«Die Eliten machen den Fehler, Ängste als dumm und primitiv abzuqualifizieren»

Warum sind liberale Kosmopoliten zum Feindbild geworden? Ein Gespräch mit dem schweizerisch-israelischen Psychologen und Buchautor Carlo Strenger.

Von Daniel Graf, 22.07.2019

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«Wir gehen oft fälschlicher­weise davon aus, dass alle anderen blöd sind»: Carlo Strenger in seiner Wohnung in Tel Aviv. Jonas Opperskalski/Laif

Herr Strenger, Ihr vor kurzem erschienenes Buch trägt den Titel «Diese verdammten liberalen Eliten». Wer sind denn die «verdammten Eliten», die Sie beschreiben?
Zuerst mal: Es geht nicht um die ständig besprochenen 0,1 Prozent der Milliardäre. Sondern um Menschen, die im sozial- und geistes­wissenschaftlichen, ab und zu auch im natur­wissenschaftlichen Bereich tätig sind, in der Kunst, in den Medien. Und im Normalfall eben eine liberale Weltanschauung haben, das lässt sich statistisch sehr gut nachweisen. Mir war wichtig, der soziologischen Kategorisierung eine psychologische hinzuzufügen: wer diese Menschen wirklich sind und wie sie sich wirklich fühlen. Weil die Stereotype über diese Gruppe derart stark sind, dass man sie sich ganz falsch vorstellt.

Zum Buch

Carlo Strenger: «Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen». Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 172 Seiten, ca. 24 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe an.

Welches sind die Vorurteile, die Sie vor allem widerlegen wollen?
Die Globalisierung hat dazu geführt, dass ein immer grösserer Teil der Menschen das Gefühl hat, in der enorm schnellen Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht mehr mitzukommen. Das betrifft insbesondere jenen Teil der Bevölkerung, den ich zusammen mit dem britischen Autor Goodhart Somewheres genannt habe, das heisst Menschen, die in einer bestimmten Region verwurzelt sind und auch nicht die Chance sehen, ihr Leben woanders aufzubauen. Wenn die nun das Gefühl haben, aus dem Spiel zu sein, stimmt das objektiv ökonomisch insofern, als die Einkommens­schere zwischen den oberen und unteren Schichten enorm aufgegangen ist. Und vor allem auch, weil die Somewheres normalerweise nicht ausgebildet sind, um diese furchtbar komplexen Zusammenhänge, die heute unsere Welt, unsere Wirtschaft, unsere kulturelle Entwicklung prägen, überhaupt zu verstehen.

Und die liberalen Eliten, also die «Anywheres»?
Gelten den Somewheres als hochnäsige Typen. Und sie sehen teilweise diese Elite in einer Verschwörung, die dazu führt, dass die in Anführungs­zeichen «normalen Bürger» nicht mitmachen machen können und auch nicht bestimmen können, worum es geht.

Um die liberalen Eliten geht es Ihnen also aus dem konkreten Anlass heraus, dass sie zum Feindbild geworden sind.
Sehr richtig. Wobei das Interessante ist, dass in anderen, also nicht politisch-gesellschaftlichen Zusammen­hängen, Menschen überhaupt nichts gegen Eliten haben. Wenn eine Familie einen Chirurgen fürs Kind sucht, dann fragt sie sehr wohl: Wer gilt heute in meiner Gegend als der beste Chirurg? Um ein ganz anderes Beispiel zu geben: Alle Fussball­fans sind begeistert, wenn man für zig Millionen einen Superstar von woanders einkauft, um die eigene Mannschaft zu verstärken. Und wir hätten doch alle gerne, dass die nächste Brücke von einem Ingenieur gebaut wird, der kompetenter ist als der, der die Brücke in Genua gebaut hat, die neulich zusammen­gebrochen ist. Das heisst in vielen Hinsichten sind Menschen eigentlich sehr damit einverstanden, dass man Eliten haben sollte und sich auf sie verlassen kann.

Warum gilt das dann nicht für die liberalen Eliten?
Die Schicht, die ich beschreibe, ist vor allem dadurch charakterisiert, dass quasi alle einen Hochschul­abschluss haben. Aber ich sage auch klar, dass es sich nicht um Finanz­eliten handelt, die ja die wirklichen Profiteure der Globalisierung sind. Die Menschen, die ich beschreibe, sind meistens liberal orientiert, ich würde sogar sagen linksliberal, weil sie in ihren Grund­werten mit einem gesellschaftlichen Gewissen ausgestattet sind und sich in der Regel ständig die Frage stellen: Wie können wir zum Beispiel die enormen Ungleichheiten im Einkommen verringern, um gesellschaftliche Spannungen abzubauen? Sie werden aber dann ganz anders wahrgenommen: als hochnäsige Besser­wisser, die immer glauben, sie wissens und die anderen wissens nicht.

