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Vielleicht aufgrund meiner Herkunt aus einfachen Verhältnissen - mein Vater war Bauernsohn und Arbeiter, meine Mutter Hausfrau - ist es für mich trotz akademischer Ausbildung befremdlich, mich zur 'Elite' zu zählen. Als Privileg habe ich die Chance, zu studieren, immer empfunden, als Trittbrett, um zu einer wie auch immer gearteten 'Elite' zu gehören nie.
Genauso fremd sind mir aber auch die Verhältnisse geworden, aus denen ich herkomme: die Enge der Weltbilder und die teilweise abwertende, aggressive Abgrenzung gegen 'die da oben' verletzt und schmerzt. So hänge ich dazwischen... was mich mit den MigrantInnen verbindet, den Flüchtlingen, die nirgendwo mehr daheim sind, und all den Auf- und AbsteigerInnen, die keiner Schicht mehr zugehören, sondern irgendwo dazwischen pendeln. Das macht Perspektivenwechsel vielleicht leichter, vielleicht vergrössert es aber auch einfach den Druck, zumindest irgendwo Heimat und Zugehörigkeit zu finden. Denn das ist m.E. existenziell, 'oben' wie 'unten'. Machen wir uns nichts vor: die Fremde in jedem Sinn, das Unzuhause, halten wir alle nur aus, wenn uns genügend Vertrautes rückbindet: das regelmässige Einkommen, die Zugehörigkeit zu einem internationalen Konzern, der Vorsitz einer Heimatvereinigung, Partnerschaft, Familie, Ehrgeiz, die Aussicht, irgendwann zurückzukehren, was auch immer.
Ich meine, das Wichtigste wäre, anzuerkennen, dass uns als Menschen alle die gleichen Ängste quälen: Ohnmacht, Einsamkeit, Verlust, Kränkung, Leiden, letzendlich Sterben verbindet uns alle. Der Rest ist Pipifax. Von dieser Position aus löst sich auch die Frage mehr oder weniger in Luft auf, wie wir 'den andern' denn beibringen könnten, was richtig wäre. Wir wissen es doch selbst nicht!
Das macht aus meiner Sicht den Weg erst frei, zusammenzusitzen und nach echten Lösungen für konkrete Probleme zu suchen: jedeR bringt das seine oder ihre ein, und nichts ist besser oder schlechter, höchstens für ein bestimmtes Problem mehr oder weniger geeignet. Mit einer Sanduhr kann man keine Bäume fällen, sagt Hermann Hesse. Und mit einer Axt keine Zeit messen.
Das funktioniert allerdings global nicht, braucht wohl tatsächlich kleinräumige Verhältnisse. Von daher ist die Zersplitterung des öffentlichen Raums im Internet, die Sprenger erwähnt, und die zu besagten Filterblasen führt, wahrscheinlich halt auch einfach eine organische Entwicklung, die man nicht vorausgesehen hat, weil Nachdenken über und Einbezug der naturgegebenen Bedürfnisse des Menschen den 'Machern', fasziniert vom technisch Möglichen, allzu oft als nicht opportune Zeitverschwendung erscheint. Trotzdem bleibt der Mensch nicht beliebig bieg- und flexibilisierbar, er kann vielmehr am Versuch kaputtgehen. Hier besteht tatsächlich Nachholbedarf, wo wir von den Unzufriedenen, Krankgewordenen, Rausgeschleuderten lernen können und m.E. auch müssen. Sie machen die Bruchstellen sichtbar.
Das ist nicht naiv, man erkennt nur den Reichtum nicht, wenn die Wahrnehmung anders gerichtet ist. Ich gebe Frau L. recht, dass die Information in beide Richtungen fliessen muss, wenn etwas Gescheites dabei herauskommen soll: vom Einfachen zum Komplizierten und wieder zurück. Von daher gefällt mir auch der Sprengersche Ansatz nicht, obwohl der Autor im Detail sicher recht hat. Der Denkansatz ist zu einseitig männlich ausgerichtet. Frauen denken tatsächlich anders: mehr zirkulär statt linear.

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Wow. Viel Weises, liebe Frau J., besten Dank!

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Herzlichen Dank für all die Blumen, die mich natürlich sehr freuen, aber sie kommen mir auch ein bisschen unverdient vor: eigentlich ist nur die Zusammenschau von mir und die klugen Gedanken haben immer schon andere vor mir gedacht. So hat Michel Rebosura (und wahrscheinlich auch andere) natürlich pfeilschnell erkannt, woher mein philosophischer 'Unterbau' stammt: in meiner Therapieausbildung wurde ganz viel Wert auf Heideggers 'Sein und Zeit' gelegt und daneben auf Sartres 'Das Sein und das Nichts', aber weil ich vor allem bei Ersterem permanent das Gefühl hatte, überhaupt nichts zu begreifen, habe ich wahrscheinlich gar nie bemerkt, wieviel davon ich in meine grundsätzliche Haltung dem Leben und der Welt gegenüber doch mitgenommen habe (auch wieviel Früchte meine unermüdlichen Übersetzungsbemühungen und -krämpfe schlussendlich vielleicht doch noch getragen haben). Diesen zwei Geistesgrössen möchte ich deshalb nachträglich noch meine Referenz erweisen (auch wenn ich Heideggers sprachliche wie politische Marotten nach wie vor 'a pain in the.... ' finde).

