Binswanger

Die Borderliner

Trump macht die Nato zum Irrenhaus. Und findet Nachahmer.

Von Daniel Binswanger, 14.07.2018

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Wie der Nato-Gipfel in Brüssel letztlich ausgeht, wird erst am nächsten Montag in Helsinki entschieden: von Donald Trump und Wladimir Putin. Nachdem der amerikanische Präsident mit seinen antideutschen Ausfällen erst die Tagesordnung gesprengt und implizit das Bündnis infrage gestellt, dann aber plötzlich wieder die grosse Einigkeit verkündet hat, können die europäischen Partner nur bangen und hoffen. Die Stimmungswechsel des US-Präsidenten erinnern an einen Borderline-Patienten. Was ist die nächste Episode des Wechselbads? Die Anerkennung der Krim-Annexion? Drohungen gegen Russland wegen seiner Gasexporte? Beides gleichzeitig?

Trumps aktuelle Europareise führt vor, in was für ein Tollhaus der amerikanische Präsident die Aussenpolitik verwandelt hat. Die Nato schätzt Russland inzwischen als so konkrete militärische Bedrohung ein, dass sie ihr Abwehrdispositiv in Osteuropa verstärken will. Nicht zuletzt darüber ist in Brüssel konferiert worden – oder hätte konferiert werden sollen. Dennoch krönt Trump seine Europatour mit einem Putin-Treffen, von dem er schon im Vorfeld verlauten liess, es sei ihm viel genehmer als die Konferenz mit seinen Partnern. Das Vorgehen ist widersprüchlich, unverständlich – und genau deshalb sehr effektiv.

Die Widersinnigkeit dieses Reiseplans erscheint nicht nur als ein weiteres der mittlerweile nicht mehr überschaubaren Indizien dafür, dass die Russen Trump tatsächlich in der Hand haben – durch finanzielle Korrumpierung, durch sexuelles «Kompromat» (wie kompromittierendes Material im Jargon des sowjetischen Geheimdienstes hiess), durch was auch immer.

Das «New York Magazine» hat diese Woche wieder einen atemberaubenden Artikel publiziert, der säuberlich nachzeichnet, was man alles über die vielfältigen, seltsamen und bis ins Jahr 1987 zurückreichenden Beziehungen des ehemaligen Immobilienmoguls zu russischen Regierungs- und Mafiakreisen weiss. Ist Putin Trumps Amtskollege oder sein Führungsoffizier? Es wird immer schwieriger, zwischen Verschwörungstheorien und Wirklichkeit plausibel einen Unterschied zu machen. Doch selbst wenn an der Russlandverschwörung nichts dran sein sollte: Trumps Dauerprovokationen aus einem politischen Paralleluniversum heraus richten enormen Schaden an. Denn erstens sind sie erstaunlich erfolgreich. Und zweitens machen sie Schule.

Trump begnügt sich nicht damit, seine Teilnahme am Nato-Gipfel mit einem Putin-Treffen zu beschliessen. Er übersteigert den Widerspruch noch dadurch, dass er Angela Merkel den Vorwurf macht, sich mit Russland zu verschwören und von Russland abhängig zu machen. Die zweite Erdgas-Pipeline von Russland nach Deutschland soll Beweis dafür sein, dass Merkel sich Putin ausliefern will – sagt der Mann, der erwiesenermassen mit massiver russischer Hilfe in sein Amt kam.

Unterstelle jedes Verbrechen, das du selber begangen hast, umgehend deinem politischen Gegner: Das ist ein Grundzug totalitärer Propaganda. Die Nazis haben bekanntlich nicht nur behauptet, Polen habe Deutschland angegriffen, weshalb die Wehrmacht eben «zurückschiessen» müsse. Sie beharrten auch darauf, dass das «Weltjudentum» gegen das deutsche Volk einen Vernichtungskrieg führt. Nun handelt also die deutsche Kanzlerin als Agentin russischer Interessen. Es fällt schwer, aus solch delirierenden Anschuldigungen nicht den Schluss zu ziehen, dass Trump hier sehr präzise beschreibt, was er selber tut.

Doch was Trump hier auf die Spitze treibt, ist eine Machtstrategie, die auch ausserhalb der USA dem Zeitgeist entspricht. Widersinn ist das politische Verführungsmittel der Stunde – so glauben es jedenfalls die Akteure. Im alten Populismus wurde Symbolpolitik betrieben. Kaum relevante Gegebenheiten wurden zu kosmischer Grösse aufgeblasen – Minarette, Burkas, Messerstecher. Der neue Populismus hingegen bewegt sich im schwerelosen Raum der Faktenfreiheit. Das behauptete Paralleluniversum ist die Bühne einer Inszenierung, in der die Selbstdarsteller sich durch ihre Widersprüche und Inkonsistenzen als unbeeindruckbar, souverän, als Sieger darstellen. Nonsens wird zum Herrschaftsattribut.

Man nehme den Fall Boris Johnson. Dass Trump sein politisches Vorbild ist, steht ausser Frage. Die Nachahmung beginnt bei frisurtechnischen Auffälligkeiten und setzt sich fort beim Verhältnis zu Fakten. Auch Johnson ist ein zwanghafter Lügner. Auch Johnson ist ein pathologischer Egomane, der nur deshalb dafür sorgte, dass Grossbritannien die EU verlässt, weil er es für seine einzige Chance hielt, Premierminister zu werden. Auch Johnson denkt nicht in Kategorien der Problemlösung, sondern der Machtstrategie – jetzt wieder beim Brexit-Deal, für den er nie ein Konzept vorgelegt, sondern einfach das Blaue vom Himmel herunterversprochen hat. Momentan sieht es so aus, als könnte Johnson mit seinem Angriff aus dem Paralleluniversum der Faktenfreiheit Premierministerin Theresa May nicht zu Fall bringen. Aber wer würde sich da sicher sein?

Und Deutschland hat jetzt Seehofer. Er wäre bereit gewesen, die Regierung zu stürzen. Für nichts, für ein paar hundert Flüchtlinge. Er hat sich dann schliesslich auf einen Deal eingelassen, der am Status quo nichts ändert – aber trotzdem den vollständigen Sieg verkündet. Auch Seehofer ist angekommen in der Schwerelosigkeit der alternativen Fakten. Auch er scheint sich auszurechnen, dass es sich um die effektivste Machterhaltungsstrategie handelt.

Die Herren mögen sich täuschen. Aber fehlenden politischen Instinkt mussten sie sich bis anhin nicht vorwerfen lassen. Der Ausgang ist offen. Auch bisher Undenkbares scheint neuerdings plötzlich plausibel. Nonsens inklusive.

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Illustration Alex Solman

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