Woran liegt das?
Ganz einfach daran, dass diese Kultur­eliten nicht mehr als Menschen gesehen werden, die das gesamt­gesellschaftliche Wohl­ergehen verbessern.

Sondern ihre Ethik nur vor sich hertragen, und in Wirklichkeit geht es um blankes Eigeninteresse?
Genau. Und nun ist eine Schwäche dieser Eliten, dass wir uns oft ebenso hermetisch komplex ausdrücken, dass es für jemanden, der nicht in den relevanten Disziplinen geschult ist, fast nicht möglich ist, überhaupt etwas zu verstehen. Ich gebe mir in den letzten Jahren enorme Mühe, sowohl Kolumnen als auch Bücher zu schreiben, die, ich würde sagen, für die meisten mehr oder weniger ausgebildeten Leser verständlich sind, ohne übermässige Vereinfachungen zu machen. Wenn wir mal die Vereinigten Staaten nehmen: Die Leute fragen sich: Warum sind plötzlich alle Industrie­jobs weg? Und sie wollen eine einfache Antwort. Dann kommen Populisten wie Trump und sagen, wegen der mexikanischen Einwanderer. Das ist wunderbar, da haben wir dann ein Hassobjekt, und dann heisst es, die muss man rausschmeissen, sind eh Vergewaltiger und Verbrecher und so weiter und so fort. Ganz wurscht, ob sich nachher rausstellt, dass die Netto­immigration in die Vereinigten Staaten aus Mexiko in den letzten fünf Jahren negativ war.

Wenn das das Erfolgs­geheimnis ist, sollen die Eliten dann genau so sprechen wie die Populisten? Das kann ja auch nicht die Antwort sein.
Das ist eine riesige Zwick­mühle! Es gibt gewisse Dinge, die man relativ einfach verständlich machen kann. Wie zum Beispiel: Was Trump sagt, ist eine Lüge. Es stimmt nicht, dass euch die Mexikaner die Jobs wegnehmen. Ähnliches gilt für die Schweiz, mein ehemaliges Heimat­land. Die SVP, immerhin seit vielen Jahren die grösste Partei, ist ebenfalls rechts­populistisch. Auch bei ihr sind an allem die Einwanderer schuld.

Nun gibt es unter Sachbuch­autoren wie Ihnen und unter Journalisten seit vielen Jahren ein beständiges Bemühen, so klar und anschaulich wie möglich die Fakten darzustellen. Trotzdem hat man nicht den Eindruck, dass das den Populisten den Wind aus den Segeln nimmt. Ist es nicht zu einseitig zu sagen, es liegt an der Sprache der Eliten? Wo muss man denn auch auf der anderen Seite ansetzen, bei den Anhängern der Populisten?
Zunächst mal: Mir ist in Zusammenhang mit dem Buch vorgeworfen worden, ich hätte keine klare Lösung für das Problem. Und ich möchte hiermit offiziell klarmachen: Ich habe keine klare Lösung für das Problem!

Damit sind Sie nicht alleine.
Genau. Denn wir sind wirklich in einer Zwick­mühle: Wie weit können wir vereinfachen, ohne in die populistische Falle zu geraten, dass wir flache Slogans statt guter Argumente geben? Und andererseits, wie können wir es genügend vereinfachen, damit wir dieses Publikum erreichen? Dazu kommen jetzt noch die Echo­kammern, also dass Menschen immer häufiger nur das lesen, was sie eh schon denken. Dieses Phänomen sehen wir jetzt ganz extrem, und das Internet hat leider sehr dazu beigetragen. Die alte Idee einer Demokratie als Agora, also des öffentlichen Raums, in dem diskutiert wird, hat sich zersplittert in kleine Netzwerke. Und ich möchte sehr klarmachen, dass man dieses Problem nicht nur bei den Somewheres, den Zurück­gelassenen, findet. Sondern auch bei den liberalen und linksliberalen Eliten.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht nicht von Echo­kammer oder Filter Bubble, sondern im Gegenteil vom Filter Clash, weil er sagt, im Grunde ist jede Gegen­meinung, jede abweichende Position nur einen Klick entfernt. Und häufig kommt es ja auch in Kommentar­spalten zu regelrechten Fights. Es ist also nicht das Problem, dass die Leute keine Kenntnis von der Gegen­meinung hätten, sondern dass sie sich genau dagegen abschotten. Sind die Echo­kammern mehr im Kopf als im Computer?
Es ist ganz klar, dass sie zuerst mal im Kopf sind. Die sozial­psychologische Forschung zeigt seit den 1950er-Jahren ganz klar, dass Menschen nach einer Eingruppierung suchen, wo sie sich wirklich zu Hause und nicht bedroht fühlen in ihrer Identität. Ich sag nochmals, das ist für die Liberalen genauso der Fall wie für die anderen soziologischen Gruppen. Wir haben gerne ein einfaches, klares Weltbild, mit dem wir uns identifizieren können. Und die mediale Realität reflektiert etwas in der menschlichen Psychologie.

