Angenommen, ich liege morgen tot in einem Hotel­zimmer …

Sie ist Chefin der Westschweizer Rechts­medizin und gehört zu den Besten ihres Fachs. Ein Gespräch mit Silke Grabherr über den Tod und das Verbrechen.

Von Angelika Hardegger, 02.05.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
0:00 / 28:41

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Eine Warnung: In diesem Beitrag werden Bilder toter Menschen gezeigt.

Frau Grabherr, Sie als Rechts­medizinerin wüssten, wie Sie mit einem Verbrechen davon­kämen, nicht?
Ob man davon­kommt oder nicht, hängt weniger davon ab, wie man das Verbrechen begeht als vielmehr wo.

Wo?
Es gibt Länder, die gar keine Rechts­medizin haben, und dort ist es natürlich einfach. Untersucht man einen Leichnam nicht, wird man auch nichts finden.

Aber in der Schweiz kämen Sie nicht davon?
Doch (lacht).

Wusst ichs doch.
Auch bei uns kommen nur die wenigsten Leichen in die Rechts­medizin. Je nach Kanton sind es zwischen 0,1 und ungefähr 5 Prozent der Toten. Entscheidend ist der Arzt, der als erster zum Leichnam kommt. Er kreuzt auf dem Totenschein an: War es ein natürlicher Tod? Gibt es Verdacht auf Dritt­einwirkung? Oder ist die Sache unklar? Aber dafür sind manche Ärzte schlecht ausgebildet. Das kann ein Hausarzt sein, der im Studium mal einen Kurs in Rechts­medizin besucht hat – und der liegt Jahre zurück.

Also angenommen, ich liege morgen tot in einem Hotel­zimmer hier in Genf …
Genf ist schon einmal ein guter Ort.

Wo empfehlen Sie nicht zu sterben in der Schweiz?
Sagen wir so: Je ländlicher der Kanton liegt, desto schwieriger wird es.

Zur Person

zVg

Silke Grabherr wuchs im öster­reichischen Vorarl­berg auf und absolvierte eine Hotel­fachschule, bevor sie Medizin studierte. Noch als Doktorandin der Rechts­medizin entwickelte Grabherr ein Verfahren, das erlaubt, den Blut­kreislauf von Toten wieder zum Fliessen zu bringen. Heute steht die 44-Jährige an der Spitze der West­schweizer Rechts­medizin, zählt weltweit zu den angesehensten Vertreterinnen ihres Fachs – und träumt weiterhin davon, ein eigenes Restaurant zu führen.

Für Deutschland schätzt man, auf jedes entdeckte Tötungs­delikt komme ein unentdecktes. Ist diese Zahl realistisch für die Schweiz?
Wir haben selber keine Zahlen, aber das kann schon stimmen. Die Schätzung wurde gemacht, nachdem gewisse Bundesländer Krematoriums­leichenschauen eingeführt hatten.

Krematoriums­leichenschauen?
Jede Leiche, die zur Kremation kommt, wird dort von einem Rechts­mediziner untersucht, rein äusserlich. Ich habe auf Vorträgen in Deutschland erlebt, wie das Publikum gefragt wurde: Wer hat schon Krematoriums­leichenschauen gemacht? Da hob ungefähr die Hälfte die Hand. Daraufhin fragte man, wer von diesen Leuten einmal die Todes­umstände ändern musste, also: natürlich oder gewaltsam? Fast alle Hände blieben oben. Als zuletzt dann noch gefragt wurde, wer ein Tötungs­delikt gefunden habe, ging bloss die Hälfte der Hände nach unten.

Was schliessen Sie daraus? Müssten alle Toten zu Ihnen kommen?
Belarus macht das, dort wird praktisch jeder seziert, weil niemand beerdigt werden darf, von dem die Todes­ursache fehlt. Ich finde das übertrieben. Die einfachste und günstigste Lösung wäre, jene Ärzte zu schulen, die als erste zur Leiche kommen. In der Westschweiz haben wir in manchen Kantonen den médecin judiciaire eingeführt. Das sind Ärzte, die häufig vor Ort gerufen werden und die sich von uns schulen liessen. Zwei Tage im Sektions­saal, ganz praktisch. Die haben nun das Grund­wissen und rufen uns auch an, wenn sie Fragen haben.

