Wer Pawel Durow sieht und an Neo aus dem Science-Fiction-Film «Matrix» denkt, liegt richtig: Dies ist einer seiner Lieblingsfilme. Sam Barker

Russlands Staatsfeind Nummer eins

Das russische Internet steht kopf, seitdem Moskau versucht, den Kurznachrichtendienst Telegram zu blockieren. Wer ist Telegram-Gründer Pawel Durow, der als «russischer Zuckerberg» gilt?

Von Simone Brunner, 11.05.2018

Russlands Staatsfeind Nummer eins
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Pawel Durow tritt auf die Bühne, setzt sich, zieht sein schwarzes Stehkragensakko zurecht und sagt: «Whatsapp ist totaler Mist.» Die ungläubige Reaktion des Journalisten auf dem Podium der Konferenz in San Francisco quittiert er mit einem wissenden Lächeln.

«Whatsapp ist totaler Mist?», wiederholt dieser. «Absolut», sagt Durow, und zählt die Fehler auf: zu viele Einschränkungen, nicht benutzerfreundlich, zu wenig anonym, zu leicht zu knacken. «Totaler Mist. Deshalb haben wir Telegram gebaut.»

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Pavel Durov of Telegram: WhatsApp Sucks

Die Szene spielte sich im September 2015 ab. Facebook hatte im Jahr zuvor für 16 Milliarden Dollar Whatsapp gekauft – und hier erfrechte sich der Russe Durow auf dem Heimterritorium der Amerikaner, den Chatdienst als Mist zu bezeichnen. Spätestens seit diesem Auftritt ist der Kurznachrichtendienst Telegram auch im Westen ein Begriff. Whatsapp spielt mit einer Milliarde monatlicher Benutzer zwar noch in einer anderen Liga, aber Telegram bringt es mittlerweile auch schon auf 200 Millionen pro Monat.

Der Underdog, der den Mächtigen gerne auf die Füsse tritt – egal, ob er Mark Zuckerberg oder Wladimir Putin heisst: Das ist die Lieblingsrolle von Pawel Durow. Immer schwarz gekleidet, die Haare kurz geschnitten, das Gesicht blass und glatt rasiert – er sieht aus wie die Figur Neo aus dem Science-Fiction-Streifen «Matrix». Zufall ist das nicht; es ist einer der erklärten Lieblingsfilme von Durow.

Heute ist der 33-Jährige alles andere als eine kleine Nummer. Das Magazin «Forbes» schätzt das Vermögen des Unternehmers, der in Russland das soziale Netzwerk Vkontakte gegründet hat, auf rund 1,7 Milliarden Dollar. Der «russische Zuckerberg» wird er in Medien immer wieder genannt.

Der Vergleich mit dem Facebook-Gründer drängt sich bei Durow tatsächlich auf:

Beide wurden 1984 geboren, haben an den Eliteuniversitäten ihres Heimatlandes studiert – Zuckerberg in Harvard, Durow an der staatlichen Universität in Sankt Petersburg.

Beide haben im selben Jahr eine Plattform für Studenten gegründet, aus der später ein gigantisches soziales Netzwerk mit Millionen Benutzern wurde.

Beide verdienten mit 22 Jahren ihre erste Million.

Catch me if you can!

Heute leben sie in völlig unterschiedlichen Welten. Während Zuckerberg als einer der reichsten Menschen der Welt in einer Villa in Palo Alto ein beschauliches Familienleben führt, rauscht Durow als digitaler Nomade durch die Welt. Betrieben wird Telegram von Dubai aus, aber einen festen Wohnsitz hat Durow nicht. Es heisst, er würde sich mit seinem Team nie länger als wenige Wochen an einem Ort einmieten, von Finnland über Berlin bis Barcelona.

Nur in seinem Geburtsland ist er nicht mehr. Dort ist Durow nämlich zu so etwas wie dem Staatsfeind Nummer eins geworden. So sehr, dass dieser Tage in Russland sogar ein Youtube-Video kursiert, in dem betagte Frauen und Männer in der südrussischen Stadt Krasnodar unter Schimpf und Schande ein Durow-Porträt verbrennen.