Noch mal auf die Kommunikation zurück. Sie haben gesagt, das Problem sei die komplexe Sprache. Komplementär dazu sagen Sie an anderer Stelle, die liberalen Eliten hätten es versäumt, richtig zuzuhören. Wenn wir noch mal auch auf die andere Seite schauen: Gibt es bestimmte Voraussetzungen, die jemand durch seine eigene Kommunikation erfüllen muss, damit man ihm zuhört?
Schauen Sie sich mal die grossen US-Stars der Kommunikations­welt von Fox an, Sean Hannity zum Beispiel. Wir gehen oft fälschlicher­weise davon aus, dass alle anderen blöd sind. Und ich kann also sagen: Setzen Sie sich lieber nicht mit Sean Hannity in eine Interviewsituation. Der Typ ist so begabt und blitzschnell im Denken, dass Sie da ganz schlecht draus rauskommen werden. Und ich frage mich oft, warum Liberale das Risiko eingehen, dort hinzugehen, wobei ich sie sehr bewundere, dass sie den Mut dazu haben. Es ist ja nicht so, dass Hannity wirklich die andere Position kennenlernen will. Sondern er will zeigen, wie dumm und lächerlich sie ist. Und er macht das übrigens sehr effektiv.

Ich meinte auch gar nicht so sehr die Medien­profis, sondern den viel zitierten kleinen Mann, den durchschnittlichen SVP-Unterstützer, AfD-Wähler, Trump-Fan. Die Art und Weise, wie von dort Protest manchmal geäussert wird: Ist das nicht mindestens so sehr ein Problem wie die Fehler der liberalen Eliten?
Schauen Sie, deren Kommunikations­weise ist oft so, dass die Eliten sagen: Die sind einfach blöd. Wenn Sie sich erinnern können, als Sigmar Gabriel in Ostdeutschland, in Heidenau von den Menschen als «Pack» gesprochen hat. Als dann Frau Merkel in die Region gekommen ist, haben normale durchschnittliche Bürger, nicht irgendwelche Neonazis oder so was, Frau Merkel angeschrien und gesagt: Wir Otto Normal­bürger sind das Pack. Wie könnt ihr uns so verachten und uns einfach nicht zuhören? Die wohlmeinenden liberalen Eliten, die oft sehr sozial­demokratisch orientiert sind, gehen davon aus, dass es letztlich um ökonomische Probleme geht, dass die Menschen sich zurückziehen, weil sie finanziell abgekoppelt sind.

Und dem ist nicht so?
Was wir aus der Forschung wissen, ist, dass das nicht stimmt. Die Wähler der Populisten sind nicht unbedingt Menschen, denen es finanziell sehr schlecht geht. Sondern Menschen, die sich in ihrer kulturellen Identität bedroht fühlen. Und dann kommen noch diese liberalen Kosmopoliten mit ihren komplizierten Worten und versuchen sie zu belehren, warum es wichtig ist, gegen den Klima­wandel was zu machen, weil wir sonst alle bald ersticken oder vor Hunger sterben oder beides miteinander. Und die Tragödie der liberalen Eliten ist, dass sie sagen: Wir machen das auch für euch! Wir versuchen Probleme zu lösen, die jeden von uns und von euch beschäftigen und gefährden. Und sie fragen sich, warum um Himmels willen hassen die uns?