Danken möchte ich aber auch Ihnen, Herr Graf, dass Sie es immer wieder schaffen, mit ihren Buchvorstellungen hier einen Raum zu eröffnen, wo Austausch und Diskussionen möglich werden, die (und jetzt schreibe ich etwas, was sicher mindestens der Hälfte der hier Mitlesenden die Haare zu Berg stehen lässt) sich einfach gut anfühlen.
Mich nervt gelegentlich die überall verherrlichte 'Zielorientierung': manchmal darf etwas auch einfach nur gut sein, ohne konkret 'etwas bringen' zu müssen. In diesem Sinn auch merci allen DiskussionsteilnehmerInnen hier, denn: man nimmt immer etwas mit, auch wenn man es vielleicht nicht merkt ^^

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Ich meine, das Wichtigste wäre, anzuerkennen, dass uns als Menschen alle die gleichen Ängste quälen: Ohnmacht, Einsamkeit, Verlust, Kränkung, Leiden, letzendlich Sterben verbindet uns alle. Der Rest ist Pipifax. Von dieser Position aus löst sich auch die Frage mehr oder weniger in Luft auf, wie wir 'den andern' denn beibringen könnten, was richtig wäre. Wir wissen es doch selbst nicht!

Für mich der Kern des Existenzialismus und jeder existentiell relevanten Philosophie. Ausgehend dieser wir erst über eine gemeinsame Ethik und Politik sprechen können. Wahrhaftig und ohne Selbstüberhöhung.

Auch von mir aus dem "Dazwischen" ein herzliches Dankschön für Ihre denk-würdigen Worte.

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Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre klaren Worte, die das Wesentliche und Entscheidende benennen, was uns Menschen über alle Grenzen hinweg verbindet: dass wir letztlich im selben Boot sitzen, dass wir dieselben Urfragen und Urängste haben, dass wir Leiden vermindern und Glück für uns und die andern finden möchten. Von dieser elementaren Grundsituation aus müsste doch jede Diskussion und Auseinandersetzung beginnen und sollte auch wieder dahin zurückfinden.

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Bin auch sehr begeistert und berührt durch ihre Worte. Vielen Dank, Frau J.

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Gut geschrieben @B. J.. Danke.

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Mir ist immer unwohl bei solchen Zuordnungen zu Gruppen. Und wo es dann ganz schwierig wird für mich: Wenn akademische Bildung mit Intelligenz und fehlende oder Grundbildung mit Dummheit gleichgesetzt wird.
Denn dann passiert genau das: Man hört auf, mit einander zu reden oder sich für einander zu interessieren.
Sind wir ehrlich: Viele Hochgebildete interessieren sich nur für "die kleinen Leute", weil sie wissen, dass sie sie irgendwie ins Boot holen müssen um sie nicht an die Rechtspopulisten zu verlieren.
Das wird aber von dieser "Zielgruppe" durchaus wahrgenommen. Und man ist dann zum Teil eben auch verstimmt deshalb.
Was ich meine: Statt immer nur "die Ängste und Sorgen der kleinen Leute" scheinbar ernst nehmen zu wollen, könnte man mal umgekehrt anfangen, sie nach ihren Ideen und Lösungen zu fragen. Das sind alles Menschen mit eigenen Erfahrungen, Lösungsstrategien, Ideen und Geschichten etc. und oft mit verblüffender Kreativität. Natürlich gibts auch Dumpfbacken darunter, aber die gibt's unter den Akademikern auch, nicht wahr?
Also, statt von oben herab die Welt erklären zu wollen in einfacher Sprache, mal fragen, wie sie von der anderen Seite her gesehen wird.

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Ebenfalls ein richtiger und wichtiger Aspekt! Ein politischer Ansatz wären mehr „Runde Tische“, die situativ sind, da regelmässige Gemeindeversammlungen rar geworden, wenn nicht verschwunden sind.

Welche „Erfahrungen, Lösungsstrategien, Ideen und Geschichten“ haben Sie aus Ihrem näheren oder weiteren persönlichen Umfeld erfahren?

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Danke für die Frage.
Ich bin mit meinem Handwerk viel auf Märkten unterwegs und kenne deshalb viele Marktfahrer und Schausteller. Das ist eine sehr gemischte Gruppe. Was die meisten auszeichnet, ist die Fähigkeit, zu improvisieren und das Beste aus den Gegebenheiten zu machen.
Auch besteht eine grosse Solidarität, trotz Konkurrenz. Man buhlt eigentlich um die gleiche Kundschaft, sitzt aber auch im gleichen Boot und hat gelernt, dass es jedem besser geht, wenn alle einander unterstützen.
Die meisten Lebensgeschichten dieser Menschen sind x-fach gebrochen, aber dadurch haben sie auch eine (Über-)Lebenskompetenz entwickelt.
Und dann gibt's da diese Gespräche, wenn man mal zusammensitzt. Der Seifenhändler aus Polen, der mit wenigen, sehr treffenden Sätzen die Politik in seinem Herkunftsland analysiert - weit weg von "Stammtischniveau" sondern so, dass ich denke: Lasst den Mann mal an einflussreicher Stelle sich äussern.
Und das ist nur eine von vielen solcher Begegnungen.

Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Menschen irgendwo Kompetenzen erworben haben, die sie auszeichnen. Deshalb finde ich die Idee runder Tische auch gut.
Wenn es zB ums Thema Alterspolitik geht, sollten sich selbstverstänlich alte Menschen äussern dürfen, aber auch Pflegekräfte.
Oder wenn es um Wohnpolitik geht, sollten auch Wohnungslose befragt werden.

Und das eben nicht einfach als Alibiübung, sondern wirklich interessiert und mit der Grundhaltung, dass man dem Gegenüber auch etwas zutraut. Und von ihm lernen möchte.

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Liebe Frau L., zunächst einmal herzlichen Dank an Sie und alle anderen Gesprächsteilnehmer_innen hier für die anregende Diskussion. Ich kann Ihr Unwohlsein hinsichtlich der Zuordnungen gut nachvollziehen. Denn weder die "kleinen Leute" bilden eine homogene Gruppe noch gilt das für die Anhängerschaft der Populisten. Forscherinnen wie zuletzt vor allem Cornelia Koppetsch haben vielmehr mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass populistische Wählerschichten durchaus heterogen und sozioökonomisch sehr schwierig zuzuordnen sind. Vielleicht also muss das Nachdenken über Problemlösungen mit dem Verzicht auf voreilige Homogenisierungen beginnen (ohne dass man die Frage nach gruppenspezifischen Tendenzen aufgeben müsste). Konkret: Wir sollten nicht so tun, als seien einzig und allein die "kleinen, weniger gebildeten Leute" Träger der populistischen Bewegung. Und wir sollten nicht durch paternalistisches "Verständnis für die kleinen Leute" den anti-populistischen Protest kleinreden, der auch aus dieser Gruppe kommt.

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Es gibt ein Problem, das ich in dieser Klarheit auch erst nach meinem späten Studium erkannt habe: die Übung mit dem abstrakten Denken. Auch sehr intelligente Menschen bleiben oft im konkreten Einzelfall-Denken, wenn sie Probleme sehen. Gesellschaftlich-poltisch-wirtschaftliche Analysen erfordern aber, dass man/frau zB Mittelwerte in der Population nachvollziehen kann. Statistische Daten werden erst zum Orientierungspunkt, wenn man methodisch nachvollziehen kann, wie sie entstehen und was sie aussagen. Ich stamme von einem Kleinbauernhof und dort haben sich meine im übrigen sehr intelligenten, aber ausser Volksschule ncihht gebildeten Eltern, mein Vater besonders, ihre Weltsicht von dort geholt, was sie konkret in ihrer Welt erlebt und gesehen haben. Allem anderen haben sie nicht wirklich getraut. Bis heute. Es gibt zwar Hoffnung: Mit jeder Generation nimmt der IQ zu, und zwar vor allem im Bereich des abstrakten Denkvermögens. (So sehr, dass die Tests immer nachjustiert werden müssen. )Dies ist ein grosser Antagonist gegen Ängste aller Art.

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Da stimme ich zu, die Übung in abstraktem Denken fehlt mir selber auch und ich neige dazu, aus meinem eigenen Erleben, meinen eigenen Erfahrungen zu schöpfen.
Allerdings glaube ich, dass genau dies auch eine Stärke sein kann, vor allem, wenn gegenseitiger Austausch stattfinden kann.
So wie jetzt zB. auch in dieser Diskussion.