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Пенсионеры из "Отрядов Путина" сожгли фото Павла Дурова

Endgültig zur Persona non grata wurde Pawel Durow am 16. April 2018, als die russische Aufsichtsbehörde Roskomnadsor verfügte, Telegram in Russland zu sperren.

Der Grund: Durow hatte sich jahrelang geweigert, dem Geheimdienst FSB Zugang zu den verschlüsselten Nachrichten zu verschaffen. Die Behörden warfen ihm vor, Terroristen würden – fern der staatlichen Kontrollen – über den Chatdienst ihre Terrorakte planen. Zum Beispiel vor einem Jahr, als ein Attentäter in Sankt Petersburg einen Metrozug in die Luft sprengte. Ein guter Vorwand also, um den unliebsamen Dienst, über den neben den Anhängern der Opposition aber auch viele Politiker bis hin zu Putins Pressesprecher kommunizieren, endlich loszuwerden.

Doch Durow blies zum digitalen Widerstand. Jedes Mal, wenn die Beamten der Roskomnadsor eine IP-Adresse seines Dienstes blockierten, wich Telegram auf eine andere Adresse aus. Worauf die Aufsichtsbehörde vorerst mit einem «Flächenbombardement des Internets» reagierte, wie es der Journalist Kirill Martynow in der kremlkritischen Zeitung «Nowaja Gaseta» ausdrückte – und so für mehrere Tage das halbe russische Internet lahmlegte.

20 Millionen IP-Adressen haben die Behörden blockiert, zeitweise waren auch internationale Dienste wie Google oder Youtube gesperrt. Zahlreiche Unternehmen haben Klagen gegen die Behörden angedroht.

Und auf Telegram? Wurde munter weitergechattet. Eine Blamage für den Kreml.

Libertärer Freigeist

Dass Durow niemand ist, der viel auf Autoritäten hält, zeigte sich schon früh. Als «ziemlich nerdig» und «verhaltensauffälligen Einserschüler» beschreibt ihn sein Biograf Nikolai Kononow. So soll Durow einst die Computer seiner Schule gehackt haben. Plötzlich flimmerte auf allen Bildschirmen ein Porträt des Informatiklehrers. Dazu die Worte: «must die» – «muss sterben».

Durow stammt aus einer Sankt Petersburger Intellektuellenfamilie. Sein Vater, ein Philologe, unterrichtete in Turin, wo Durow einige Jahre seiner Kindheit verbrachte. Durow, der auch heute immer wieder gerne den «Faust»-Exegeten gibt und aus seinen Lieblingsfilmen zitiert, entwickelte als Literaturstudent an der philologischen Fakultät der Sankt Petersburger Uni ein Faible für libertäre Ideen und die Freimaurerloge. An der Universität programmierte er 2003 ein soziales Netzwerk für Studenten.

Im gleichen Jahr, knapp 7000 Kilometer weiter im Westen, erschuf der Harvard-Student Mark Zuckerberg die erste Version von Facebook.

Zu Vkontakte (wörtlich: «im Kontakt») wurde das Netzwerk 2006, zwei Jahre nach der offiziellen Gründung von Facebook. Eine bessere Version seines US-Zwillings sollte Vkontakte sein. Nur eben auf Russisch. Und anarchistischer. Dass über die Plattform auch Raubkopien von Filmen und Musik bezogen werden konnten, brachte Vkontakte immer wieder den Vorwurf ein, Piraterie zu betreiben. Als sich ob der Flut der Pornovideos, die über das Netzwerk verbreitet wurden, Widerstand gegen Vkontakte regte, konterte Durow mit der Umbenennung seines Twitter-Acounts. Er nannte sich neu «Porn King».

