Strassenszene im Distrikt Wuri, im Westen von Taiwan (2003). Chien-Chi Chang/Magnum Photos

Das andere China heisst Taiwan

Die drohende chinesische Invasion bringt den Inselstaat regelmässig in die Nachrichten. Aber was wissen wir eigentlich über Taiwan und den Konflikt mit China?

Von Lea Schneider, 18.04.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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«Wie schön, ich würde auch gern für ein Semester nach Thailand gehen!» – als ich 2012 zum Studium nach Taiwan zog, hörte ich Reaktionen dieser Art. Gerade einmal zwölf Jahre ist es her, als die Inselrepublik im Südchinesischen Meer offenbar Menschen in unserer Region so unbekannt war, dass sie nicht einmal mit ihrem Namen etwas anfangen konnten.

Das hat sich grundlegend geändert: Kaum eine Woche ist in den letzten zwei Jahren vergangen, in der Taiwan nicht in den deutsch­sprachigen Nachrichten auftauchte.

Es gibt vielfältige Gründe, warum Taiwan interessant ist: Zum Beispiel ist das Land, das zu den am dichtesten besiedelten Staaten der Erde gehört, ein Vorreiter in Bereichen wie Digitalisierung oder bei der Gleichstellung von LGBTQIA+-Personen.

Aber natürlich ist der Hauptgrund für das Auftauchen Taiwans in den Medien seit geraumer Zeit ein anderer: die drohende chinesische Invasion. Der russische Angriffs­krieg auf die Ukraine hat dieses Bedrohungs­szenario noch einmal zusätzlich ins Bewusstsein gerufen. Aber auch die bereits seit Jahren in einem Handels­krieg eskalierende Konfrontation zwischen den beiden stärksten Militär­mächten der Welt, der Volksrepublik China und den USA, gehört zum weiteren Kontext: Da die USA als Schutzmacht der Insel auftreten, bedeutet jede Verschlechterung des transpazifischen Verhältnisses auch eine gesteigerte Bedrohung für Taiwan.

«Republik China», «Republik China auf Taiwan» oder «Chinesisches Taipei» lauten die offiziellen Namen des Insel­staates. Diese Namen haben historische Gründe und verweisen darauf, dass Taiwan zwar politisch unabhängig, kulturell aber durchaus eng mit dem chinesischen Festland verbunden ist. Ähnlich wie die Ukraine ist auch die taiwanische Republik seit ihrer Gründung 1949 Gegenstand von Wieder­eingliederungs- beziehungsweise Eroberungs­fantasien eines grossen Nachbarlandes. Die Regierung der Volksrepublik (VR) China bezeichnet Taiwan in offiziellen Dokumenten als «abtrünnige Provinz», die fester Bestandteil des Mutterlands sei; die «Wieder­vereinigung» des gesamten Staatsgebiets ist als «heilige Pflicht» in der chinesischen Verfassung festgeschrieben.

Zur Autorin

Lea Schneider lebt nach längeren Studienaufenthalten in China und Taiwan als Autorin, Übersetzerin und Literatur­wissenschaftlerin in Berlin. In Buchform erschienen von ihr unter anderem ihr Gedichtband «made in china» (Verlagshaus Berlin, 2020), der gemeinsam mit Dong Li übersetzte Lyrikband «Gesellschaft für Flugversuche» von Zang Di (Hanser, 2019) sowie die Anthologie «Chinabox. Neue Lyrik aus der Volksrepublik» (Verlagshaus Berlin, 2016). Für die Republik schrieb sie zuletzt über die chinesische Autorin Fang Fang.

Als demokratischer Staat mit gesetzlich garantierter Gewalten­teilung sowie Presse- und Versammlungs­freiheit steht Taiwan allerdings für einen diametralen Gegenentwurf zur autoritär regierten Volksrepublik. Dieser Gegensatz wurde noch verschärft durch die umfassende gesellschaftliche Liberalisierung, die das Land in den letzten zwei Jahrzehnten durchlaufen hat, besonders unter seiner letzten Präsidentin Tsai Ing-wen.

Hinzu kommt, dass einige der wichtigsten Schifffahrts­routen der Welt durch die Strasse von Taiwan verlaufen, die Meerenge zwischen der Insel und dem chinesischen Festland. Ein Krieg hier wäre nicht nur für die unmittelbar betroffenen Menschen furchtbar, sondern hätte auch katastrophale Folgen für den globalen Handel. Nicht zuletzt ist Taiwan einer der wichtigsten Produzenten von Halbleitern, die für die Herstellung von Computer­chips unverzichtbar sind – und damit quasi die gesamte Weltwirtschaft antreiben.