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Ich sehe beides: einerseits wird nicht mit der Zielgruppe geredet. Auch hier werden die Meinungen einer konservativen Bevölkerungsgruppe als "Ängste" abgetan. Noch vor 50 Jahren war aber ein völkischer Patriotismus völlig Mainstream, man sah Menschen als einer Nationalität zugehörig, und die Länder als das Herrschaftsgebiet dieser Nationalität, eben die Nation. Jetzt war das Konstrukt der Nation und des Nationalstaates nie lupenrein, Staaten enthielten immer auch andere Nationalitäten als die dominierende. Dennoch ist die Ablehnung des Konstrukts der Nationalität und der Nation erstmal eine Meinung, ein Ziel das gewissen ideologischen Wünschen und Hoffnungen entspringt. Mittlerweile folgen grosse Teile der Westeuropäischen Gesellschaft dieser Denkweise. Das legitimiert sie aber nicht, die traditionelle Vorstellung wie menschliche Gesellschaften aufgebaut sind, einfach als krank und gefährlich abzutun. Ja, Nationalstaaten haben viele Kriege gebracht, extremer Nationalismus gar grauenhafte verbrechen. Aber neoliberaler Internationalismus hat genauso wenig Frieden gebracht.
Anderseits sehe ich die Frage der Gebildeten und der Ungebildeten: das "Dumm" ist sehr beleidigend und daher abzulehnen. Anderseits erlebe ich in der Privatwirtschaft stets, dass Mitarbeiter auf allen Ebenen jeweils sehr froh sind, wenn die Verantwortung wichtiger Entscheidungen durch den Experten und Vorgesetzten abgenommen, oder mindestens abgesegnet werden. Wo also die direkte Konsequenz einer Entscheidung sichtbar ist, sind sehr viele Menschen durchaus bereit, Verantwortung abzugeben. Und zwar je breiter das Wissen und die Übersicht über relevante Zusammenhänge ist, desto mehr wird erwartet dass jemand Verantwortung übernimmt. Lange funktionierte die Schweizer Demokratie auch so, dass die meisten Bürger die meiste Zeit akzeptierten, dass die Volksvertreter auf nationaler Ebene weit mehr Einsicht in politische Zusammenhänge haben, als der "einfache Bürger". Politiker sprachen in gewisser Weise "von oben herab", und die Bürger akzeptierten das. Heute scheint mir das komplett abhanden gekommen zu sein. Politiker trauen sich nicht mehr, Zusammenhänge zu erklären, weil es belehrend klingen könnte. Und Bürger vertrauen nicht mehr darauf, dass Politiker mehr sehen und verstehen, als wir die alle paar Monate mal 5 Minuten ein Abstimmungsbüchlein durchblättern (überspitzt gesagt). Es herrscht ein massiver Vertrauensverlust gegenüber den Eliten. Umgekehrt herrscht aber auch eine Angst der Eliten, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Da sehe ich die Stärke der "Populisten": die trauen sich einfach zu sagen, was gemacht werden soll. Nicht dass das die richtigen Antworten sind. Aber auch liberale, wenn sie in Führungspositionen sind, sollten mal sagen, was gemacht werden soll, anstatt immer nur Fragen zu stellen und hoffen, dass jemand (der Wähler, der demokratische Prozess, etc.) die Antwort gebe. Ich sehe bei den Grünen z.B. durchaus Antworten auf gewisse Fragen, welche ich für richtig halte, obwohl sie konkret und einfach sind. Und damit fahren die Grünen auch sehr gut, jetzt wo diese Fragen grosse Aufmerksamkeit erlangt haben.

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Auf die Gefahr, dass ich wieder scharfe Reaktionen provoziere: Ich sehe ein gewaltiges Problem in der falschen Annahme (bzw. falschen Proklamierung) dass alle Menschen gleich seien, und alle Meinungen gleichberechtigt. Damit nehmen sich die liberalen Eliten nämlich aus der Verantwortung. Wissen ist Macht, und mit Macht kommt Pflicht - sollte zumindest. Das heisst diejenigen die mehr wissen als andere, haben auch eine grössere Verantwortung für die Welt. Diese können Sie aber nur wahrnehmen, wenn sie (wir) sich diese Macht eingestehen. Umgekehrt finde ich es dann aber auch richtig, dass gebildete, wissenschaftliche Aussagen nicht auf eine Stufe mit Glaubenssätzen gestellt werden - siehe Klimawandel wo lange Zeit etwa 50-50 berichtet wurde, es gäbe einen Klimawandel und es gäbe ihn nicht, obwohl 99% der Forschung sagte, der Klimawandel sei unbestritten. Mit der Krebsgefahr durch Rauchen war es ähnlich. Immer wieder werden im Namen der Rede- und Meinungsfreiheit wissenschaftlich fundierte Studien gleichgestellt mit puren Glaubenssätzen von befangenen Interessengruppen.
Zurück zu den Eliten: wenn die Legitimation der Politiker einfach davon kommt, dass sie mit der Mehrheit der Stimmen gewählt werden, dann ist das totale Versagen einer Regierung kein Grund sie als illegitim zu bezeichnen, denn sie ist ja gewählt. Steht die Elite (sowohl faktische Elite der Gebildeten, als auch formelle Elite der Regierenden) hingegen in der Pflicht, das Leben der Menschen zu verbessern, um in ihrer Autorität legitimiert zu bleiben, so entsteht ein ganz anderer Leistungsdruck unter den Herrschenden.

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Wenn Sie sagen, es bedürfe schlicht der „Antworten“. Dann ist stets zu fragen „Durch wen?“ und „An wen?“.

Sie finden es ja falsch, „dass alle Menschen gleich und alle Meinungen gleichberechtigt“ seien. Die besseren Menschen sind also die, die mehr Wissen hätten, da sie damit automatisch auch mehr Macht hätten. Die „Besserwisser“ sind also nicht nur die „Rechthaber“, sondern auch die „Machthaber“. Die „Nichtwissenden“ hingegen die „Habenichtse“, da sie kein echtes Wissen hätten, sondern blosse Meinungen und Glaubenssätze.

Also je mehr man weiss, umso höher gestellt sei man und umso mehr Verantwortung habe man. Eine Verantwortung, die man dezidierter wahrnehmen müsse, in dem man (wieder) mit der „Stärke der ‚Populisten‘“ mehr „von oben herab“ erklärt und entscheidet. Autoritärer Paternalismus also - „zu ihrem Bestem“. Damit wird aber nicht „mit der Zielgruppe geredet“, sonder zu ihr Befehle gegeben. Was aber zu Ihrer präferierten Rückkehr des „Mainstreams“ zum „völkischen Patriotismus“ und „Nationalismus“ passt.