Mit dem Erfolg von Vkontakte wurde es für den Freigeist Durow in Russland immer ungemütlicher. Der Konflikt mit den Behörden begann, als sich in den Grossstädten im Winter 2011/2012 Widerstand gegen Putin formierte – und sich viele Demonstranten aus der russischen Mittelschicht über Vkontakte organisierten.

Als ihn der FSB aufforderte, sieben geschlossene Gruppen zu sperren, lehnte Durow ab. Stattdessen schickte er seine «offizielle Antwort an die Geheimdienste» über Twitter: einen Husky im blauen Kapuzenpulli, mit herausgestreckter Zunge.

Rache an Putin

In ähnlicher Tonart ging es weiter, als in der Ukraine 2013/2014 die Maidan-Proteste ausbrachen und der FSB abermals verlangte, Konten von Aktivisten zu löschen. Durow weigerte sich.

Doch irgendwann wurde der Druck in Russland offenbar zu gross. Unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen trat Durow als Chef von Vkontakte zurück und verkaufte seine letzten Anteile an den kremlnahen Oligarchen Alischer Usmanow.

Das war für ihn das Ende mit Vkontakte. Und der Beginn von Telegram.

Im Frühjahr 2014 verliess Durow Sankt Petersburg. Und kehrte nicht mehr zurück. Im Exil in Dubai hob er mit seinem Bruder Nikolai Telegram aus der Taufe: einen Chatdienst, der so gut verschlüsselt ist, dass kein Staat und kein Geheimdienst der Welt mehr mitlesen kann.*

Immerhin 260 Millionen Dollar sollen die Durows aus dem Vkontakte-Verkauf bekommen haben. Genug, um den Krypto-Messenger mit dem Papierflieger im Logo vorerst aus eigener Tasche zu finanzieren und «die Dinge zu machen, die wir selbst für richtig halten», wie Durow später sagte.

Ein Konzern aus dem Silicon Valley soll Ende 2017 3 bis 5 Milliarden Dollar für Telegram geboten haben, doch Durow habe mit dem Argument abgelehnt, seine Entwicklung stünde nicht zum Verkauf. «Telegram ist seine Rache an Putin», folgerte daraus die «Moscow Times».

Inzwischen ist Telegram längst ein globaler Dienst. Russen machen nur noch einen Bruchteil der Benutzer aus, die Schätzungen liegen zwischen 5 und 10 Prozent. Durow ist weltweit zu einem Feindbild für Autokraten geworden, die etwas dagegen haben, wenn die Bürger am Staat vorbei miteinander kommunizieren. In China wurde Telegram blockiert, nach Russland hat auch der Iran den Dienst verboten.

Sogar die britische Premierministerin Theresa May hat Telegram als «Heimat für Kriminelle und Terroristen» kritisiert. Ein Vorwurf, auf den Durow in der Regel routinemässig mit der Aussage kontert, das Recht auf Privatsphäre sei wichtiger als die Angst vor Terrorismus.

Die beste Gesetzgebung ist keine

Die grosse Mission als Freiheitskämpfer in der digitalen Welt, dem es nicht ums Geld geht: Es ist schwierig zu beurteilen, was davon Pose ist und was nicht. Seine lockere Beziehung zum Geld lässt Durow oft und gerne durchblicken. «Im freien Internet ist Geld nicht das Wichtigste», sagte er einmal.

Das ist etwas, das ihn zumindest von Zuckerberg unterscheidet, der Facebook immer mehr zu einer Geldmaschine ausbaut. Zuckerberg ist im Herzen zwar ein Demokrat, aber er hält in Interviews eine eigentümliche Äquidistanz zu allen politischen Systemen dieser Welt. Durow ist der Gegensatz: Er wird nie müde, seine politischen Ansichten zu verbreiten und öfter wie ein Aktivist als ein Unternehmer zu klingen. «Die Meinungsfreiheit ist einer der Werte, die wir in den letzten elf Jahren verteidigt haben», schrieb Durow auf seinem Telegram-Kanal. «Zuerst in Russland, dann global.»