Vielleicht käme also so ein médecin judiciaire, wenn ich tot im Hotel­zimmer läge. Was passiert danach?
Das Hotel würde wohl eher die Rettung rufen, wenn es Sie findet. Das sind ebenfalls gut ausgebildete Leute, die Sie medizinisch untersuchen: Gibt es Verletzungen? Hinweise auf Gewalt? Sie würden schliessen, dass der Todesfall unklar ist, und die Polizei rufen. Die Polizei würde, nachdem sie selbst im Zimmer ermittelt hat, den Staatsanwalt anrufen. Er entscheidet, ob wir obduzieren oder nicht.

Wäre es überhaupt vorstellbar, dass der Staatsanwalt auf eine Obduktion verzichtet? Ich bin zu jung, um einfach so zu sterben.
Wenn die Polizei zum Schluss kommt, dass Sie allein im Hotel­zimmer gewesen sein müssen, könnte der Staatsanwalt sagen: Ob die sich jetzt umgebracht hat oder unwissentlich krank war, interessiert mich nicht. Dem Staatsanwalt geht es ja nicht um Sie persönlich. Seine Aufgabe ist es, heraus­zufinden, ob er jemanden straf­rechtlich verfolgen muss.

Sagen wir, er schickt mich zu Ihnen und ich liege auf Ihrem Tisch: Was machen Sie mit mir?
Wir beginnen mit der äusseren Leichen­schau, das bedeutet: Wir schauen Sie vom Kopf bis zu den Zehen an, diktieren jede kleine Verletzung in ein Diktafon, machen Fotos. Wir testen alle Toten­erscheinungen an Ihnen, zum Beispiel Leichen­starre und Leichen­flecken.

Wie im Fernsehen? Sie heben meinen Arm und suchen nach Flecken?
Ja, das passiert.

Wozu?
Leichen­flecken sind das erste und wichtigste Zeichen des Todes. Ihre Farbe gibt uns Hinweise auf die Todes­ursache: Wären Sie durch eine Unter­kühlung gestorben, hätten die Flecken eine andere Farbe als beim Herztod. Wir messen, wie gross die Flecken sind, und dokumentieren, wo sie auftreten. Stirbt eine Person im Sitzen, finden wir beispiels­weise Leichen­flecken auf dem Unterkörper. Wurde die Person nun aber liegend gefunden, ist das ein Indiz, dass die Leiche nach dem Tod bewegt wurde. Die für uns wichtigste Frage ist: Sind die Flecken fixiert? Liegt der Tod sehr kurz zurück, verschwinden die Flecken noch, wenn wir auf sie draufdrücken. Das hilft, den Zeitpunkt des Todes zu schätzen.

Ich habe gelesen, dass ich für den Todes­zeitpunkt damit rechnen muss, dass mir rektal die Körper­temperatur gemessen wird.
Wenn wir vor Ort kämen, ins Hotel, würden wir das dort schon machen, ja.

Diese Vorstellung finde ich furchtbar.
Echt?

Ja. Ganz grund­sätzlich scheint mir, man sei im Tod so machtlos und entblösst.
Entblössen müssen wir Sie nur kurz. Bei der äusseren Leichen­schau, damit wir etwas sehen. Und «wir», das sind bloss der Rechts­mediziner, der die Obduktion durchführt, ein Supervisor und vielleicht noch ein Präparator, also die Person, die uns hilft, die Leichen zu bewegen. Danach bedecken wir Sie so gut wie möglich. Wir würden nie mit einem nackten Leichnam durch die Gänge fahren.