Denkt man Ihre Beiträge im Zusammenhang weiter, dann laufen sie auf eine hierarchische Meritokratie des Intellekts i. S. einer Techno- bzw. Expertokratie hinaus. So wie sie in Platons „Staat“ mit dem bzw. den Philosophen-Königen an der Spitze utopistisch durchexerziert worden ist. Doch wie bekannt ist, endete seine Reise nach Syrakus, wo er seinen Plan realisieren sollte, mit dem Clash zwischen dem Idealismus des Wissenden und dem Zynismus des Mächtigen. Woraufhin er um sein Leben fürchtend fliehen musste.

Die grosse Voraussetzung, die entgegen der empirischen Wirklichkeit oft nur ideologische Setzung bleibt, ist nämlich, dass der gute Gott, Hirte, König, Diktator, Avantgarde, Partei, Algorithmus tatsächlich „gut“ ist. Doch einmal in dieser Machtposition installiert, wird man sie trotz fehlender Güte und massiver Grausamkeit so bald nicht mehr los.

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Ich bin ja ein Freund Platons, doch vielmehr der empirischen Wirklichkeit. Daher bin ich eher Aristoteliker.

Die öffentlichen Belange (res publica) und der Staat als Republik sind keine Privatunternehmen - so wie es ja die Neoliberalen wollen - die in sich auch noch Planwirtschaften sind.

In einer rechtsstaatlichen Demokratie ist neben der Verfassung der demos wichtig, das als solches aus Gleichen besteht. Dieser Egalitarismus ist zwar einerseits „Proklamation“, ein Anspruch, denn niemand kommt als Demokrat*in zur Welt, sondern man wird es.

D. h. es bedarf immer und überall eines „Prozesses der Zivilisierung“ - der Aufklärung und der Bildung. Damit man nicht nur „alle paar Monate mal 5 Minuten ein Abstimmungsbüchlein durchblättert“. Denn in einer Demokratie sollten alle hinreichend genug wissen, um die politische Verantwortung übernehmen zu können. Denn die Macht ist nicht in Wenigen konzentriert, sondern in Vielen verteilt. Es bedarf also mehr Bildung zur Bürger*in und weniger Ausbildung zur blossen Produzent*in und Konsument*in.

Es ist also auch eine Frage des (inklusiven oder exklusiven) Zugangs.

Durch kultivierte Zivilisiertheit werden wir fähig als Gleiche sog. politische Freundschaften zu schliessen - die nicht mit privaten zu verwechseln sind - innerhalb dieser wir im Gespräch durch den Austausch von Argumenten und Einnehmen von Perspektiven das Beste für die Republik suchen und auch uns selbst gegenseitig bessern.

Deshalb legte Aristoteles auch so viel wert auf Logik und Rhetorik (aber auch tragische und komische Dramatik), damit wir eine zivilisierte, d. h. nicht-polemogene Debattenkultur pflegen können.

Die Antworten werden also durch die Politiker*innen qua Bürger*innen im Diskurs an sie selbst gegeben.

Das wichtigste Ziel der Politiker*in ist laut Aristoteles das Gemeinwohl der Republik. Und das wichtigste Mittel dazu ist die Selbst-Kultivierung, Bildung und Kultur.

Dem gegenüber steht die utilitaristisch-ökonomistische Nutzen- und Profitmaximierung der nicht mehr so sozialen, sondern mehr neoliberalen Marktwirtschaft. Mit der als erstes genau bei diesen gekürzt wird - Bildung und Kultur - zum Wohle der Wenigen. So dass mit dieser Entzivilisierung bei den Vielen genau dasjenige, das sie krank macht, als Heil begehrt wird: Anti-demokratischer Autoritarismus, agonaler Streit und polemogener Konflikt, Stasis und Spaltung.

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Vielleicht meint er auch nur, dass die Wissenden mehr in der Pflicht sind, auf die anderen zuzugehen, zuzuhören, mit ihnen zu reden.

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Klug, intelligent, gebildet, ich benutze das der Einfachheit halber austauschbar.

Das ist keine Vereinfachung - das ist ein überheblicher, perfider Murks. Und auf der anderen Seite stehen dann die Ungebildeten die austauschbar auch als die Dummen bezeichnet werden dürfen.
Hier die Anywheres zu denen man sich selber zählt und dort die dumpfen Somewheres.

Neben vielen interessanten Betrachtungen und Aspekten blieb obiges hängen...

Wie kann Anstand gefördert werden, in einer Gesellschaft die gefühlt immer unverschämter wird?

Indem man den Anywheres ihre Unverschämtheiten nicht mehr durchgehen lässt?
Die Somewheres werden ja in der Regel zur Rechenschaft gezogen. Sie können sich (in der Regel) weder einen Tross von guten Anwälten leisten, noch sich hinter politischer Immunität verstecken.

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Indem man den Anywheres ihre Unverschämtheiten nicht mehr durchgehen lässt?

Finde ich eine gute Idee: ansprechen, markieren, Flagge zeigen.

