Poesie & Prosa

Aus dem Setzkasten der Fantasie

Von Qual und Genuss ist die Rede, wenn es um die Literatur des Grazer Dichters und Schriftstellers Clemens J. Setz geht. Oder ist er Wissenschaftler? Computerfreak? Ein Medium? Jetzt tritt er im Rahmen des Zürcher Open-Air-Literaturfestivals auf.

Von Stefan Zweifel (Text) und Lukas Gansterer (Bilder), 02.07.2018

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Aus dem Setzkasten der Fantasie
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Ein bisschen verloren wirkt er schon, dieser wundersame Dichter: Clemens J. Setz in Wien.

Da stand er also, der jungumjubelte Clemens J. Setz, mitten in einer überdüngt grünen Wiese zwischen den jähen Felswänden von Leukerbad. In der Hand hielt er einen Regenschirm, als wäre er aus einem Paralleluniversum mitten unter den Dichtern und Denkern eines Literaturfestivals gelandet, das er nur tangential berührte, auf Durchreise sozusagen, mich und die Zuhörer mit dem Kometenschweif seiner Fantasie entzündend. Noch wusste niemand, dass bald die wichtigsten Literaturpreise über seinen Kopf prasseln würden. Doch man spürte, wie er durch den Regenschirm Eingebungen aus dem Lall-All der Poesie empfing, die noch kein anderer notiert hatte, ein Sender auf Tauchstation unter uns Irdischen.

Fast tänzelte er, so schien es, im Funkenflug seiner Ideen unter dem schützenden Schirm, den ich mir in meiner Erinnerung rosa ausmale. Gerade hatten wir über die Erotik in seinem Werk diskutiert, die an Georges Bataille erinnert, an seinen Roman «Die Geschichte des Auges», in der eine stürmische Jugend 1928 die eigene Sexualität entdeckt. Batailles Werk übergipfelte Setz dann in seinem Roman «Die Stunde zwischen Frau und Gitarre» durch das Bild eines «cum cookie», das sich als Stalaktit in einem Bubenklo nach Jahren der Masturbation hoch und höher türmte.

Sado-Synästhetik

Nun, wir hatten über das Abartige und die Aborte einer Literatur gesprochen, die sich jedem Zweck entzieht, um im freien Spiel der Wörter Ungedachtes und Ungesehenes in einer Synästhesie zu verbinden, die kaum einer so sehr kennt wie er, Clemens Setz. Denn er sieht und spürt in jedem Vokal nicht nur eine ganz bestimmte Farbe wie einst Arthur Rimbaud in seinem Gedicht «Les Voyelles», sondern er fühlt auch das Fell der Wörter – ja er kennt sogar die Farbe all jener Demütigungen, die er in seinem Werk in einer Art sado-synästhetischen Poetik entfaltet.

Selbst die grauslichsten Szenen gestaltet der Dichter aus Graz in einer Weise, dass man sich, von der Sprache verführt, in den Käfig setzt, den ein Paar in die Wohnung holt, um Dominationsspiele zu veranstalten, bis es die Frau plötzlich würgt, weil sie im Käfig einen ekligen Rest von klebrigen Menschenhaaren entdeckt. Eine verstörende Dialektik von Gewalt und Zärtlichkeit. Im privaten Gespräch verriet mir Setz, wie ihn Störungen im Sehfeld bedrängen – aber auch, wie er mit seiner Freundin, die kaum etwas sieht, auf einem Tandem durch die Landschaft von Graz pedalt, sodass ich mich für meine Fragen nach der Farbe der Vokale fast ein wenig schämte.

In all meinen Gedankenkammern kramend, versuchte ich ihn damals in Leukerbad zum Bleiben zu überreden, doch ihn zog es weiter, an das Grab von Rilke, der in Raron begraben liegt. Das fand ich ein bisschen kokett, doch der androgyne Charme des Dichters hatte mich so in den Bann geschlagen, dass ich fast mit ihm abgereist wäre – es aber schliesslich doch nicht tat, was ich bis heute bedaure. Denn Setz hat die Gabe, überall wo er ist, das Wunderliche und Grausliche anzuziehen. Es ist, als ob er jenen Regenschirm gefunden hätte, über dessen Verlust Nietzsche untröstlich auf einen Zettel notierte: «Ich habe meinen Regenschirm vergessen.»