Vor 20 Jahren war es mit 508 Metern das höchste Gebäude der Welt: Taipei 101 im Hauptort der Insel. Chien-Chi Chang/Magnum Photos

Es verwundert also nicht, dass im renommierten Sachbuch­verlag C. H. Beck soeben eine «Kleine Geschichte Taiwans» erschienen ist – und dass schon im Klappentext steht: «An nur wenigen Orten verdichtet sich die Weltpolitik gegenwärtig so stark wie rund um Taiwan.»

Umso dringlicher ist dieses Buch. Denn auch wenn heute kaum noch jemand Taiwan mit Thailand verwechseln dürfte, ist über die taiwanische Gesellschaft und die Hintergründe der sogenannten «Taiwanfrage» im allgemeinen deutsch­sprachigen Diskurs nach wie vor wenig bekannt. Genau hier setzt die «Kleine Geschichte Taiwans» an. Geschrieben hat sie Gunter Schubert, Direktor des European Research Center on Contemporary Taiwan an der Universität Tübingen, und sie gibt auf gut 180 Seiten einen Überblick über die historischen Entwicklungen, die zu den Konflikt­linien der Gegenwart geführt haben.

Dieser übersichtlichen und leicht lesbaren Einführung gelingt etwas Bemerkenswertes: durchweg darauf zu bestehen, dass die Dinge kompliziert sind.

Schubert weiss natürlich, dass das neu erwachte Interesse für Taiwan nur bedingt etwas mit der Insel selbst zu tun hat – und vor allem von ihrer Stellung «als ‹Frontstaat› in einer globalen Auseinander­setzung zwischen dem demokratischen ‹Westen› und dem autoritären ‹Nicht-Westen›» herrührt. Er lässt seine Erzählung der taiwanischen Geschichte dennoch nicht am Ursprung dieses modernen Konflikts im Jahr 1949, sondern wesentlich früher einsetzen: mit der Geschichte von Taiwans indigener Bevölkerung. Im Anschluss nimmt sich Schubert die Zeit, auch die zahlreichen unterschiedlichen Kolonialisierungs- und Widerstands­wellen zu erzählen, die über Taiwan hinweg­gegangen sind.

Denn für einen langen Zeitraum seiner Geschichte stand Taiwan eben nicht im Zentrum des politischen Geschehens, sondern war, so Schubert, «eine typische frontier-Region, die wenig effizient verwaltet wurde». Weit entfernt von den geopolitischen Machtzentren, machten schwache staatliche Strukturen es möglich, Lebens­formen und Gesellschafts­versuche jenseits der offiziellen Gesetz­gebung auszuprobieren. Für solche Orte gibt es im Chinesischen ein schönes Sprichwort: «Die Berge sind hoch und der Kaiser ist weit weg.»

Indem Schubert die lange Geschichte der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Gesellschafts- und Herrschafts­systeme auf Taiwan und das anarchische Potenzial seiner «Frontier»-Position miterzählt, wird zwischen den Zeilen seiner «Kleinen Geschichte» eine These lesbar, die er selbst zwar nie so klar benennt, die aber für alle, die einmal auf der Insel gelebt haben, sofort überzeugend sein dürfte: Ja, Taiwan ist ein Spielball an der neuen, alten ideologischen Frontlinie zwischen «Westen» und «Nicht-Westen» – aber eben auch etwas Drittes, eine eigene Erzählung, die in der Dichotomie zwischen dem sogenannten Westen und der nichtwestlichen Welt nicht aufgeht. Die Insel ist damit eine epistemische Herausforderung für beide Seiten des Konflikts.

Ausgehend von Schuberts Buch liesse sich sagen: Taiwan ist nicht nur ein Ort, an dem gegenwärtig Ideologien und Macht­interessen aufeinander­treffen wie an kaum einem anderen Ort der Welt – sondern auch ein Ort, von dem aus sich die Welt und ihre Ordnung anders erzählen lassen.

Natürlich muss Schubert vor allem auch Antwort geben auf die Frage, die die meisten Leserinnen nach dem Buch greifen lassen dürfte: Warum bezeichnet die Volksrepublik China die Insel als Teil ihres Staatsgebiets – und ist Taiwan nun ein eigenständiger Staat oder nicht? Schuberts Antwort erfolgt in zwei Teilen, die sich nur scheinbar gegenseitig widersprechen: Es ist kompliziert – und: Ja, unbedingt.

