Sarah Mehrabi beugt sich zum sitzenden Khamenei und redet auf ihn ein
Gehör für Kritikerinnen: Religionsführer Ali Khamenei im Dialog mit der Studentin Sahar Mehrabi, die ihm schwere Vorwürfe gemacht hatte.Twitter/Ali Khamenei

«Es könnte ausser Kontrolle geraten»

Der Atomdeal ist tot. Der Präsident des Iran gedemütigt. Sein Volk protestiert jeden Tag auf der Strasse. Und die regionalen Nachbarn wetzen längst die Messer, mit den USA als Versicherungspolice. Wie wahrscheinlich ist Krieg, Ali Vaez?

Von Solmaz Khorsand, 07.06.2018

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Das Wort gehört sich nicht. Keiner darf auch nur daran denken, geschweige denn es aussprechen. Nur Wichtigtuer und Paranoikerinnen tun das. Also all jene, für die es nichts weiter ist als ein abstraktes Konstrukt. Jene, die es betreffen könnte, halten den Mund. Wozu den Geist aus der Flasche lassen?

Doch im Iran hat man keine Hemmungen mehr, das Wort auszusprechen. Dort bringt es jeder seit dem 8. Mai wieder ganz leicht über die Lippen: Krieg.

Seit Donald Trump den Ausstieg der Amerikaner aus dem Atomdeal verkündet hat, ist das Worst-Case-Szenario in Teheran präsenter denn je. Jeder weiss, wofür die wirtschaftliche Isolation des Iran der Auftakt sein kann. Jede weiss, wie sie US-Aussenminister Mike Pompeos zwölf Benimmregeln zu interpretieren hat. Und was von seiner Aussage «Ein ‹regime change› ist nicht unser Ziel» zu halten ist. Schliesslich teilt man sich mit dem Worst Case, dem Irak, eine 1458 Kilometer lange Grenze.

Liberale Zeitungen titeln mit «How to»-Richtlinien, wie sich ein Krieg vermeiden lasse: nicht provozieren, die Aussenpolitik von der Politik verhandeln lassen und nicht von den Revolutionsgarden. Zudem: ein Appell an alle Exiliraner, doch bitte ihre Regierungen davon zu überzeugen, zu retten, was noch zu retten ist.

Unterdessen giesst Religionsführer Ali Khamenei, die oberste Autorität im Land, Öl ins Feuer. Er hat angekündigt, mit den Vorbereitungen für eine Wiederaufnahme der unbegrenzten Urananreicherung zu beginnen – im Rahmen des beschlossenen Atomdeals. Nebenbei wettert er gegen den «Krebstumor» Israel, dessen Premier Benjamin Netanyahu auf seiner Europatour diese Woche wieder kräftig die Kriegstrommeln rührt.

Und die Iraner und Iranerinnen? Sie protestieren. Seit Wochen. Von LKW-Fahrern über Rentnerinnen bis hin zu Hühnerbauern. Sie trauen sich aus der Deckung. Sie haben nichts zu verlieren. Die Wirtschaft ist am Boden. Die Demokratie sowieso. Besser wird es nach dem 8. Mai nun auch nicht mehr.

Die Frage ist nur: Wie schlimm kann es noch werden?

Der amerikanische Thinktank International Crisis Group beschäftigt sich seit 23 Jahren mit solchen Fragen. Der Politikwissenschafter Ali Vaez ist Direktor des Iran-Programms und analysiert für die Republik die aktuelle Lage.

Ihre Organisation, die International Crisis Group, hat angekündigt, dass es im Juni im Iran eskalieren wird. Was verstehen Sie unter Eskalation, Herr Vaez?
Wenn die Iraner ihr Nuklearprogramm wieder aufnehmen, haben wir eine Krise im Nahen Osten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Iran seine schiitischen Milizen und Alliierten in der Region dafür mobilisieren wird, US-Streitkräfte anzugreifen und mehr Druck auf US-Verbündete aufzubauen.

Passiert das nicht schon?
Ja, das passiert bereits, wenn wir uns die Situation im Jemen anschauen, wo die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen Raketen auf saudiarabisches Territorium feuern. In den vergangenen Monaten sind diese Angriffe aber massiv angestiegen. Ausserdem glauben wir, dass der erste iranisch-israelische Schlagabtausch in Syrien vor ein paar Wochen ein Zeichen dafür ist, dass die beiden Länder endgültig bereit sind für eine direkte Konfrontation.