Ohne diesen Schirm wäre er, so dachte ich, ganz ungeschützt den Eindrücken ausgesetzt, denen er sich aussetzt. Das war tröstlich, denn ein bisschen verloren wirkte er schon, dieses wundersame Wesen zwischen all den pressegewandten Autoren. Eine unzeitgemässe Erscheinung.

Frankenstein

In seinem jüngsten Buch versteckt er sich nicht unter einem Schirm, sondern hinter einem Bot. Anstatt, wie geplant, Auskunft über sein erfolgreiches Leben in einem Interview zu geben, entwickelte er ein Suchprogramm, das auf die Fragen im Interview passende oder unpassende Passagen aus seinen endlos langen Tagebüchern und Journalen zitiert. Diese Suchmaschine wurde zu seiner jüngsten Maske.

Und diese Maske trägt japanische Züge. Das Individuum verschwindet hinter der Rolle, die es erfüllt wie im Kabuki-Theater. Setz, oder sein Alter Ego, also sein Werk, berichtet darin immer wieder von Streifzügen durch Japan. Mal wandelt er selbst durch einen Tempel, in dem es nichts zu sehen gibt, weil er gerade eingehüllt und renoviert wird, was das Zen-mässige auf die Spitze treibt. Mal schweift er virtuell mit Google Street View durch das verseuchte Gelände von Fukushima und entdeckt: «Häuserfronten in einiger Entfernung und Autofelgen sind wie üblich unscharf gemacht, da sie von der Software für Gesichter gehalten werden. Ein merkwürdiges Flehen liegt in dieser Entscheidung des Algorithmus; die traurige Vermutung einer an den Anblick von Menschen gewöhnten Intelligenz, dass diese, vielleicht in metallener Verkleidung, sich hier vielleicht doch noch irgendwo versteckt halten.»

Das erinnert an die Masken im Völkerkunde-Museum, wo er am 5. Juli auftritt. Der Rahmen passend: Frankenstein. Denn das jüngste Buch von Setz zeigt sein eigenes Werk als Monster, das ein Eigenleben führt. Das modische Wort vom Tod des Autors – Clemens Setz lebt es vor. Anstatt Fragen zu beantworten, wirft er seine gesammelten Tagebücher und Journale in die Schlaufen eines Textprogramms. Es ist eine Art postumes Pamphlet: Das Werk weiss mehr über den Autor als dieser selbst. Und es wirkt so klirrkalt wie die Eisscholle, auf der Frankenstein am Ende von Mary Shelleys Roman ins Nichts entschwindet. Kein Autor versteht es besser, die Gänsehaut des transzendentalen Schauers zu erwecken.

Open-Air-Literaturfestival Zürich

Auch dieses Jahr wieder lockt der Sommer mit internationalen Autorinnen und Autoren in den idyllischen Alten Botanischen Garten in Zürich: Vom 2. bis 8. Juli lesen nicht nur John Banville, Sofi Oksanen, Rebecca Solnit, Carolin Emcke, Irvine Welsh und Teju Cole aus ihren Werken. Sondern auch Clemens J. Setz: Er ist am 5. Juli an der Reihe mit «Bot. Gespräch ohne Autor»; der zweite Teil des Abends sieht eine szenische Frankenstein-Lesung mit Fabienne Hadorn und Rahel Hubacher vor. Den Abschluss des Festivals macht ein – deutschsprachiger – Spoken-Word-Abend. Alle Infos zum Festival finden Sie hier.

Das Geheimnis seiner Prosa verriet Setz mir einmal in einer Mail, unwillentlich vielleicht, als ich ihn verzweifelt fragte, was mich denn bei Roberto Bolaño so bannen würde: «Es ist immer eigenartig bei Bolaño, er hat irgendeine simple Szene, was weiss ich, zwei Intellektuelle treffen sich in einem Haus und gehen an einer Bücherwand entlang oder schauen aus dem Fenster in den Hof hinaus oder unterhalten sich über irgendeinen Dichter und die Preise, die er bekommen hat – und als Leser hat man Todesangst. Keine Ahnung, wie er diesen Effekt erzeugt.»