Aus Respekt vor den Toten?
Ja. Wir hinterlassen beim Sezieren auch möglichst wenige Verletzungen, die sichtbar sind. Eigentlich setzen wir nur zwei Schnitte, einen horizontal über die Brust und einen zweiten vertikal über den Bauch­raum. So erreichen wir alle Organe, von denen wir Proben nehmen.

Sie versuchen, die Leiche möglichst unversehrt zu lassen?
Genau. Es gibt noch einen dritten Schnitt auf dem Kopf, aber dort, wo das Haar ihn bedeckt. Damit nichts sichtbar ist, wenn die Person im Sarg liegt.

Zur Fotografin

Die Bilder in diesem Beitrag stammen aus dem Projekt «L’Inconnue» von Virginie Rebetez. Die Fotografin studierte erst an der École de Photographie de Vevey, wechselte dann an die Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam. Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen Stipendien und Kultur­preisen ausgezeichnet. Rebetez beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Tod, dem Verlust und dem Vergessen. Sie lebt in Lausanne.

Warum messen Sie meine Körper­temperatur, wenn ich schon tot bin?
Wenn wir sterben, nehmen wir nach und nach die Umgebungs­temperatur an. Die Differenz zur Körper­temperatur, die Sie noch haben, hilft uns heraus­zufinden, wie lange Ihr Tod zurückliegt. Wir beziehen zum Beispiel ein, ob es windig war oder nicht, wie der Leichnam bedeckt war. Um den Zeitpunkt zu schätzen, testen wir zudem Ihre sogenannten Supravital-Reaktionen: Wenn jemand stirbt, haben einzelne Gewebe ja eine gewisse Überlebenszeit, und …

Moment. Wir sterben nicht mit dem ganzen Körper gleichzeitig?
Nein, Sterben ist ein Prozess. Es gibt mehrere Phasen.

Das müssen Sie erklären.
Stellen Sie sich vor, ich schiesse mir in den Kopf. Mein Hirn ist zerstört und in diesem Moment bin ich verstorben. Aber mein Herz hat keinen unmittel­baren Grund, tot zu sein. Es pumpt also noch ein paar Schläge weiter. So hat jedes Gewebe im Körper eine gewisse Zeit, die es überlebt. Die Überlebens­zeit ist umso länger, je weniger Sauerstoff das Gewebe benötigt. Der Muskel zum Beispiel lebt länger, weil er lange Zeit ohne Sauerstoff auskommt.

Wie lange?
Wenn wir einem Leichnam auf die Sehne des Bizeps schlagen, kann der Muskel noch Stunden nach dem Tod reagieren. Das hilft uns bei der Schätzung, wann jemand gestorben ist. Am längsten reagiert der Pupillen­muskel. Tropfen wir Atropin oder Adrenalin in die Augen, wird sich die Pupille noch bis zu 24 Stunden nach dem Tod erweitern.

Reden Sie mit mir, wenn ich vor Ihnen liege?
Kann sein. Aber nicht viel. Wenn ich mal wirklich etwas nicht finde, sage ich vielleicht so einen Satz wie: «Kannst du mir vielleicht irgendwie helfen?» Aber ich erzähle Ihnen nicht mein Leben.

Also kommt es nicht vor, dass Tote so lange bei Ihnen liegen, dass Sie eine Beziehung aufbauen?
Nein. Wir entnehmen jene Proben, die wir brauchen, und geben die Leichen so früh wie möglich der Familie zurück.

Sie wuchsen in Österreich auf und studierten in Innsbruck Medizin. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie gut können mit dem Tod und den Toten?
Im Medizin­studium macht man im ersten Jahr Sektionen an Leichen. Da stehen zehn Studenten um einen Leichnam und untersuchen jedes Gewebe, jeden Nerv. Rein um die Anatomie zu sehen, zu spüren und sie im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Da wird man als Medizin­studentin erstmals konfrontiert mit dem Tod, und das hat mir rein gar nichts ausgemacht. Das kam eigentlich überraschend.

