich hier selektioniere, ist toll, aber jeder hat Zaubermomente oder Erzähltechniken, die vielen Filmen guttun würden:

So unaufgeregt sexy kann Film sein: «Tarde para morir joven» von Dominga Sotomayor mit Demian Hernandez.

Bei «Tarde para morir joven» der Chilenin Dominga Sotomayor ist es die hinreissende Beiläufigkeit, mit der diese Coming-of-Age-Story erzählt wird. Eine schwebende, flirrende Kamera, die das Leben, Lieben, Zweifeln und Sehnen in einer Aussteigerkommune am Fusse der Anden nach dem Ende der Pinochet-Diktatur atmosphärisch ungemein dicht einfängt. So unaufgeregt sexy kann Film sein. Leider werden gegen das Ende hin die Erzählstränge dieses Wettbewerbsfilms etwas zu eindeutig gerafft. Dennoch: unbedingt hingehen, wenn der in unsere Kinos kommt. Die Jury sprach dem Film den Preis für die beste Regie zu.

Selten sind im amerikanischen Kino Haltung und Unterhaltung so bezwingend verwoben worden wie in Spike Lees «BlacKkKlansman», der auf der Piazza zu sehen war. Der Plot beruht auf einer wahren Begebenheit und zeigt, wie sich ein schwarzer Cop als Undercoveragent in den Ku-Klux-Klan einschleicht. Dass einem am Schluss das Lachen im Hals stecken bleibt, wenn Lee Originalbilder vom Aufmarsch der Rechtsextremisten in Charlottesville – und Trumps unsägliche Verwedelungsversuche dazu – einbaut, ist eine der besonderen Stärken dieses Films. Erfreulich, dass er sich auch den Publikumspreis holte.

Am Schluss bleibt einem das Lachen im Hals stecken: «BlacKkKlansman» von Spike Lee mit Adam Driver (l.) und John David Washington.
Nüchterne, manchmal fast poetische Dokumentation: «Ray & Liz» von Richard Billingham mit Ella Smith und Justin Salinger.

Auch ein Haltungsfilm, aber in ganz anderer Richtung, ist «Ray & Liz» des Briten Richard Billingham. Er stellt darin in der Form eines Spielfilms seine Eltern dar in ihrer ganzen sozialen und emotionalen Verwahrlosung, die er mit seinem Bruder in dieser Familie erlebt hat. Und dennoch wird es keine Abrechnung, sondern eine sehr nüchterne, manchmal fast poetische Dokumentation einer grenzenlosen Überforderung. Der Film erhielt zu Recht eine besondere Erwähnung durch die Jury.

Die Schweizerin Nicole Vögele brachte aus Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, mit «Closing Time» einen essayistischen Nachtfilm mit, in dessen Zentrum ein 24-Stunden-Imbiss steht. Darum herum fängt sie Strukturelles und Skurriles so dezent wie neugierig ein. Wenn die Bilder so gut gewählt sind, kann man auch fast ohne Handlungsfaden eine faszinierende Bildgeschichte erzählen. Im Wettbewerb «Cineasti del presente» gewann der Film den Spezialpreis der Jury.

Faszinierende Bildgeschichte: «Closing Time» von Nicole Vögele.
Träumerisches Labyrinth existenzieller Verwirrung: «A Land Imagined» von Yeo Siew Hua mit Peter Yu.

Aus Singapur kam «A Land Imagined» von Yeo Siew Hua. Der Film verknüpft höchst raffiniert Traum und Wirklichkeit, Thriller und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Ästhetik und Slow-Action. Andere machen aus solchem Material vier Filme, Yeo Siew Hua packt alles in ein träumerisches Labyrinth existenzieller Verwirrung. Die Jury beehrte diesen wagemutigen Spielfilmerstling mit dem Goldenen Leoparden, den der Jungregisseur vor voll besetzter Piazza sichtlich überwältigt entgegennahm.

Wie gut Erstlinge sein können, zeigt sich auch bei der durchaus unangenehm realistisch erzählten Vergewaltigungsgeschichte «Alles ist gut» von Eva Trobisch. Natürlich ist nichts gut. So differenziert und schmerzhaft müssen Filme ausbalanciert werden. Wie umgehen mit dem Schrecken, wenn er im vertrauten Kreis und in Abhängigkeitsverhältnissen passiert? Aufgewühlt verlässt man das Kino und erschrickt fast, als man die Darstellerinnen und Darsteller fröhlich lachend in der Schlange zum nächsten Film kreuzt (Preis für den besten Debütfilm).

Wenn ich ein Gesicht in einem Film möglichst bald wiedersehen möchte, dann ist es das sommersprossige von Alia Shawkat. Sie spielt in Ethan Hawkes «Blaze» die Frau des hochbegabten und tief abstürzenden Bluessängers Blaze Foley mit so viel Wärme, Witz und stiller Verzweiflung, dass man mit ihr das Herz teilen möchte. – Und falls ich einen zweiten Cast zugut hätte, ginge er an Zsofia Körös. Sie spielt in Thomas Imbachs «Glaubenberg», dem einzigen Schweizer Beitrag im internationalen Wettbewerb, die Schwester, die sich wahnhaft in ihren Bruder verliebt. Imbach hat die 19-Jährige offenbar von der Schulbank weg gecastet. Die Kraft und die manische Intensität, die sie in diesem Wahn entwickelt, ist schlicht beeindruckend.