Und genau solche Sätze durchziehen sein eigenes bereits ziemlich monumentales Werk: «Die ersten warmen Tage. Schon schütteln die Menschen Leintücher und Überzüge bei offenen Fenstern aus. Aber es sind noch einsame Laute, solche, die wie ein Flügelschlag losflatternder Tauben das Leben in einer Gasse aufschrecken und für ein paar Sekunden durcheinanderwirbeln. Erste Sonnenschirme erwachen auf Balkonen. Meisen werfen Handgranaten-Schatten.»

Ist Setz mein zweites Ich?

Unter dem Schirm trägt Setz in seinem Kopf kuriose Kurz- und Kürzestgeschichten durch die Welt. Im Vestibül des Burgtheaters stellte er im Gespräch mit mir erstmals diesen Setzkasten seiner Fantasien vor, die mich schlimm schwindeln machten: Sie handeln von einer Telefonzelle in einer Wüste, ganz einsam, doch immer klingelnd. Oder von der Liebe eines Schlangenmenschen zu einer Frau mit Bart. Zusammen bilden sie ein androgynes Mischwesen – groteskes Abbild des antiken Ideals der Liebe, wie es Aristophanes in Platons «Symposion» beschreibt: Ursprünglich waren die Menschen rundum glückliche Kugeln, bis Göttervater Zeus in seiner Eifersucht auf das irdische Glück die Menschenkugeln spaltete. Seither irren wir im Leben auf der Suche nach der anderen Hälfte, die nur wenige finden. Wie Setz auf dem Tandem mit seiner Freundin, denke ich.

Am 5. Juli liest Clemens J. Setz am Open-Air-Literaturfestival Zürich.

Und vielleicht, denke ich auch, ist Setz jene Hälfte, die ich beim Lesen immer irrend suche. Er regt uns an, die schrägen Sinnbilder seiner Romane mit unseren eigenen Fantasien und Wünschen zu ergänzen. Eine geheime Zwiesprache zwischen unserem Ich und dem Ich des Autors, das Setz hinter Schirm und Maske, hinter Bot und Prosa versteckt. Die Nähe findet, und das ist wohl das Geheimnis seines Erfolgs, jeder Leser je und je für sich in der stillen Kammer seines Kopfs.

In diesem unerforschten Prozess wirkt eine Einfühlung, die sich mir einmal ganz persönlich zeigte. Von den Opportunisten des SRF fallen gelassen, hatte ich allen Sinn für die Situationskomik meiner Lage verloren. Da twitterte mir Setz aus dem fernen Graz zu, wie er und seine Freunde den absurden Zynismus eines erfundenen Heidegger-Zitats weiter und weiter sponnen, befeuert vom Funkenflug der Fantasie und beschirmt vom Humor des Sprachspiels, dessen Meister Clemens Setz bis heute ist.

Ich werde am Donnerstag gebannt im Botanischen Garten sitzen und mich vom zwiegeschlechtlichen Charakter dieser Orchidee der Gegenwart verzaubern lassen. Und dabei werde ich nicht allein sein. Denn viele sehnen sich nach dem Schutz unter Setz’ Regenschirm.

Zum Autor

Stefan Zweifel, studierter Philosoph, Übersetzer, Literaturkritiker und Ausstellungskurator, hat sich bereits in jungen Jahren einen Namen gemacht, als er – zusammen mit Michael Pfister – eine komplette Neuübertragung des Doppelromans «Justine und Juliette» von D. A. F. de Sade vorlegte (die Ausgabe ist momentan vergriffen). Von 2007 bis 2014 zählte er zum Team des «Literaturclubs» beim Schweizer Fernsehen, die letzten zwei Jahre als Moderator. Diese Tätigkeit endete abrupt infolge des Eklats um das nachweislich nicht belegbare Heidegger-Zitat einer Teilnehmerin.

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