Illustration eines alten Manns mit Sprechblase aus der eine Frau raussteigt
Hilfe für Altfürsten.

Rausgewunden II – der Crashkurs für Altfürsten

Was tun gegen faktenfreie Digitaldebatten? Nach der gestern veröffentlichten Polemik bringen wir heute den konstruktiven Vorschlag. Die sechs wichtigsten Fakten, damit uninformierte Podiumsteilnehmer auf der Höhe der Zeit debattieren.

Von Adrienne Fichter (Text) und Leonard Rothmoser (Illustration), 19.01.2018

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Sehr geehrte gestern angegriffene Herren,
weit weniger zahlreiche (aber selbstverständlich mitgemeinte) Damen

Vor 24 Stunden erschien an diesem Ort eine kleine Brandrede. Ich machte meinem Ärger über Sie Luft – genauer: über einen Typus von Podiumsgast, den ich an zahlreichen Veranstaltungen zum Thema Digitalisierung angetroffen habe. Er ist meist männlich, belesen, rhetorisch brillant und referiert so gut wie faktenfrei über Zukunftsthemen. Und zerstört mit dieser Taktik jede vernünftige Debatte. Man trifft diesen Typ überall – durchaus verdiente, aber uninformierte Herren, die ich aus Mangel an Alternativen «Altfürsten» getauft habe.

Mit etwas Abstand erscheint mir mein kleiner Wutausbruch (Sie finden ihn hier) zwar nicht unfair. Aber auch nicht konstruktiv. Letztlich bringt eine Polemik niemandem mehr als den einen Ärger, den anderen Erleichterung. Und bei der Republik sind wir nicht angetreten, um die Dinge zu beklagen. Sondern, um sie zu verbessern.

Deshalb folgt hiermit mein Service an Sie (und sämtliche anderen Altfürsten) – um uns alle ein wenig glücklicher und entspannter zu machen. Ich liefere Ihnen hiermit sechs wichtige Zahlen und Fakten zum Thema Digitalisierung und Politik. (Einige davon habe ich zwar bereits gestern in meiner Polemik genannt. Aber ich möchte diese nun etwas ausführen.) Mit einer Lesezeit von fünf Minuten werden Sie fortan an jedem Podium weiterhin glänzen können – aber ohne dass Sie auf gefühlte Wahrheiten zurückgreifen müssen. Denn Sie befinden sich nach der Lektüre ziemlich exakt auf dem Stand der aktuellen internationalen Diskussion. Das hilft Ihnen, das hilft mir – und überhaupt allen Anwesenden.

Falls Sie nicht zu den Altfürsten gehören, dann lohnt sich die Lektüre auch. Im schlimmsten Fall als Notwehrmunition, falls Sie irgendwo auf einen Altfürsten treffen, der das Folgende nicht gelesen hat.

1. Die 20 am häufigsten geteilten Fake-News-Geschichten wurden in der heissen Phase des US-Wahlkampfs auf Facebook besser gelesen als die 19 am häufigsten geteilten Mediengeschichten.

Forscherinnen streiten noch bis heute darüber, welche Rolle Fake-News im US-Wahlkampf gespielt haben. Ihre Wirkung ist umstritten, da TV-Kanäle und Printmedien ihren Einfluss auf die Meinungsbildung natürlich nicht verloren haben. Doch gibt es eine Zahl, die mehr oder weniger als gesichert gilt. Weil man sie in Form von Klicks, geteilten Links, Besuchern und Anwesenheitsminuten messen kann. Ich habe es gestern bereits schon angetönt: Das Medienportal Buzzfeed hat herausgefunden, dass die Artikel mit Verschwörungstheorien und Falschnachrichten in der heissen Wahlkampfphase von August 2016 bis zum Wahltag am 8. November auf Facebook besser gelesen wurden als diejenigen der 19 grössten Mainstream-Medien. (Darunter Giganten wie CNN oder die «New York Times».) Das heisst konkret: Eine Meldung wie «Wikileaks bestätigt: Hillary Clinton hat Waffen an den IS geliefert» der rechtsextremen Verschwörungsseite «The Political Insider» wurde mehr geklickt als die Enthüllungen über Trumps Korruption. (Als Fake-News-Websites wurden dabei alle Internetseiten qualifiziert, die frei erfundene Geschichten aus politischen Motiven oder kommerziellen Gründen fabrizieren. Die meisten von ihnen beziehen klar politisch Stellung und sind daher alles andere als neutral.) Die USA sehen immer noch keinen Anlass, das Thema Fake-News anzugehen. Zu sehr ist die Politik noch mit der Aufarbeitung der russischen Kampagnenschlacht von 2016 beschäftigt. Anders in Europa. Hier sorgt man sich mehr über die wachsende Desinformation im Netz. Im Sommer 2018 soll eine 39-köpfige «High-Level Group» bestehend aus Journalisten, Forscherinnen und Plattformbetreibern Vorschläge zur Bekämpfung von Falschmeldungen im Netz vorlegen. Und seit Januar 2018 ist auch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Deutschland in Kraft. Fake-News auf Social Media sind bei unserem nördlichen Nachbarn offiziell verboten.