Beeindruckende Schauspielerin: Zsofia Körös in «Glaubenberg» von Thomas Imbach.

Und dann habe ich nach zwanzig Jahren in der Sektion «Histoire(s) du cinéma» «Happiness» (1998) von Todd Solondz wiedergesehen. Es ist einer der frühesten Filme über Kindsmissbrauch und gleichzeitig eine der bissigsten und bösesten Satiren auf den American Way of Life, die ich kenne. Mehr bewusste Peinlichkeit als in diesem Film geht gar nicht. Und er funktioniert immer noch. Schrecklich gut.

In der gleichen Sektion habe ich auch «Quatre d’entre elles» (1968) der welschen Viererbande Claude Champion, Francis Reusser, Jacques Sandoz und Yves Yersin wiedergesehen. Dieser Film ist in jeder Episode ein grossartiges, durchaus ironisches Zeitdokument von erstaunlicher Frische. Zum Glück gibt es die Cinémathèque suisse, die mit Unterstützung von Memoriav und RTS solche Perlen restauriert und für die Nachwelt erhält.

Für die letzte Position in unserem Elfer-Team kehre ich gerne ganz zurück an den Anfang des Festivals, das mit Leo McCareys Stummfilm «Liberty» von 1929 eröffnet wurde. Daraus kann man mindestens zwei Lehren mitnehmen: Film lebt ganz und gar von einem Gefühl für Rhythmus. (Das konnte man in allen weiteren Filmen der wunderbaren McCarey-Retrospektive erleben.) Und: Komik ist die gekonnte Balance zwischen Katastrophe und Solidarität. Nur weil sie die verwechselten Hosen wieder tauschen wollen, reiten sich Stan & Olli immer tiefer ins Chaos (hier allerdings immer höher hinauf: auf ein Baugerüst eines New Yorker Wolkenkratzers). Und nur weil sie sich am Abgrund balancierend immer wieder gegenseitig aufhelfen, geht die Chose – überaus rhythmussicher – überhaupt weiter bis ins bös-heitere Finale.

Das Team ist komplett: Elf Freunde sollt ihr sein. Aus diesen Ingredienzien sollte sich doch jederzeit ein vernünftiger Film bauen lassen. Oder nicht?

2. Für wen gibts Rote Karten?

Aber es braucht vielleicht auch noch ein paar Regeln dafür, wer nicht aufs Spielfeld gehört, nicht mal auf die Ersatzbank. Es gibt Filme, denen gebührt bereits vor Spielbeginn die Rote Karte. Zwei sehr gegensätzliche Beispiele aus dem diesjährigen Festivalprogramm müssen hier genügen:

«Wintermärchen» von Jan Bonny ist eine durch und durch ärgerliche Dummheit. Der Film nimmt die Konstellation des realen NSU-Terror-Trios auf, das in Deutschland neun gezielte Morde an Ausländern verübt hat. Das wäre ja durchaus ein Thema. Bonny reduziert seine Scheinanalyse aber aufs Sexualneurotische – und zeigt es in repetitiver, spekulativer Ausführlichkeit. Er entpolitisiert dadurch den Stoff völlig. Hinzu kommt eine Unzahl gestalterischer Defizite. Schon lange habe ich keinen so plump inszenierten Film mehr gesehen. Es fehlt jede Schauspielerführung, der permanente schrille Schreimodus füllt keine Leere. Man ist als Filmfan jedenfalls vorgewarnt, falls dieses Machwerk in unsere Kinos kommen sollte.

Dass auch Naivität und Harmlosigkeit nervtötend sein können, demonstriert «Yara» von Abbas Fahdel aus dem Libanon mit grosser Ausdauer. Der Film produziert Schnitt für Schnitt nur Postkartenbilder eines fast entvölkerten Tales, in die mal von links, mal von rechts ein Postergirl und ein Posterboy hineinspazieren und ein paar hölzerne Drehbuchsätze aufsagen. Das will dann eine Liebesgeschichte sein. Nichts glaubt man diesem Film, vor allem nicht, dass die beiden jungen Menschen etwas mit diesem Tal zu tun haben. Das Mädchen ist alle paar Minuten frisch eingekleidet und hängt permanent Wäsche auf, die man sie aber nie waschen sieht. Schon wenn sie mal die Hühner füttert, sieht man sofort, dass das nicht ihr Ding ist. Unerklärlich, wie sich ein solcher «Nicht-Film» in den internationalen Wettbewerb verirrt.

Ein nervtötender «Nicht-Film»: «Yara» von Abbas Fahdel.