Darf ich noch mal zurück zu Angela Merkel? Bei den Szenen, auf die Sie anspielen, gab es unter den sogenannten Otto Normal­bürgern auch die, die symbolisch den Galgen für Angela Merkel errichtet haben. Wo ist da noch irgendeine Grundlage für ein Gespräch, für Dialog? Kommunikation ist doch etwas, das von beiden Seiten kommt.
Ein Begriff, der in Deutschland besonders problematisch ist, ist zum Beispiel der der Heimat. Den kann man nicht einfach wegwerfen und sagen, das sind primitive Menschen. Dass Menschen sich zu Hause fühlen wollen, ist ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis. Das sehen wir jetzt in den Vereinigten Staaten, wo soziologische Studien klar zeigen, dass die Trump-Wähler zum allergrössten Teil weisse Männer sind, die das Gefühl haben, dass sie ihren Selbstrespekt verloren haben, ihr Selbstwert­gefühl und den Respekt der Gesellschaft. Und was Trump, der ja selbst zur Top-Elite gehört, genial macht, ist, dass er in ihrer Sprache spricht und sie dann sagen: Jetzt haben wir endlich so einen richtigen Typen, der unseren Gefühlen Ausdruck gibt. Das ist das Gefährliche am Populismus: Dass Zorn und Angst, die sich in der Gesellschaft ausbreiten, in Slogans umgewandelt werden. Dass die Menschen das Gefühl haben, erstens hat der Lösungen für alles, zum Beispiel die Mexikaner rausschmeissen. Und zweitens, der haut diesen liberalen Eliten mal wirklich in die Fresse. Das sehen Sie bei Trump, bei Orbán, natürlich bei der AfD, bei der SVP in der Schweiz, bei Marine Le Pen – ich will die Liste gar nicht weiterführen, sie ist endlos! Das Witzige ist ja, dass alle diese populistischen Führer selber soziologisch überhaupt nicht zu ihrer Wähler­schicht gehören. Das sind alles Eliten­kinder, Boris Johnson etwa. Es geht hier also um einen zynischen Missbrauch von echten und authentischen Ängsten. Und ich glaube, die liberalen Eliten machen den Fehler, diese Ängste als dumm oder primitiv abzuqualifizieren.

Aber ist es wirklich so, dass diese Ängste als dumm oder primitiv abgetan werden? Ist es nicht eher so, dass eine Unterscheidung vorgenommen wird zwischen gut und schlecht begründeten Ängsten? Müssen wir nicht auf diesen Unterscheidungen beharren, was noch nicht bedeutet, dass man diejenigen Sorgen, die man für unbegründet hält, als dumm abkanzelt?
Es stimmt ja, dass es eine negative Korrelation gibt – zum Beispiel, wie viele Muslime ein Mensch kennt und wie islamophob er ist. Die AfD ist dort am stärksten, wo es gar keine Muslime gibt. Aber was hier wirksam ist, sind Stereotype. Und die haben Sie auf der rechten wie auch auf der anderen Seite. Die Angst ist authentisch. Sie ist eben in die Psyche der Menschen eingebaut. Wie übrigens auch die Angst vieler Liberaler, den Dialog mit anderen Gruppen einzugehen. Sie setzen sich da oft von anderen Bevölkerungs­schichten ab, weil es halt so kompliziert ist, sich mit den anderen wirklich auseinanderzusetzen.

Entschuldigen Sie, dass ich immer wieder auf die Zweiseitigkeit zurückkomme und darauf, dass mir das mit dem fehlenden Zuhören zu einseitig scheint. Der ehemalige deutsche Bundes­präsident Joachim Gauck hat vor kurzem grosse Empörung ausgelöst, weil er mehr Toleranz nach rechts gefordert hat. Das Problem bei der Äusserung war sicher unter anderem, dass sie zu einem Zeitpunkt kam, als die Ermittlungen im Mordfall Lübcke immer deutlicher in Richtung rechten Terrors wiesen und bereits Erinnerungen an die NSU-Morde wach wurden. Vor dieser Gefahr von rechts haben Menschen seit vielen Jahren unermüdlich gewarnt und sind immer wieder auf taube Ohren gestossen. Geht die Forderung nach dem Zuhören nicht manchmal an die ganz falsche Adresse?
In einem Rechtsstaat gibt es gewisse Dinge, die man nicht mit Zuhören, sondern mit Polizei, Festnahme und gerichtlichem Urteil regelt. Was auch immer die Ideologie sei, ob rechtsextrem, islamistisch oder was auch immer. Eine westlich liberale Kultur hat das Recht und die Pflicht, ihre eigene Kultur und ihre eigenen Grundsätze zu verteidigen. Insofern ist es vollkommen falsch zu denken, dass Toleranz ein unendlich flexibler Begriff ist. Andererseits, wenn ich sage «Zuhören»: Menschen, die ihr ganzes Leben mehr oder weniger in derselben Gegend verbringen, in der sie geboren und aufgewachsen sind, können wir nicht zwingen, eine Perspektive einzunehmen von Menschen, die sich von ihrer Ausbildung her und ihrem Wissen her im Prinzip überall in der Welt zurechtfinden können. Und dass wir dann Begriffe wie Heimat oder Sich-zu-Hause-fühlen mit «Die Faschisten kommen wieder» abtun statt zu verstehen versuchen, was sie befürchten, wenn wir also nicht zuhören – dann schlagen die zurück. Und dann entsteht, was die Sozial­psychologie Verachtung von unten nach oben nennt. Die Eliten gelten den Menschen dann als vollkommene Trottel, die in ihren abstrakten Elfenbein­türmen pseudo­gescheit vor sich hinreden und nicht verstehen, wie die Welt wirklich funktioniert. Und da, glaube ich, haben die Eliten viel falsch gemacht. Das Einzige aber, worum es mir in meinem Buch nun wirklich nicht geht, ist ein Bashing der liberalen Eliten. Wir kommen ohne diese Eliten überhaupt nicht aus in unserer hochkomplexen Gesellschaft! Es muss vielmehr klar werden, dass diese Eliten nicht die Feinde des, in Anführungs­zeichen, «einfachen Volkes» sind.