Kompliziert ist die Antwort auf die Frage nach der nationalen Verfassung, weil Taiwan aufgrund seiner langen, wechselvollen Kolonialisierungs- und Einwanderungs­geschichte heute ein mehr­sprachiges, multi­religiöses und multi­kulturelles Land ist, dessen Gesellschaft vor allem von Heterogenität definiert wird. Zugleich aber gibt es, so zeigt Schubert anhand einer Reihe von Meinungs­umfragen auf, innerhalb dieser ausserordentlich diversen Gesellschaft einen «gesellschaftlichen Fundamental­konsens»:

Auch wenn das Verhältnis zu «China» – als historischer und kultureller Raum – vielschichtig ist und die Antwort auf die Frage nach der Zugehörigkeit Taiwans zu diesem Raum von emphatischer Zustimmung bis hin zu kompromissloser Ablehnung reicht, so wird der Souveränitäts­anspruch der VR China über Taiwan von einer überwältigenden Mehrheit der Inselbewohner entschieden zurückgewiesen: Sie leben in einem souveränen Staat, der Republik China.

Es mag für westliche Ohren, die immer nur den Namen «Taiwan» hören, gewöhnungs­bedürftig sein, aber «Republik China» ist für Taiwans Bevölkerung der Name, der für die eigene staatliche Souveränität und die Unabhängigkeit von der «Volksrepublik China» steht. Und zwar während eine historische und kulturelle Verbindung durchaus auch namentlich bestehen bleibt.

Um dieses Nebeneinander von Heterogenität und Einstimmigkeit verstehen zu können, muss man, wie Schubert es tut, an den Anfang zurückgehen und die gesamte Geschichte der Insel betrachten.

Vielfalt der Sprachen, Vielfalt der Kulturen

Rund zwei Prozent der Gesellschaft Taiwans bilden die Angehörigen der indigenen Bevölkerung (Yuanzhumin), die seit etwa 4000 Jahren auf der Insel lebt. Nach einer langen, brutalen Geschichte der Assimilierung und Unterdrückung erleben indigene Sprachen und Kulturen auf Taiwan gegenwärtig eine Renaissance – auch dank staatlicher Förder­programme und verfassungs­rechtlich garantierter Mindestzahl an Parlaments­plätzen für Vertreterinnen der indigenen Communitys.

Ein Brautpaar der Paiwan, eines indigenen Volks in Taiwan (1925). Royal Geographical Society/Getty Images
Unter japanischer Kolonialherrschaft: Das Bild wurde zwischen 1910 und 1914 aufgenommen. Haeckel collection/ullstein bild/Getty Images

Den grössten Teil der taiwanischen Bevölkerung machen Nachfahren der chinesischen Einwanderer aus, die im frühen 17. Jahrhundert als Wirtschafts­flüchtlinge vom Festland auf die Insel kamen – wobei die Bezeichnung «chinesisch» an dieser Stelle nicht ganz unproblematisch ist. Denn auch der chinesische Kulturraum ist, entgegen der offiziellen Narrative der Regierung in Peking, ein multi­kultureller und mehrsprachiger. So ist die erste Sprache vieler Bewohnerinnen Taiwans nicht unbedingt Putonghua (Hoch­chinesisch), sondern Minnan oder Hakka – die Sprachen der beiden südchinesischen Bevölkerungs­gruppen, die die Einwanderung nach Taiwan wesentlich prägten und deren Kulturen und Geschichten sich von denen der hanchinesischen Bevölkerungs­mehrheit in der Volksrepublik China wesentlich unterscheiden.

Ihre Vorfahren kamen im Zuge des Zusammen­bruchs der vorletzten kaiserlichen Dynastie Chinas, der Ming-Dynastie (1368–1644), nach Taiwan – begünstigt durch verschiedene, zum Teil gleichzeitig stattfindende und ihre jeweils eigenen Nebeneffekte produzierende Siedlungs­versuche europäischer Kolonial­mächte. Kurze Phasen unter portugiesischer, spanischer und holländischer Herrschaft wurden 1662 durch die Ankunft der Armee von Koxinga beendet, einem Militär­führer der untergegangenen Ming-Dynastie.

Koxingas Biografie liest sich wie eine Personifizierung der ambivalenten taiwanischen «Frontier»-Identität: Als Sohn eines chinesischen Geschäfts­manns und einer Japanerin wuchs er in Japan auf und hing einer untergegangenen Kaiser­dynastie an. Dieser erste «chinesische» Herrscher Taiwans war tatsächlich alles andere als einfach nur «chinesisch».