Warum überraschend?
Weil ich nie davor mit dem Tod konfrontiert gewesen war. Später, zum Ende des Medizin­studiums hin, besuchte ich den Kurs in Rechts­medizin. Da hatten wir einen guten Professor, der in der ersten Lektion sagte, er halte den Kurs nicht als Vorlesung, man habe gerade eine Leiche. Er nahm uns alle mit in den Sektions­saal und erklärte uns die Rechts­medizin ganz praktisch, an einem Fall.

Von da an wussten Sie: Das will ich machen?
Ich fand das unglaublich spannend. Der Professor erzählte die Geschichte der toten Person und sagte: «Jetzt finden wir raus, woran sie gestorben ist.» Also begannen wir zu suchen, Organ für Organ fragten wir uns: Was könnte passiert sein? Da realisierte ich: Die Leiche tut mir nichts. Ich sehe nicht die Person, die auf dem Tisch liegt, sondern das rein Wissen­schaftliche. Das Rätsel, das sie aufwirft und das aufzuklären ist.

Verstehen Sie sich eher als Ermittlerin denn als Medizinerin?
Ich glaube ja. Vom Arztberuf war ich am Ende des Studiums ziemlich enttäuscht. Man hat ja kaum mehr Zeit für Patienten in einer Klinik. Man wird wahrscheinlich Spezialist, untersucht also immer nur das Hirn, immer nur die Leber oder macht als Chirurg die immer gleiche Operation, jeden Tag. Da fehlte mir die Betrachtung des Ganzen. Ich war sehr erleichtert, als ich die Rechts­medizin entdeckte und herausfand, dass ich die medizinischen Kenntnisse, die ich mir angeeignet hatte, hierfür verwenden kann.

Finden die Leute Ihren Beruf seltsam?
Sie reagieren darauf, aber positiv. Die meisten sind neugierig und stellen Fragen.

Was war eine richtig gute Frage, die Ihnen geblieben ist?
Die meisten fragen, wie sich eine ausgebildete Medizinerin für die Toten entscheiden kann anstelle der Lebenden. Weil sie annehmen, es fehle das Wichtigste am Arztberuf, das Helfen.

Und diese Annahme ist falsch?
Niemand braucht mehr Hilfe als die Toten. Sie können ja wirklich nichts mehr selbst. Auch die Familie braucht Hilfe, weil sie verstehen will, was geschehen ist. Und die Justiz braucht Hilfe. Sie muss den grossen Entscheid fällen, ob sie jemanden ins Gefängnis sperrt.

Der Tod gehört zum Unbegreiflichsten überhaupt. Glauben Sie, es geht Ihnen auch darum, den Tod durch das Nach­vollziehen dessen, wie er eingetreten ist, im Grösseren zu erklären?
Nein. Weil der Tod für mich überhaupt nichts Unbegreifliches hat, er ist doch ganz logisch. Wir kommen alle irgendwann dran.

Wann standen Sie zuletzt bei einer Obduktion vor einem grossen Rätsel?
Jede Leichen­öffnung ist ein Rätsel. Ein Rätsel kann sein, dass man überhaupt keine Todes­ursache findet.

Als wären die Leute bei bester Gesund­heit gestorben?
Ja. Dann machen wir viele Zusatz­untersuchungen, schicken Proben in die Toxikologie, die Mikroskopie. Und manchmal finden wir weiterhin nichts. Es gibt ja auch Todes­ursachen, die keine Spuren hinter­lassen. Bei einer Herz­rhythmus­störung müssten Sie beim Sterben an einem EKG hängen, damit sie nachweisbar wird.

Was tun Sie, wenn Sie keine Ursache finden?
Wir grenzen die möglichen Erklärungen ein. Wir machen viele Unter­suchungen, damit am Ende nur zwei oder drei Hypothesen übrig bleiben. In den Bericht schreiben wir dann etwa, die wahr­scheinlichste Erklärung sei ein Herzversagen.

Sie lassen also keinen Tod ganz unerklärt.
Wobei das Eingrenzen schwierig sein kann, wenn ein Leichnam zum Beispiel schon halb verwest ist. Dann kommt es vor, dass wir nicht zwei oder drei Hypothesen stehen lassen müssen, sondern vielleicht sieben oder acht.