Wenn ich da noch mal einhaken darf, auch auf den Kontext von vorhin bezogen. Die Gesellschaft besteht doch nicht einfach aus progressiven liberalen Eliten und einem «einfachen Volk», das konservativ denkt oder anfällig ist für extremistisches Denken. Bei den NSU-Morden, von denen wir gerade sprachen, sind sogenannte einfache Bürger, Menschen, die in Deutschland ihre Heimat hatten, ermordet worden, aus rassistischen, ideologischen Gründen. Ist das «einfache Volk» als Kategorie in diesen Diskussionen nicht viel zu sehr ethnisiert?
Ja, ich glaube, dieses ganze Gerede über das einfache Volk oder dass die Populisten sagen, wir vertreten das einfache Volk im Gegensatz zu den Eliten, das ist eine totale Fiktion. Das sogenannte einfache Volk ist genauso wenig homogen wie die liberalen Eliten. Sicher gibt es gewisse Gemeinsamkeiten in der jeweiligen Gruppe. Wenn ich an einem Kongress irgendwo am Ende der Welt ankomme, wo sich eine kosmopolitische Gesellschaft trifft, gehe ich zum Beispiel davon aus, dass wir uns mühelos verständigen können. Und es ist vielleicht nicht eine Schwäche, aber eine Charakterisierung der liberalen Eliten, dass sie sich in diesen globalen Netzwerken wohler fühlen als in den bodenständigen Kontexten, die sie oft verlassen haben, weil es ihnen dort einfach zu eng war.

Zwei Abschlussfragen an den Kosmopoliten und gebürtigen Schweizer. Wie intensiv verfolgen Sie noch die Schweizer Medien­landschaft und wie nehmen Sie populistische Tendenzen dort wahr?
Ich habe vorhin die SVP erwähnt, und ich bin alles andere als begeistert davon, dass diese Leute schon länger die grösste Partei der Schweiz sind. Ich glaube, dass meine politischen Werte sehr von der schweizerischen politischen Kultur geformt worden sind, und ich bin darüber recht glücklich. Weil ich glaube, dass die Schweiz ein faszinierendes Phänomen ist: wie sie Föderalismus und die einzige wirkliche direkte Demokratie miteinander kombiniert, um Politik so volksnah betreiben zu können, wie es geht. Ich wünschte mir, der Rest der Welt würde auch so funktionieren. Und immerhin hat die SVP bisher den liberal­demokratischen Charakter der Schweiz nie angegriffen, was wir ja heute mehr und mehr erleben, in Osteuropa oder der Türkei. Mir geht es darum, dass der Trend, die liberale Demokratie abzuschaffen, so weit wie möglich gebremst oder sogar gestoppt werden kann.

Der Kosmopolit Carlo Strenger hat sich den Schweizer Patriotismus bewahrt – kann man das so sagen?
Es gibt ja den schönen Ausdruck des Verfassungs­patriotismus. Und ich hab die Schweiz an sich sehr gern, aber im Moment geht es mir um einen Verfassungs­patriotismus, nicht darum zu sagen, dass die Schweiz die erhabenste Nation auf Erden ist. Aber doch, dass sie ein hochinteressantes und sehr effektives politisches System entwickelt hat. Und erfolgreich weiterführt.

Zur Person

In Basel geboren und aufgewachsen, hat Carlo Strenger in Zürich Psychologie und Philosophie studiert. Er lebt seit vielen Jahren in Tel Aviv, wo er eine Professur für Psychologie innehat. Strenger schreibt regelmässig für die liberale israelische Zeitung «Haaretz», den britischen «Guardian» sowie die NZZ und hat zahlreiche Bücher vorgelegt, unter anderem «Zivilisierte Verachtung» und ein viel beachtetes Buch über Israel.

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