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Ich sehe das auch so: Wenn wir nicht die psychologischen Faktoren im Denken und Verhalten der Menschen - und schlussendlich dann im Handeln - berücksichtigen, kommen wir nicht wirklich über den Trend zur Polarisierung hinweg. Menschen unterliegen den gleichen Bedürfnissen und Impulsen und zwar in allen Schichten. Wer besser gebildet ist, kann sie aber eher in ihrer Komplexität erkennen und analysieren. Deshalb sind die hier genannten "Eliten" eben stärker in der Pflicht. Weil sie aber nicht die anderen "belehren" sollen, da dies Reaktanz weckt und eher zum Gegentiel führt, müssen sie vor allem lernen, ihren eigenen Widersprüchen auf die Spur zu kommen und wenigstens teilweise gegen die eigenen Impulse der Abgrenzung ("Ingroup"-Attraktivität) anzugehen. Sie haben die Ressourcen dazu. Damit ist aber nicht gemeint, die "Alibiausländer" aus dem Quartier, die man doch so nett findet, oder gar den multiethnischen Freundeskreis. Nein, den "mühsamen Proll", der die Rechten wählt, oder mit ihnen sympathisiert, auszuhalten, mit ihm ein Bier zu trinken in seiner Kneipe mit der furchtbaren Musik und dem kulturlosen Interieur. Wo billiges Fleich serviert wird, das eventuell nicht aus tierfreundlicher Haltung stammt. Orte, für die man sich bei seinen Freunden geniert. Wo man mit seinem Gewissen in Konflikt kommt und verwirrt ist. Einmal zum Ballermann nach Spanien in Urlaub. Solche Sachen fürchten geistigen Eliten wie der Teufel das Weihwasser. Sich ganz aus Gruppenidentitäten auszuklinken kann jedoch von keiner Schicht verlangt werden, es ist ein zu tiefes menschliches Bedürfnis.

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Kurz gesagt den andern Menschen mit Neugier und Offenheit begegnen ....bereichert das eigene Denken!

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Ja, nur denken die meisten (links-) Liberalen, dass sie es bereits tun. Was hier im Artikel micht erwähnt wird: Die meisten Menschen haben ein zu positives Selbstbild. Das ist ein Bias aus dem Bedürfnis nach Selbstachtung heraus. Das zeigt sich in vielen Experimenten.

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Oder nach Ibiza zu den Strache-Sympathisanten ;-) Im Ernst: Also nicht nur „Mit Rechten reden“, sondern auch „Mit Rechten leben“. Ihnen begegnen, ja Begegnungsräume schaffen (oder in Hartmut Rosas Worten „Resonanzräume“). Die mit den fast implantierten Telekommunikationsgeräten immer seltener geworden sind.

Ich bin ja im sog. „Hinterland“ aufgewachsen. Und als jemand „mit Migrationsvordergund“ erlebte ich schon nur durch die pure Begegnung so manch Interessantes.

Die Pein-lichkeit, die sie verspüren, wenn sie doch aus Neugier fragen, woher ich denn „eigentlich“ käme. Die Verwunderung, dass ich so „gut Deutsch sprechen“ könne. Oder das hastige „Aber nicht Du! Du bist etwas anderes“, wenn sie in meiner Anwesenheit über „Ausländer“ hergezogen sind (in meiner Zeit meist über jene aus der Balkanregion, gerne auch mit dem „J-Wort“).

Einmal fragte mich ein einsamer junger Skinhead, ob er von mir eine Zigarette haben könnte. Da ich nur Zum-Selber-Drehen hatte und er nicht selber drehen konnte, rollte ich ihm eine. Während er wartete, kamen wir ins Gespräch. Er meinte, Asiaten seien cool. Samurais und so. Es war die Zeit, in der alle Asiaten Japaner waren und ich „alle Asiaten“, wobei ich ihm verschwieg, dass ich kein Japaner bin. Und natürlich sprachen wir nicht über Politik. Anyway, es war eine unvorhersehbare und interesante Begegnung.

Szenenwechsel. Ebenfalls im „Hinterland“. Im tiefen. Ich ging frühmorgens von einer Party auf den Zug. In Huttwil stieg eine Gruppe Neonazis ein. Alle Abteile ausser meines war von ihnen besetzt. Ich tat so, als wäre ich im Halbschlaf und schaute nur noch aus dem Fenster. Und dachte mir, wenn sie schlecht aufgelegt wären, hätte ich einfach „kei-ne Chance“. Doch zum Glück kamen sie völlig übermüdet von einem Rechtsrock-Konzert. Und zum Glück sah ich nicht aus wie ein Punk oder hatte ich Antifa-Aufnäher am Rucksack dran. Sondern war nur so ein harmloser einsamer „Ausländer“. Wiederum: auch eine Begegnung.

Ich bezeichne mich ja als neugierige und offene Person. Aber ob ich mit meinem „Migrationsvordergrund“ in diese Bubble platzen soll?

Mit Rechten leben und reden klingt ja erst mal gut und ist sicher richtig. Doch was machen wir Ihrer Meinung nach mit manifesten Grenzen und deren Überschreitungen? Unauffällig bleiben, brav weglächeln, geduldig aufklären oder laut protestieren?

Und wie Ängste ansprechen, ohne Abwehrmechanismen auszulösen? Sondern sie zu nehmen? Wie Verstärkungen und Überhöhungen durch Dritte entgegenwirken?