Das bedeutet Krieg.
Wir sind derzeit in einer gefährlichen Situation, und es könnte ausser Kontrolle geraten. Aber wir sprechen hier nicht von einem umfassenden Krieg.

Im Weissen Haus sitzt mit Sicherheitsberater John Bolton einer der Architekten des Irakkrieges. Die Rhetorik und die Inszenierung der USA erinnern stark an die Drohkulisse von 2003. Schliessen Sie eine Neuauflage der Irakinvasion aus?
Ja, selbst die Kriegstreiber und Falken in den USA haben ihre Lektion aus dem Irakkrieg gelernt. Wir sprechen hier von einem limitierten militärischen Zusammenstoss, ähnlich dem in Syrien und in den Golanhöhen zwischen dem Iran und Israel.

Israels Premier Netanyahu scheint an mehr als nur einem «limitierten Zusammenstoss» interessiert zu sein. Erst kürzlich hat der ehemalige Mossad-Chef Tamir Pardo der israelischen Reporterin Ilana Daylan verraten, dass Netanyahu bereits 2011 Pläne in der Schublade hatte, den Iran anzugreifen.
Für Israel, Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate ist die Trump-Regierung eine grossartige Möglichkeit, ihren Erzfeind zu schwächen. Das haben sie in den vergangenen zehn Jahren nicht geschafft. Die USA würden hier als Stellvertreter dienen, um den Iran zurechtzustutzen. Natürlich würden diese Parteien eine militärische Konfrontation zwischen den USA und dem Iran willkommen heissen. Sie würden sie vielleicht sogar lostreten und hoffen, dass die USA den Job beenden.

Verzeihung, aber das klingt nicht nach einem limitierten kleinen, überschaubaren Zusammenstoss. «Den Job beenden» klingt nach Krieg.
Ich glaube nicht, dass wir hier von einer Invasion sprechen, weil es politisch und logistisch einfach nicht möglich ist. Die Iraner haben ein breites Netzwerk an Partnern, das es ihnen zurückzuschlagen ermöglicht. Und diese Vergeltungsmassnahmen kennen keine Grenzen, weder zeitlich noch geografisch.

Unmittelbar nach der Islamischen Revolution 1979 hat der Krieg gegen das Nachbarland Irak die Legitimität der jungen Islamischen Republik gewährleistet. Gibt es heute Kräfte im Iran, die an einer Eskalation interessiert wären, um das Überleben des Regimes zu sichern?
Es gibt einen breiten Konsens in der iranischen Führung, jede Konfrontation mit den USA zu vermeiden. Natürlich ist sie beunruhigt über den Zusammenschluss zwischen der Trump-Regierung, Saudiarabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel, die versuchen, die Islamische Republik zu untergraben. Umso mehr will sie jedoch eine Konfrontation vermeiden, um ihren Feinden nicht in die Hände zu spielen.

Das Regime befindet sich derzeit in einer heiklen Übergangsphase. Religionsführer Ali Khamenei ist krank, und seine Nachfolge steht an. An ihr wird sich auch messen, ob die Islamische Republik in dieser Form weiter existiert. Was bedeutet das für die derzeitige Lage?
Was nach Khameneis Tod passiert, kann niemand sagen. Das hängt davon ab, wer zum Zeitpunkt seines Todes im Land das Sagen hat – die Pragmatiker oder die Hardliner. Je nachdem wird es einen stärkeren oder einen schwächeren Revolutionsführer geben. Es könnte sogar sein, dass Khamenei der letzte Supreme Leader der Islamischen Republik ist. Fest steht nur: Die Führung will, dass das Land stabil ist, wenn der Übergang passiert. Aus diesem Grund haben die Iraner den Atomdeal in dieser Form überhaupt akzeptiert, und deswegen halten sie immer noch daran fest. Auch ohne die USA.

Mit «sie» meinen Sie die pragmatischen Kräfte rund um Präsident Hassan Rohani. Die Hardliner verfolgen eine andere Agenda.
Wenn der Deal stirbt, würden die Hardliner im Regime gewinnen.