2. In den Jahren 2016 und 2017 wurden neben den USA in mindestens 17 Ländern Informationskriege geführt. In jenen Ländern wurden Wahlen durchgeführt.

Wir haben bisher viel über Social-Media-Manipulationen in der westlichen Welt gelesen. Ob die Bürger wegen dieser Wahrheitsverdrehungen ihre Meinungen änderten, lässt sich zwar schwer sagen. Dennoch ist solche Manipulation mit Sicherheit nicht harmlos. Die wahren Grausamkeiten spielen sich allerdings woanders ab, in Asien, Südafrika, Lateinamerika. In Ländern mit einer schwachen Medienlandschaft und autokratischen Regimen. Falschnachrichten werden hier vom Staat fabriziert und in den sozialen Netzwerken in Umlauf gebracht. Nicht wenige Autokraten haben dafür eine Armada von Berufstrollen im Dienste der Regierung aufgebaut. Die meisten davon sind bezahlt, andere arbeiten freiwillig – aus Patriotismus. Ihre Aufgabe: Aktivistinnen und Journalisten einschüchtern und terrorisieren. Bis diese das Thema wechseln oder sich selbst zensieren. Das digitale Waffenarsenal: Gerüchte, Geheimdienst-Vorwürfe (man sei eine Spionin), Memes, Fake-News und Doxxing, die Veröffentlichung der Kontaktdaten der Opfer. Die Schauplätze: Facebook und Twitter. Ein paar Beispiele: Auf der Lohnliste der türkischen AKP stehen 6000 Kommentarschreiberinnen, die wochenlange Hasslawinen gegen Journalisten auslösen. In Thailand durchforstet eine thailändische Cyber-Miliz von 120’000 Studenten das Netz nach Beleidigungen gegen den König. Auch in privaten Nachrichten. So wurde ein Aktivist im Januar 2017 zu elf Jahren Haft verurteilt – wegen eines zu offenen Gesprächs im Facebook Messenger. In Ecuador hatte der ehemalige Präsident Rafael Correa eine eigene Website für öffentliche Denunziation lanciert. Jeder konnte dort regierungskritische Beiträge auf Social Media melden. Die Berufstrolle erhielten eine Benachrichtigung und setzten zur gemeinsamen Attacke gegen den Landesverräter an. In Burma hetzten buddhistische Hassprediger gegen Minderheiten wie die Rohingya auf Facebook. Sie taten es mit frei erfundenen Meldungen: Etwa, die muslimische Minderheit sei bis an die Zähne bewaffnet und plane Anschläge. Der burmesische Journalist Soe Moe Tun vom «Daily Eleven Newspaper» veröffentlichte Ende 2016 seine Recherchen über illegale Abholzung auf Facebook. Eine Woche später wurde er ermordet. Auf den Philippinen beschäftigt der Staat sogenannte «Keyboard Warriors». Diese verdienen 10 Dollar pro Tag. Präsident Rodrigo Duterte hat damit eine ganze Armee von Trollen gezüchtet, die seine politischen Gegner angreifen – nicht zuletzt Menschenrechtsaktivisten, die die gezielten Tötungen von Dutertes Drogenpolitik kritisieren. Die Medienkompetenz ist bei der schlecht ausgebildeten Bevölkerung nicht hoch: Vielen freien Meldungen wird geglaubt. Nicht zuletzt auch, weil sie von populären Persönlichkeiten geteilt werden, etwa der burmesischen Regierungschefin Aung San Suu Kyi. Bei uns mögen Fake-News vielleicht verstören, in anderen Regionen der Welt können digitale Hetzjagden tödlich enden.

3. Facebook hat im vergangenen US-Wahlkampf rund 1,4 Milliarden Dollar mit politischer Werbung verdient.

Gemäss der Werbefirma Borrell Associates hat Facebook kräftig am US-Wahlkampf verdient, bis zu 1,4 Milliarden Dollar wurden über gesponserte Anzeigen eingenommen. Facebook ging im Sommer 2016 in die Offensive und schickte Beraterteams in beide Lager, Demokraten wie Republikaner. Das Ziel war, ein «Optimum» aus dem Werbeanzeigenmanager herauszuholen. Brad Parscale, der Digitalchef der Trump-Kampagne, entwickelte seine Strategie während des Wahlkampfs hauptsächlich mit den Facebook-Beratern. Das Clinton-Lager lehnte dasselbe Angebot aus bis heute unbekannten Gründen ab. Im Netz feiert Facebook auf einer eigenen Unterseite (politics.fb.com) seine Erfolgsgeschichten beim Pushen von Politikerinnen und Politikern. (Deren effektive Wirkung ist jedoch weiter umstritten.)

4. Über 70 Prozent des heutigen Internetverkehrs (referral traffic) gehen auf das Konto von zwei Giganten: Google und Facebook.