Erst ab 1683 wurde Taiwan offiziell Teil des chinesischen Kaiserreichs unter der Qing-Dynastie. Die neuen Herrscher übernahmen die «Zivilisierungs­projekte» der europäischen Siedlerinnen. Für die indigenen Bewohner der Insel bedeutete das: Zwangsarbeit und Zwangs­rekrutierung, exploitative Besteuerung, Vertreibung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen. In die Zeit der Qing-Herrschaft auf Taiwan fallen auch die ersten, komplizierten Formen eines Bündnisses zwischen den verarmten chinesischen Bauern vor Ort und der indigenen Bevölkerung, die sich in mehreren Aufständen gegen Landbesitzer und die Vertreter der kaiserlichen Obrigkeit erhoben.

In diesem heterogenen Widerstand der ausgebeuteten Peripherie gegen die Zentral­gewalt in Peking liegt einer der Ursprünge für das heutige taiwanische Bewusstsein. Ein positives Verständnis von interner Diversität verbindet sich hier mit dem Anspruch auf Souveränität vom Festland.

Schülerinnen in Taiwan lernen die japanische Sprache (eine Aufnahme aus den Jahren 1910 bis 1914). Haeckel collection/ullstein bild/Getty Images

Folgenreich war auch ein Ereignis Ende des 19. Jahrhunderts: 1895 übergab das Qing-Reich nach einem verlorenen Krieg Taiwan mehr oder weniger widerstandslos an das japanische Kaiserreich – eine Entscheidung, die, wie Schubert darlegt, bis heute andauernde Konsequenzen für das taiwanisch-chinesische Verhältnis hat:

Diese Erfahrung, vom Kaiserhof in würdelosen Kapitulations­verhandlungen als Kriegsbeute an Japan abgetreten worden zu sein, verankerte sich tief im kollektiven Gedächtnis der Insel­bevölkerung und diskreditiert bis heute den Souveränitäts­anspruch Chinas über Taiwan.

Die bis 1945 andauernde japanische Kolonial­herrschaft markiert eine Epoche von Unterdrückung und Ausbeutung; sie wird allerdings in Taiwan heute durchaus auch positiv erinnert. Unter japanischer Verwaltung, so Schubert, «stieg die Inselrepublik Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer der modernsten Volkswirtschaften Asiens» auf.

Vor allem aber fiel in diese Zeit auch eine vergleichsweise liberale Periode (1915–1937), in der mit der Taiwanischen Autonomie­bewegung eine ebenso politische wie literarisch-künstlerische Bewegung entstand. In diesem Rahmen gründeten sich «zahlreiche zivil­gesellschaftliche Organisationen und liberale Zeitschriften, die sich vor allem für politische Mitbestimmungs- und Arbeiter­rechte», aber auch für die Formulierung einer eigenständigen kulturellen Identität Taiwans einsetzten. Es ist diese intellektuelle Blütezeit, auf die sich insbesondere seit der Demokratisierung Taiwans in den 1980er-Jahren progressive Diskurse um eine eigene taiwanische Identität beziehen.

Dieser positive Rückbezug auf die japanische Kolonialzeit verkompliziert das Verhältnis Taiwans zu China zusätzlich. Denn für die chinesische National­erzählung ist die Feindschaft mit Japan ein Grundpfeiler – begründet in den grauenhaften Verbrechen der japanischen Invasion und Militär­herrschaft während des Zweiten Weltkriegs. Taiwan indes hat mit Blick auf die japanische Kolonialzeit auch eine komplizierte Geschichte der Verstrickung: Über 400’000 Taiwaner waren während des Kriegs in unterschiedlichen Funktionen Teil der japanischen Armee.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Mit der Übergabe Taiwans an die Republik China in der Potsdamer Erklärung von 1945 beginnt der gegenwärtige Teil der Geschichte des China-Taiwan-Konflikts.

Im Gegensatz zu Europa markierte das Jahr 1945 in China kein Ende des Kriegs: Hier folgten dem Weltkrieg weitere vier Jahre Bürgerkrieg, in dem die national-autoritäre Partei Kuomintang (KMT), die im Jahr 1912 das chinesische Kaiserreich gestürzt und die Republik China ausgerufen hatte, gegen die Kommunistische Partei Chinas kämpfte. Als die Truppen der KMT den Krieg zu verlieren begannen, zog sich im Mai 1949 die gesamte Regierung mit insgesamt etwa zwei Millionen ihrer Anhängerinnen nach Taiwan zurück. Die KMT verlegte ihre nunmehr massiv geschrumpfte «Republik China» also auf die Insel, während auf dem chinesischen Festland die kommunistische «Volksrepublik China» ausgerufen wurde.