Wie lange hält der Pragmatiker die Hardliner in Schach? Staatspräsident Hassan Rohani vor einem Bild von Ali Khamenei. Vahid Salemi/AP Photo/Keystone

Der ehemalige iranische Geheimdienstmitarbeiter und heutige Reformpolitiker Said Hajjarian hat in einem Interview skizziert, was das für Präsident Rohani bedeuten würde: Er überliesse den Hardlinern freiwillig das Feld, würde durch ein Misstrauensvotum im Parlament zum Rücktritt gezwungen oder von den Revolutionsgarden aus dem Amt gejagt. Halten Sie das für möglich?
Die Hardliner brauchen Rohani. Sie brauchen seine Technokraten und sein Diplomatenteam, um zu überleben, zumindest für die Dauer seiner Amtszeit. Rohani ist ohnehin geschwächt und gedemütigt. Er stellt keine Gefahr dar. Die Hardliner haben seit 2013 keine einzige Wahl mehr gewonnen. Die einzige Chance für ihr Comeback ist, dass ihr politischer Rivale versagt.

Tut er das nicht gerade? Der Deal ist tot. Die Leute sind auf der Strasse. Die Nachbarn wetzen die Messer.
Präsident Trump hat den Hardlinern geholfen. Er ist für sie ein grossartiger Verbündeter. Sie haben keine Chance, die Macht zurückzuerobern, ausser es kommt jemand von aussen und diskreditiert ihren Rivalen.

Im ganzen Land wird derzeit gestreikt und demonstriert. In der südiranischen Stadt Kazerun werden sogar Polizeiautos angezündet. Keiner scheint mehr die Repression des Staatsapparats zu fürchten. Warum schaut das Regime zu?
Es gibt eine grosse Unzufriedenheit, und sie ist grossflächiger als je zuvor. Aber es bleibt überschaubar und stellt keine substanzielle Bedrohung für das Regime dar. Warum also einen Protest niederschlagen und so noch mehr Feindseligkeit auf sich ziehen? Es ist klüger, den Leuten die Möglichkeit zu lassen, ihrem Ärger Luft zu machen, statt ihn abzuwürgen und so eine Explosion zu riskieren.

«Die Unzufriedenheit im Iran ist grossflächiger als je zuvor»: Ali Vaez über die zahlreichen Demonstrationen (hier im Dezember 2017). AP Photo/Keystone

Lässt sich diese «Milde» auch als eine Art Zugeständnis interpretieren? Nach dem Motto: Wir hören euch, wir sind bereit für Reformen, weil es die einzige Möglichkeit ist, unser Überleben zu sichern?
Wenn die Proteste an Dynamik und Zugkraft gewinnen und eine ernsthafte Bedrohung für das Regime darstellen, wird die Opposition fraglos seine eiserne Faust zu spüren bekommen. Das Regime hat den Willen und die Möglichkeit zu überleben. Es hat in den vergangenen Jahrzehnten seine Fähigkeit, Proteste niederzuschlagen, perfektioniert. Im Fall der Fälle wird es das unter Beweis stellen. Aber ich glaube nicht, dass es derzeit so weit ist.

Kürzlich hat die Studentin Sahar Mehrabi Religionsführer Khamenei mit Vorwürfen von Korruption bis hin zu Fehlverhalten des Justizapparats gegen Regimegegner konfrontiert. Das Irritierende war, dass Khamenei ihr teilweise beigepflichtet hat und ihre Kritik in den Staatsmedien sogar publiziert wurde. Wie lässt sich das interpretieren?
Das System fühlt sich bedroht und glaubt, dass ein «regime change» nun das offizielle Ziel der USA ist. Der Iran will deshalb nach aussen hin ein Image der inneren Einheit stärken. Um das zu tun, muss die Führung auch Missstände anerkennen. Sie muss beweisen, dass das System pluralistisch ist und dass darin sogar Oppositionelle sich entfalten können. Wenn der Religionsführer einer Studentin zuhört – ihrer Kritik zuhört –, will er unter Beweis stellen, dass der Iran nicht Nordkorea ist.

Ali Vaez

Ali Vaez arbeitet seit sechs Jahren für die International Crisis Group, einen amerikanischen Thinktank, der sich auf internationale Konfliktprävention spezialisiert hat. Vaez ist Direktor des Iran-Projekts.

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