Google (genauer: das Mutterunternehmen Alphabet), Apple, Facebook und Amazon haben eine gemeinsame Abkürzung: GAFA. Die vier Monopole räumen zusammen fast alles ab: in Sachen Onlinewerbung, Kommunikation, Internethandel. Nicht zuletzt dominieren sie das kostbarste Gut: unsere Zeit. In Sachen Netzverkehr dominieren Google und Facebook. 77 Prozent aller mobilen Gespräche spielen sich im Ökosystem Facebook ab (Instagram und Whatsapp eingerechnet). 90 Prozent aller Suchanfragen in Europa gehen auf das Konto von Google. Spätestens seit den Grossfusionen im Jahr 2014 ist das Netz gekippt. Einige Experten reden auch oft vom Tod des Internets. Und seither wurde das Portfolio beider Giganten noch dicker. Immer mehr Werbung wird über Smartphones ausgeliefert. 61 Prozent der gesamten Onlinewerbung fliessen über Facebook oder Google. Und die Imperien werden weiter abräumen. Denn ihre Einkaufstour ist lang nicht zu Ende. The winner takes it all. Sie haben eine derart hohe Finanzkraft, dass sie kaufen oder kopieren können, was ihnen gefährlich scheint. Die «Plattformisierung des Internets» wird weitergehen. Und sie hat Auswirkungen auf die Medien, die Wirtschaft und natürlich auf die Demokratie.

5. Über 50 Prozent aller Websitebesucher sind Roboter.

Nicht jeder Besucher Ihrer Website ist ein Mensch. Die Wahrscheinlichkeit ist sogar leicht höher, dass es sich um einen Roboter handelt. Laut dem neuesten Bericht des Unternehmens Incapsula treiben sich mehrheitlich digitale Scheinidentitäten als echte Menschen im Netz herum. Die Mehrheit (28 Prozent) dieser sogenannten Bots ist «böse». Das heisst, sie attackieren Websites und versuchen, die Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen. Oder sie sind im politischen Dienst unterwegs. In repressiven Staaten machen Bot-Armeen neben Fake-News, bezahlten Kommentarschreibern und Propagandamedien 20 Prozent der Cyber-Kriegstaktiken aus. In einer Minute retweeten diese digitalen Soldaten Hasstweets hundertfach. Einem Menschen wäre nach dieser Übung längst der Finger abgebrochen. Es gibt aber auch gute Roboter, die einen ganz nützlichen Job machen. Wie zum Beispiel Wikipedia. Die digitalen Helfer forsten die Online-Enzyklopädie nach unbefugten Eingriffen durch und schützen so vor Vandalismus. Etwa, wenn ein Spin-Doctor Unternehmenseinträge schönfärben will. Oder jemand anonym den Lebenslauf einer Politikerin aufhübschen möchte.

6. Im Jahr 2020 führt die chinesische Regierung das «Social Scoring System» ein.

Sie erinnern sich vielleicht an die erste Folge der dritten Staffel der Serie «Black Mirror». Der Taxifahrer, die Kundenberaterin, der Serviceangestellte, die Kundin – alle bewerteten sich gegenseitig, dank einer App. Die Hauptdarstellerin Lacie war dabei ungewöhnlich grosszügig, aus Unsicherheit. Sie gab jeder Person, der sie begegnete, eine hohe Punktzahl. Aus Angst vor einer Retourkutsche. Denn wer eine zu geringe Punktzahl aufwies, verliert nicht nur an Prestige. Sondern darf auch gewisse Dienstleistungen nicht mehr in Anspruch nehmen. Zum Beispiel ein Flugzeug besteigen. Diese Folge verstörte viele «Black Mirror»-Fans, weil sie sich bedrückend real anfühlte, aber gleichzeitig unvorstellbar war. In China ist dieses Szenario praktisch Realität. In einer Testversion für Freiwillige. Ab dem Jahr 2020 dann für alle chinesischen Staatsbürger. Und diese Realität ist sogar noch düsterer als bei «Black Mirror». Denn die Regierung erzieht die Bürger mit ihrem «Social Scoring System» auch ohne menschliche Bewertungen zu konformem Verhalten. Beispielsweise erhalten Sie einen Punkteabzug, wenn Sie bei Rot über die Strasse laufen. Dies, weil die öffentlichen Kameras über ein automatisches Gesichtserkennungssystem verfügen und die Identität jedes Einzelnen augenblicklich erkennen. Die Regierung führt ausserdem die digitale Sippenhaft ein. Sollte einer Ihrer Freunde im chinesischen sozialen Netz – also Weibo oder WeChat – etwas Kritisches gegenüber der Regierung schreiben, so wird nicht nur Ihr Freund abgestraft. Sondern auch Sie. Weil Sie ein Freund sind.

So. Und damit wissen Sie das Wichtigste. Und können wieder ohne Skrupel loslegen. Vergessen Sie aber nicht, Ihr Wissen in drei Monaten wieder aufzufrischen. Falls Sie keine Zeit dafür haben, stehe ich gern zur Verfügung. Und liefere – falls Sie es wünschen – ein Update.

PS: Ich bin natürlich auch faktenfrei argumentierenden Damen begegnet. Es waren wenige. Der Grund ist nicht, dass sie besser argumentieren. Sondern weil Frauen generell auf den Podien dieses Landes (noch) fehlen.

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