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Fall?
Das war eine aufgedunsene, grüne, extrem stinkende Wasser­leiche. Ich war Praktikantin in Bern, im Sommer 2003, der so extrem heiss war. Man hatte die Leiche im See gefunden, nachdem sie sehr lange dort gelegen hatte. Der Rechts­mediziner, den ich begleitete, sagte mir: «Wenn du selbst das überstehst beim ersten Fall, dann gehörst du wirklich in die Rechts­medizin.»

Verfolgen Sie so einen Fall bis zum Urteil, wenn sich heraus­stellt, dass es ein Verbrechen war?
Wenn wir selber vor Gericht gerufen werden, um dort unsere Ergebnisse zu erklären, dann ja. Dann kann ich das Urteil über die Presse verfolgen, weil das meist die grossen Fälle sind. Aber würden wir bei allen Toten nachfragen, wie die Geschichte ausging, kämen wir gar nicht mehr zum Arbeiten.

Wollen Sie denn nicht wissen, ob eine Tote Gerechtig­keit erfahren hat?
Natürlich liegt mir am Herzen, alles dafür zu tun, dass die Justiz die nötigen Informationen hat, damit sie eine gute Entscheidung fällen kann. Aber das echte Leben ist anders als der Krimi. Der Krimi hört auf, wenn der Täter gefunden ist. Im echten Leben geht es dann erst richtig los.

Wie meinen Sie das?
Kommt ein Fall vor Gericht, beginnen so viele andere Faktoren zu spielen. Vielleicht verhält sich der mutmassliche Täter sehr kollaborativ. Oder die Zeugen sagen anders aus als erwartet. Unser Gutachten ist vor Gericht bloss ein Faktor unter vielen. Manchmal erscheint uns dann die Tat, die wir am Leichnam gesehen haben, nicht proportional zum Urteil, das gesprochen wird. Weil wir den Prozess eben nicht mit all diesen Elementen erlebt haben. Aber wenn wir uns da reingeben, uns fragen: «Jetzt hat er diese Frau so brutal umgebracht, warum kriegt er nicht mehr Strafe?», dann schlafen wir nicht mehr. Da müssen wir der Justiz vertrauen. Und wir dürfen nie vergessen: Im Zweifel entscheidet sie für den Angeklagten.

Mit dem Wissen, das Sie als Rechts­medizinerin haben: Wovor fürchten Sie sich am Sterben am meisten?
Ich sterbe lieber schnell.

So wie wir alle. Sehen Sie den Toten an, ob sie leiden mussten?
Nicht im Gesicht oder so, nur indirekt, am Muster der Verletzungen. Wenn eine Leiche 73 Messer­stiche aufweist und wir herausfinden, dass keiner der Stiche einzeln tödlich war, wissen wir: Das Sterben hat lang gedauert.

Was verrät die Täter?
In den meisten Fällen sind das ganz normale blaue Flecken, also Haut­unterblutungen.

Blaue Flecken untersuchen Sie auch an lebenden Personen. Zum Beispiel bei einem Verdacht auf häusliche Gewalt. Mit wem arbeiten Sie lieber: mit den Lebenden oder den Toten?
Lieber mit den Toten.

Bereitet Ihnen das keine Sorgen?

Sie lachen.
Vielleicht muss ich präzisieren: Als Rechts­medizinerin, in diesem Beruf, arbeite ich lieber mit den Toten. Eine andere Arbeit, die mir vielleicht noch besser gefällt, weil ich aus der Gastro­nomie komme, ist das Kellnern am Abend in einer lustigen Bar. Dort arbeite ich lieber mit Lebenden als mit Toten. Ich bin also noch normal!