Durow liebt die Provokation. Und schreckt dabei auch vor Putin nicht zurück. Im vergangenen Sommer stellte er ein Bild von sich mit nacktem Oberkörper ins Netz und rief seine Landsmänner zur #PutinShirtlessChallenge gegen den Präsidenten auf, der sich aus dem Urlaub bevorzugt oben ohne ablichten lässt. «Kein Photoshop», stellte Durow als Regel auf.

«Kein Photoshop!» Pawel Durow persifliert die typische Putin-Urlaubs-Pose. Screenshot Instagram

Pawel Durow als Anti-Putin-Aktivisten oder Kreml-Oppositionellen zu sehen, geht dennoch zu weit. Vor seinem Konflikt mit dem Geheimdienst waren Durows Beziehungen zum Kreml nicht so schlecht. In einem Brief hat sich Durow einmal direkt an den damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew gewandt, um sich über ein Kartell von Telekommunikationsbetreibern zu beschweren.

Als Libertarist hegt Durow aber ein grundsätzliches Misstrauen gegen den Staat. «Die beste Gesetzgebung im 21. Jahrhundert ist ihre völlige Abwesenheit», schrieb Durow in einem Manifest, das er 2012 in einem russischen Magazin abdrucken liess. Da scheint es nur logisch, dass Durow mit Gram auch eine eigene Digitalwährung für die Telegram-User plant und über ein sogenanntes Initial Coin Offering (ICO) schon 1,7 Milliarden Dollar eingenommen haben soll.

So wird Durow auch nicht müde zu betonen, dass kein Staat, keine Behörde und kein Unternehmen der Welt auch nur jemals ein Bit an Information von Telegram erhalten habe – anders etwa als bei Zuckerberg, der sich im April wegen der Kompromittierung von Millionen von Userdaten sogar dem US-Kongress stellen musste. Wenn Durow gegen die russischen Behörden einknickt, ist es das mit diesem selbst erklärten Alleinstellungsmerkmal gewesen. Dann wäre auch Telegram nicht viel mehr als «totaler Mist».

Russisches Internet bald in Trümmern?

Dass Durow die russischen Behörden seit Wochen mit seinem virtuellen Versteckspiel narrt, macht ihn aber in Russland selbst nicht zum unangefochtenen Freiheitshelden. Der Kollateralschaden wird immer grösser: Denn inzwischen geht es um mehr als nur um die Blockade von Telegram. Es geht um die Zukunft des russischen Internets, des RuNet insgesamt, sagt der IT- und Geheimdienstexperte Andrei Soldatow im Gespräch mit der Republik.

«Wenn die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor noch einige Wochen in dieser Tonart weitermacht, dann wird es immer leichter werden, auch andere Dienste wie Facebook und Twitter zu blockieren», warnt Soldatow. Er fürchtet, dass das Muskelspiel zwischen dem Staat und Telegram das RuNet in Trümmer legen könnte.

Dennoch zeigt das Telegram-Dilemma, dass der Kreml den Regeln des RuNet hinterherhinkt. «Putin war es immer gewohnt, mit Systemen und Organisationen zu tun zu haben, die über das Management unter Druck gesetzt werden konnten», schreiben Soldatow und Irina Borogan in ihrem Buch «The Red Web: The Kremlin’s Wars on the Internet».

Aber Netzwerke hätten keine Spitze, sie seien horizontale Geschöpfe, schreiben sie. «Der Inhalt wird nicht von den Betreibern gemacht, sondern von den Nutzern. Putin hat das nie verstanden.»

* Die App Telegram hat jedoch durchaus auch ihre Schwachstellen, da sie nicht standardmässig Ende-zu-Ende verschlüsselt angeboten wird.

Zur Autorin

Simone Brunner lebt als freie Journalistin in Wien. Osteuropa und namentlich Russland zählen zu ihren Spezialgebieten. Sie schrieb am 12. März 2018 in der Republik über den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny.

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