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Es ist sicher mit Vorsicht anzugehen, als "nichteuropäisch ausshender Mensch" direkt den Kontakt mit Rechtsaussen zu suchen. So strikt meinte ich das nicht. Es genügt schon, wenn gutsituierte liberale MittelschichtakademikerInnen sich ins Milieu von potenziell rechtspopulistisch wählenden "Kleinbürgern" begeben oder Unterschichtler. Die Masse, die die neuere, Zürcher-geprägte -SVP wählen, sind nicht die Rechtsaussen. Die gehen oft nicht einmal wählen.

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Mit Ängsten reden

Bei diesem Interview fiel mir der zum Slogan geronnene Titel „Mit Rechten reden“ ein, den man besser zu „Mit Ängsten reden“ abändern sollte. Und zwar mit jenen von allen. Also sowohl mit den Ängsten der nach Rechts als auch mit jenen der nach Links Tendierenden.

Da fände ich interessant, was Carlo Strenger als Psychologe, Philosoph und Sozialpsychologe zu sagen hätte. Oder auch Daniel Strassberg als Psychoanalytiker.

Die Angst vor dem Verlust der „Heimat“ der „Somewheres“ erinnerte mich an Sigmund Freuds „narzisstische Kränkung der Menschheit“, dass das „Ich nicht mehr Herr im eigenen Hause“ sei. Anna Freud wiederum beschrieb, wie Angst eine Vielfalt von „Abwehrmechanismen“ erzeugen kann.

Trieb- oder instinkthaft bzw. evolutiv in der Amygdala verwurzelt ist der „Fluchtreflex“ oder „Angriffshaltung“, die durch „Überhöhung“ verstärkt oder durch „Verharmlosung“ entlastet werden können. Doch flight or fight geht einher mit friend or foe. Womit man bei den Stereotypen - den „Feindbildern“ - von Politik, Kultur, Gesellschaft angekommen wäre.

Im Sozialen wäre die „Angst vor sozialer Scham und Beschämung“ (Elias) und „Verunsicherung und Kontingenzangst infolge anomischer gesellschaftlicher Zustände“ (Durkheim) zu nennen.

Was also tun?

Auf der einen Seite fordert Strenger eine Komplexitätsreduktion ohne Simplifizierung und Stereotypisierung sowie den Mut zur Begegnung.

Auf der anderen Seite bedürfe es der Bildung, die m. M. n. auch Kompetenzen zur Komplexitäts- und Kontingenz-Bewältigung beinhaltet. Also analytische Fähigkeiten aber vor allem auch Fähigkeiten wie Resilienz und Ambivalenztoleranz.

Denn der Zwang zur „Reinheit“ durch Exkludierung alles „Schmutzigen“ und „Störenden“ - durch Rechts wie durch Links - ist ebenfalls eine Angsterscheinung. Doch die (eigentlich immer schon) komplexe Welt lässt sich nicht mehr - auch nicht durch noch strengeres law and order - in die gute und ewige „alte Ordnung“ zurück zwingen.

Was bräuchte es also noch, um Ängsten zu begegnen und Leid zu verringern?

Anyway, danke für das - sehr gelegen kommende - Interview, Daniel!

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Was bräuchte es noch? Antworten. Ganz konkrete, spezifische Antworten. Wie kann Anstand gefördert werden, in einer Gesellschaft die gefühlt immer unverschämter wird? Wie kann eine lokale Kultur weitergegeben werden, wenn die Gesellschaft immer mobiler wird? Wie kann das Schöne und Gute in einer lokalen Gesellschaft erhalten werden, wenn Sie durch Zwänge des Arbeitsmarktes auseinander gerissen wird? Wie kann das Gefühl von Weite in der kleinen Schweiz erhalten bleiben, wenn die Bevölkerung immer weiter wächst? Wie schützt man die Schweizer Kulturen vor der Amerikanischen Einheitskultur die täglich durch Fernsehen und Serien verbreitet wird?
Mit Psychologisierung dieser Furcht ist nicht geholfen, da ja nicht die Psyche der Unzufriedenen schuld ist. Mit Fakten kann man teilweise helfen, würde mehr über die sinkende Kriminalität berichtet, als über kriminelle Einzelfälle zum Beispiel. Aber es ist nicht nur ein Problem der Wahrnehmung. Lokales Kulturleben ist für viele Menschen sehr wichtig. Viele Vereine leisten auch enorme Arbeit für die Integration von in- und ausländischen Migranten, aber in vielen elitären Kreisen ist die Diskussion über die Integration, die Leitkultur, die Anpassung so verpönt, dass das Gefühl entsteht, diese Arbeit werde nicht wertgeschätzt. Ich fände es als Ausländer übrigens auch sehr schwierig mich zu integrieren, wenn mir keiner sagt was lokale Gepflogenheiten sind.
Ich persönlich bin auch total anywhere und verstehe das extrem-Kleine der Schweiz oft nicht mehr. Aber ich anerkenne, dass es vielen Schweizern sehr wichtig ist und würde daher von Schweizer Eliten erwarten, dass sie sich dafür einsetzten, es zu schützen. Viele tun es ja auch, inklusive viele linke Lokalpolitiker. Nur im grösseren Diskurs scheint es mir wie nicht vorhanden.