Getarnte Soldaten der Kuomintang in den 1950er-Jahren auf der Insel Quemoy (heute Kinmen). Mondadori/Getty Images
Ein Plakat in Taiwan erklärt die Geschichte von Festlandchina. Mondadori/Getty Images

Die folgenden Jahrzehnte prägte ein eingefrorener militärischer Konflikt; Taiwan wurde einer der Schauplätze des Kalten Kriegs. Als Bestandteil ihrer anti­kommunistischen Containment-Politik erklärten sich die USA zur Schutz­macht der Insel und sicherten die Existenz des KMT-Staates. Die KMT selbst errichtete eine autoritäre Diktatur und verhängte ein fast 40 Jahre andauerndes Kriegsrecht über die Insel, das als «Weisser Terror» in die Geschichte eingegangen ist: Zehntausende Taiwanerinnen verloren ihr Leben, unzählige weitere wurden als politische Gefangene weggesperrt oder gingen ins Exil. Unter ihnen war eine ganze Generation von intellektuellen Eliten, insbesondere aus den chinesischen und nichtchinesischen Communitys, die bereits vor der Übersiedelung der KMT auf der Insel gelebt hatten:

Schriftsteller und Künstler, Lehrer und Dozenten, Journalisten, Ärzte, Rechtsanwälte, die Anführer der Yuanzhumin – sie alle gerieten in das Fadenkreuz einer brutalen staatlichen Unterdrückung.

Der Widerstand gegen diese Unterdrückung und die in den 1980er-Jahren durch friedlichen zivilgesellschaftlichen Protest erkämpfte Demokratisierung sind heute die wichtigsten Bezugspunkte für eine selbstbewusste, von Festlandchina unabhängige taiwanische National­erzählung. Taiwan ist gegenwärtig nicht nur eine dank früher Digitalisierung wirtschaftlich enorm erfolgreiche Dienstleistungs­gesellschaft. Sie ist auch eine der liberalsten und resilientesten Demokratien der Welt, die von ihren Bürgerinnen – etwa in der studentischen «Sonnenblumen-Bewegung» 2014 – immer wieder vehement gegen anti­demokratische Angriffe verteidigt wird.

Diese Resilienz begründet sich einerseits in der Tatsache, dass die taiwanische Demokratie hart erkämpft und aus der Zivil­gesellschaft selbst erwachsen ist. Sie ist aber wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass die taiwanische «National­identität» – wenn man denn überhaupt von einer sprechen will – eben gerade nicht auf ethnischer Zugehörigkeit, sondern auf einer langen Geschichte der Heterogenität und Diversität gebaut ist. Auf dieser Basis, so Schubert, hat sich eine «Schicksals­gemeinschaft» zum «demokratischen Verfassungs­staat der Republik China (auf Taiwan)» bekannt.

Die Entwicklung Taiwans lässt sich also in mehrfacher Hinsicht als Gegen­erzählung zu aktuellen Tendenzen von Autoritarismus und Ethno-Nationalismus verstehen.

Zum einen widersprechen Geschichte und Gesellschaft der Insel­republik dem konservativen Glaubens­satz, wonach für eine funktionierende Gesellschaft (kulturelle) Homogenität notwendig sei. Zum anderen steht die Existenz einer chinesischen Demokratie den wirkmächtigen Erzählungen vom «orientalischen Despotismus» entgegen, die das europäische Chinabild allzu oft prägen, seit Ende des 19. Jahrhunderts aber auch bei einigen chinesischen Intellektuellen verbreitet sind und in der Annahme kulminieren, «die» Chinesen seien noch nicht bereit für eine echte Demokratie.

Gunter Schuberts «Kleine Geschichte Taiwans» macht deutlich: Wer sich mit Taiwan beschäftigt, kann etwas darüber lernen, wie eine von tiefem Pragmatismus geprägte demokratische Gesellschaft «gelassen bis selbstbewusst, vielleicht auch ein Stück weit fatalistisch mit einer existenziellen Bedrohung» umgeht – eine Fähigkeit, die spätestens seit der Ausweitung des russischen Angriffs­kriegs in der Ukraine auch in Europa dringend notwendig erscheint. Und: Sich mit Taiwan zu beschäftigen, heisst nicht zuletzt eben auch, das eigene Denken und seine Kategorien herauszufordern.

Denn Taiwan ist ein Ort, der sich gerade im Fokus der Weltpolitik befindet –und der zugleich für eine andere, kompliziertere Erzählung der Weltordnung steht.

Zum Buch

Gunter Schubert: «Kleine Geschichte Taiwans». C. H. Beck, München 2024. 185 Seiten, ca. 22 Franken.

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