3. Wie gehts dem Geschlechter-Diskurs?

Das bestimmende Thema in vielen Filmen war eindeutig die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Allein in meiner Auswahl bildete in mehr als der Hälfte der Filme dieser Diskurs das Zentrum. Etwas übervertreten waren im Wettbewerb nicht besonders innovative Adoleszenzdramen. Als Genre zweifellos wichtig, brauchen sie aber mehr Originalität, um nicht die ewige Wiederkehr des Gleichen zu bedienen.

Hervorgestochen sind zwei Dokumentarfilme, die den Fokus auf den Kontext der Unterdrückung durch die Religionen legen. «#Female Pleasure» der Schweizerin Barbara Miller zeigt anhand von fünf Protagonistinnen aus verschiedenen Weltreligionen, wie inhärent der Frauenhass allen Religionsgemeinschaften ist. Dass der Befund nicht neu ist, sollte man dem Film nicht vorwerfen, vielleicht aber die mangelnde analytische Schärfe und die sehr konventionelle Machart.

In «M» von Yolande Zaubermann geht Menahem Lang, der als Kind und Jugendlicher jahrelang von Mitgliedern der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde vergewaltigt worden war, zurück an den Ort des Schreckens und konfrontiert sich und andere mit der dunklen Vergangenheit. Auch hier ist das Thema erschütternd, aber die unbeholfene Machart überzeugt nicht. Über beide Filme wird man noch sprechen, wenn sie in die Kinos kommen.

4. Das eindeutige Festival-Highlight

Aber wir wollen ja noch etwas hören von einer wirklichen Liebesgeschichte. Es ist zumindest meine. Sie heisst «La Flor» und dauert über vierzehn Stunden. Der Film des Argentiniers Mariano Llinás, der an dem Mammutwerk zehn Jahre gearbeitet hat, ist eine cineastische Wucht. Er radikalisiert in gewissem Sinn das süffige Wort von Jean-Luc Godard: «Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.»

Eine cineastische Wucht: «La Flor» von Mariano Llinás.

Das Zentrum bilden die vier Chicas (eine ist inzwischen Llinás Frau), die in sechs Episoden durch immer neue Filmgenres getrieben werden, vom horrormässigen B-Movie über eine Musicalschnulze (meine Lieblingsepisode) rüber zur Agentenparodie im Kalten Krieg und weiter zu einem verzweifelt hirnrissigen Making-of (das unser Zwerchfell strapaziert) bis zu einer Maupassant-Adaption in Stummfilm-Manier und schliesslich – mit einer Art Laterna magica gefilmt – bis zurück ins argentinische 19. Jahrhundert, wo die Chicas ihren Häschern entfliehen. Llinás selbst spielt den Regisseur, der den Film wortgewaltig aus dem Off – oder direkt im Bild – kommentiert. Schon dieser klug-ironischen Suada zuzuhören, ist der reine Genuss.

Das erinnert in Teilen an unangestrengte Performancekunst, an Theatermacher wie Christoph Marthaler oder Philippe Quesne, und schafft Bezüge zu Jorge Luis Borges, Cervantes, Casanova – und ja, zu Godard. Ein Rausch. Entweder man kommt rein oder eben nicht. Ich habe mich auf jede Episode gefreut. Der Film wäscht einem die Augen und das Hirn aus. Dann legt er sich einem wie ein Erfrischungstuch in den Nacken. Er ist Film und Meta-Film in einem. Am liebsten würde ich «La Flor» gleich nochmals sehen.

Ja, so klingen Süchtige. Die klugen Kollegen und die Jury haben offenbar einen Bogen um diesen unfassbaren Film gemacht. Deshalb bin ich beiden etwas böse. Ich hätte «La Flor» einen Hauptpreis und ebenso den Darstellerinnenpreis verliehen.

Es gibt wichtige Filme, die verschwinden ohne Preise und mediale Beachtung in der Versenkung und kommen nie in unsere Kinos. Zum Glück haben wir in der Schweiz Trigon-Film. Er wird «La Flor» im kommenden Jahr ins Kino bringen – hoffentlich auch mit einer CD mit dem grossartigen Sound.

5. Ein letzter Tipp

Wenn Sie nächstes Mal ans Locarno Festival kommen, kapern Sie sich eines der vielen ungenutzten Motorboote im Hafen und kurven Sie zu den Sandbänken in der Deltamündung (oder Sie schwimmen die paar Meter einfach raus). Das ist im Abendlicht Karibik pur mit ökologisch durchaus vertretbarem Fussabdruck. Hier können Sie dann mit Ihren Liebsten rätseln, wie lange es wohl noch geht, bis das Delta nach San Nazzaro hinübergewachsen ist. Nächstes Jahr, so viel darf man verraten, wirds noch nicht ganz so weit sein.

Zum Autor

Alfred Schlienger, ehemaliger Dozent für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule Nordwest­schweiz, ist Theater- und Filmkritiker sowie Mitgründer der Bürger­plattform «Rettet Basel!». Letzte Buch­veröffentlichung: «Forever Young. Junges Theater zwischen Traum und Revolte». Christoph-Merian-Verlag, Basel 2017.

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