Sie gehören zu den renommiertesten Gerichts­medizinerinnen der Welt und haben ein Buch über Ihre Arbeit geschrieben. Warum?
Ich sagte dem Verleger zu, weil wir immer wieder Familien von Verstorbenen haben, die uns anrufen mit Ideen, die sie aus einer Folge von «CSI» oder ähnlichen Serien haben. Die sind enttäuscht, dass wir, anders als im Fernsehen, nicht nach 45 Minuten wissen, was geschehen ist. Die Idee war also, ein Buch zu schreiben, das ganz normalen Leuten erklärt: Was ist die Rechts­medizin in der Realität?

In der Realität ist die Rechts­medizin in den Vereinigten Staaten, wo viele dieser Serien herkommen, ja in sehr schlechtem Zustand, schreiben Sie.
Leider ja. In den USA empfehle ich nun wirklich nicht zu sterben.

Wenn Sie zu einem Kongress in die USA fliegen, raten Sie Leuten aus Ihrem Team, ganz simpel zu bleiben und die kompliziertesten Folien wegzulassen.
Ich besuche gar keine Kongresse mehr in den USA, es hat keinen Sinn. Als wir das letzte Mal Vorträge hielten, waren die Rechts­mediziner im Publikum ganz begeistert, aber sie sagten uns, was wir machten, sei für sie Science-Fiction.

Warum ist das so? Wo liegt das Problem?
Stellen Sie sich nochmal vor, Sie liegen tot im Hotel­zimmer. Da wäre es zunächst einmal so, dass ein coroner – also eine Person, die vom Volk gewählt wird, kein Arzt – entscheiden kann, ob Sie gestorben sind und woran. Vielleicht würde er denken, etwas sei seltsam. Vielleicht würde er versuchen, einen Rechts­mediziner zu finden. Aber weil es kaum Rechts­mediziner gibt in den USA, würde er vielleicht einfach sagen, Sie seien an einem Herztod gestorben. Das ist nie richtig falsch. Und selbst wenn Sie zu einem Rechts­mediziner kommen, ist die Qualität der Unter­suchung schlecht. Der Beruf des Rechts­mediziners entspricht in den USA häufig dem Klischee aus dem Filmen: Alkoholiker, die etwas falsch gemacht haben in der Karriere als Arzt. Sie werden schlecht bezahlt. Sie haben kaum Zugang zu moderner Technologie. Sie kümmern sich nur um die Toten und nicht um die Lebenden; stehen also am Sezier­tisch, von morgens bis abends, und schneiden eine Leiche nach der anderen auf.

Sie hingegen leiten die West­schweizer Rechts­medizin, die State of the Art ist. Sie haben zum Beispiel eine Methode entwickelt, um den Blut­kreislauf von Toten wieder zum Fliessen zu bringen. Wozu?
Die Blutgefässe von Toten waren ein blinder Fleck in der Rechts­medizin. Weil die Gefässe im Tod porös werden und weil das Herz ja nicht mehr schlägt, war es uns nie möglich gewesen, ein Kontrast­mittel zu injizieren und Verletzungen an den Blut­gefässen in der radiologischen Bild­gebung sichtbar zu machen.

In ersten Versuchen, damals waren Sie noch Doktorandin, pumpten Sie Diesel durch die Venen von toten Ratten.
Ich hatte in einer Studie einen Hinweis gefunden, dass sich das Problem der Porosität mit einer lipophilen Substanz vielleicht lösen liesse. Ich testete alle möglichen Ölsorten aus, auch Öle aus dem Super­markt. Die toten Ratten bekam ich vom Zoo, das war Reserve­futter für die Leoparden.

Heute stellen Sie die Methode auf der ganzen Welt vor. Bei welchem Fall hat sie Ihnen geholfen, einen Tod zu klären?
Nehmen Sie wieder die 73 Messer­stiche. Bei so einem Tötungs­delikt ist die Methode klar besser als die normale Obduktion. Das Kontrast­mittel tritt überall dort aus, wo die Person geblutet hat. Wir sehen in den 3-D-Bildern den genauen Verlauf der Stich­kanäle, können also beantworten: Wie tief gingen die Stiche? Wie schlimm war die einzelne Verletzung? Das kann juristisch wichtig sein. Weil es, wie angesprochen, die Frage aufwirft: Wie lange hat die Tat gedauert? Wie sehr hat die verstorbene Person leiden müssen?