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Die liberalen Eliten suchen nach Lösungen, wie sie Schritt für Schritt die Somewheres zu Anywheres der Globalisierung machen können. Die populistischen Eliten versprechen den Leuten, die das wollen, dass sie Somewheres bleiben dürfen. Beide beackern dieselbe zivilisatorische und die Welt umspannende Disruption, ersere geben sich auf der grossen Bühne der Politik realistisch, weil sie für die Somewheres den Weg der Assimilation propagieren, letztere stattdessen romantisch, weil sie scheinbar das Unmögliche möglich machen. Mir gehen dabei Bilder wie z.B. die verstörend-zerstörerischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verwerfungen der norwegischen, schwedischen, finnischen und russischen Siedler mit den Samen in Nordskandinavien und Murmansk auf dem Kolaeinland (dem ursprünglichen Sápmi) durch den Kopf.

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In aller Regel lese ich einen Artikel oder Essay über «Eliten» nicht. Bei Carlo Strenger kann man mal eine Ausnahme machen, aber mich hat's nach dem ersten Drittel auch schon wieder gelangweilt.
Meist unterlassen es die Autoren - etwa Eric Gujer in der NZZ - zu definieren, in welcher Hinsicht Eliten eben ausgezeichnet sind. Entsprechend unklar bleibt es dann, was genau das «Pack» daran stört. Bei Strenger sind es Bildungseliten, welche angeblich irgendwie definierte «Populisten» verängstigen. Immerhin erkennt Strenger, dass er ein Problem auch damit hat, Populismus zu definieren.
Dabei geht es doch - seit den Zeiten Homers - um die Erzählung von Geschichten. Nicht Faktenchecks sind gefragt - war's wirklich der Pfeil Apollos in der Achillesferse - sondern um Legitimation. Das dazu nötige Personal - Nymphen, Götter, Helden, Eliten, Zentauren, Drachen, Populisten und Schlaumeier - ist austauschbar.
Menschen, denen die Legitimation abhandenkommt, reagieren verängstigt und irrational. In Zeiten der Klimakatastrophe, der Massenmigration, der digitalen Umwälzung, fehlt es an Legitimation. Sogar für den Ferienflug nach Kreta. Oder die Alp der Röstis ob Kandersteg (NZZ vom 22. Juli 2019).
Die Menschen suchen den Sänger, der ihnen die Legitimation gibt, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es gerne täten. Oder wie sie es tun müssen, weil die Götter es so wollen.
Ich werde also Carlo Strengers Buch nicht lesen; es zielt am eigentlichen Thema vorbei.

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Ein wichtiger Hinweis, Herr F.! Wie würden Sie denn die „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ (Habermas) in „Zeiten der Klimakatastrophe, Massenmigration und digitalen Umwälzung“ lösen? Welche Erzählungen bräuchte es ihrer Meinung nach, nach dem „Ende der Grossen Erzählungen“ (Lyotard)?

Lyotard schreibt im Kapitel „10. Delegitimierung“ von „Das postmoderne Wissen“ (1982):

Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Grossteil der Menschen selbst verloren. Daraus folgt keineswegs, dass sie der Barbarei ausgeliefert wären. Was sie daran hindert, ist ihr Wissen, dass die Legitimierung von nirgendwo anders herkommen kann als von ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion.

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Bei Lyotard gefällt mir «sprachliche Praxis». Denken Sie daran, wie es gelang, der SVP die Deutungshoheit über «Souveränität» zu nehmen, indem man den Begriff klarer fasste. Wer Souveränität versteht als Wahlfreiheit und Gestaltungsfreiraum, muss erkennen, dass eine EU-Mitgliedschaft die Schweiz souveräner machen würde als bilaterale Verträge oder einen Rahmenvertrag, der uns gerade mal zwei Jahre Bedenkfrist zum Abnicken von EU-Beschlüssen geben würde. Als Mitglied könnten wir mitreden und wären souveräner.

Ich sehe aber keine «Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus», sondern die Chance, durch bessere Bepreisung von CO2-Emissionen Rahmenbedingungen für neue Technologien zu schaffen, die durchaus kapitalistisch ihre Schöpfer und Förderer zu ernähren vermögen. Also ganz auf dem Boden; keine Wolkenkuckucksheime!

Sie sehen, auch das eine Erzählung, die allerdings ihren Homer noch nicht gefunden hat. Unsere FDP, die von sowas singen könnte, tönt eher wie eine Kakophonie, deren falsche Töne lauten «Förderung, keine Verbote», und «keine CO2-Abgaben im Alleingang». Dabei möchten wir doch die Schöpfer und Förderer hier in der Schweiz unterstützen, und nicht in Kalifornien oder Deutschland.

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Lieber Herr F., besten Dank für Ihren Input. Es freut mich, dass Sie sich trotz Skepsis dem Buch gegenüber so angeregt (und anregend) beteiligen. Mit scheint, so weit liegen Sie mit Strenger in manchen Punkten gar nicht auseinander, z.B. wenn Sie schreiben: „Die Menschen suchen den Sänger, der ihnen die Legitimation gibt, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es gerne täten.“ Das wäre, wenn ich Carlo Strenger richtig verstehe, eine ziemlich treffende Paraphrase seiner eigenen Erklärung für das populistische Erfolgsgeheimnis. Vielen Dank jedenfalls fürs Mitdiskutieren und beste Grüsse!

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