Ihr Institut hat auch Zweit­gutachten erstellt zum Tod von Yassir Arafat oder Prinzessin Diana.
Das war noch unter meinem Vorgänger.

Werden auch Sie heute oft für Zweit­obduktionen beigezogen?
Nicht oft, aber immer wieder.

Auch bei normalen Verstorbenen oder immer bei VIPs?
Meistens sind es die politisch heisseren Affären.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Da war zum Beispiel ein Premier­minister. Aber meistens müssen wir zu den Fällen schweigen.

Bekannt ist, dass Sie zugezogen wurden in der Affäre um den Flugzeug­absturz im russischen Smolensk. Dort war im Jahr 2010 ein polnisches Flugzeug abgestürzt, in dem ranghohe polnische Militärs und Politiker sassen. Darunter der Präsident von Polen. Später wurden die Leichen exhumiert, weil die damalige polnische Regierungs­partei vermutete, es habe sich um einen Anschlag gehandelt. Sie waren bei der Obduktion nach der Exhumierung dabei. Was war Ihre Aufgabe?
Wir waren sechs ausländische Experten, davon drei aus unserem Institut. Die Leichen wurden in drei gut ausgestattete rechts­medizinische Institute in Polen gebracht. Die Aufgabe war, bei den Obduktionen dabei zu sein. Wir sollten schauen, dass sie nach einem zuvor fest­gelegten Protokoll und nach international anerkanntem Standard ablaufen, und den Bericht am Ende mitunterschreiben. Wir konnten auch beraten und zum Beispiel sagen, wenn wir eine Idee hatten, was zusätzlich noch untersucht werden könnte.

Was haben Sie gefunden?
Seltsame Sachen, das schon. Beim polnischen Präsidenten zwei Mägen. Der hatte bei der ersten Obduktion wohl zusätzlich noch den Magen vom Opfer auf dem Nebentisch gekriegt.

Es war unsauber gearbeitet worden?
Ja. Wobei man einräumen muss, dass die Umstände schwierig waren. Wenn ich richtig informiert bin, mussten damals fünf oder sechs Rechts­mediziner innert eineinhalb Tagen über 90 Leichen untersuchen.

Ist der Fall bereits abgeschlossen?
Unsere Untersuchungen schon. Aber die Gesamt­untersuchung läuft meines Wissens noch.

Was lässt sich an einer exhumierten Leiche überhaupt noch sehen?
Oh, ganz viel. Die meisten Leichen waren in relativ gutem Zustand, weil keine Luft zum Leichnam kam. Dann funktioniert die normale Fäulnis nicht, weil die Darm­bakterien, die uns langsam grün werden lassen, ohne Sauer­stoff nicht arbeiten. Der Leichnam bleibt also erhalten, und mit der Zeit passiert ein chemischer Prozess im Fett­gewebe. Dadurch wird das Gewebe ganz hart, wie Kerzen­wachs. Darum sprechen wir von «Fettwachs­leichen». Meinen Studenten sage ich, sie sollen sich Madame Tussauds vorstellen – in der Version Halloween.

Sagen Sie: Wie bewahren Sie Ihr Gemüt in diesem Beruf? Sie schreiben, es sei ganz gut, dass der Durchschnitts­mensch nicht wisse, wie viel Gewalt um ihn herum passiert.
Das ist simples Wasserglas­prinzip. Je mehr schlimme Sachen ich sehe, desto mehr freue ich mich über alles Gute.

Ihre Arbeit mit den Toten macht Sie noch fröhlicher, als Sie schon sind?
Ich glaube, ja. Wenn aus der Familie jemand meinen Rat sucht bei einem Leiden, weil ich ja doch Ärztin bin, und mich fragt: «Meinst, das ist schlimm?», dann sage ich nie, es sei schlimm. Ich antworte immer: «Sterben wirst du daran nicht.»

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