Nimmermüde

Elfriede Bachmann ist mit 101 Jahren so alt, wie alle werden wollen und doch nicht sein mögen. Jeder Tag ist ihr ein Geschenk. Für die Forschung, die vom ewigen Leben träumt, hat sie wenig Verständnis.

Von Andreas Holzapfel, 06.04.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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Elfriede Bachmann: Was ist ihr Jungbrunnen? Jos Schmid

Es klingelt das Telefon. Es ist die Rosi, sie liegt gerade im Kranken­haus, neue Hüfte. Wie es denn gehe? Ganz gut? Schön! Ob sie später zurück­rufen könne? Sie habe Besuch.

Es klingelt an der Tür. Es ist die Nachbarin, sie wedelt mit dem Gemeinde­blatt, Trauung und Trauer. Liebsten Dank! Ob sie später kommen könne? Sie habe Besuch.

Es klingelt das Telefon …

Man sagt, das Alter mache einsam.

Aber Elfriede Bachmann sagt: Das Alter macht nur einsam, wenn man es zulässt.

Elfriede Bachmann ist 101 Jahre alt, ein ganzes Jahrhundert Leben. Und noch immer nicht müde.

Ihr Mann Paul ist seit neun Jahren tot, ihr Sohn Rolf lebt als Rentner in der weiten Welt. Bachmann wohnt allein in dem Einfamilien­haus, das sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Allschwil, am Rand von Basel, gebaut hat. Ihre Ski­truppe ist gestorben, ihre Schul­klasse auch. So oft stand sie in ihrem Leben an einem Grab. Dennoch ist für sie jeder Tag ein Geschenk.

Wenn sie ihren Sohn vermisst, ruft sie ihn per Skype an. Noch vor zwei Jahren besuchte sie ihn in Malaysia. Erst im Sommer schipperte sie mit einem Dampfer über den Rhein. Sie und ihr Mann wollten das immer mal gemacht haben. Doch er starb früher. Sie erfüllte sich diesen Traum mit ihrem Sohn, der ihr die Fahrt zum Geburtstag geschenkt hatte. Traumhaft.

Ihr Leben reicht weit in die Vergangenheit. Es weist zugleich in die Zukunft.

Forscherinnen auf der ganzen Welt arbeiten daran, dass der Mensch immer länger und immer besser lebt. 120 gesunde Jahre halten sie für denkbar. Schon bald. Mit Tieren gelingt ihnen bereits Erstaunliches. Faden­würmer leben länger, wenn ihnen ein Gen­cocktail gespritzt wird. Im Labor zögern Wissenschaftler das Altern nicht nur hinaus, sie scheinen es sogar umzukehren. Alte Fische werden wieder jung, wenn Forscher ihnen Darmflora junger Artgenossen verabreichen.

Nun ist der Mensch weder Wurm noch Fisch. Doch der Jung­brunnen, den schon Kleopatra im Milchbad gefunden zu haben glaubte, muss kein Menschheits­traum bleiben. Manche Forscher träumen von der Unsterblichkeit.

Können wir ewig leben? Und wollen wir wirklich nie sterben?

Sie hat ja Zeit

Elfriede Bachmann weiss, wie es ist, so alt zu sein, wie jeder werden möchte und doch niemand sein mag. Sie wird nicht müde von diesem Leben. Doch dem Tod möchte sie nicht entkommen.

Es ist früher Nachmittag in Allschwil, ein sandfarbenes Einfamilien­haus mit Vorgarten, auf der Strasse kaum Menschen oder Maschinen, die Stadt ist nah und doch fern. Fix tritt Elfriede Bachmann aus der Tür, sie lächelt herzlich und winkt einen hinein. Sie ist klein, etwas gedrungen, im Gesicht ein paar Alters­flecken, ihr Rücken kerzengerade. Ihr beigefarbener Woll­pulli ist nicht mit ihr kleiner geworden, die goldene Hals­kette baumelt ihr fast bis zum Bauch­nabel.

Auf ihrer Nase sitzt eine Brille, dafür hat sie noch Ohren wie ein Luchs. Anders als viele andere Hundert­jährige muss sie sich nicht zu einem beugen, um etwas zu verstehen. Wenn sie vom Stuhl aufsteht, stützt sie sich nicht einmal ab. Auch die Strümpfe kriege sie noch gut über die Füsse. Sie schmeisst auch noch den Haushalt, zumindest zu grossen Teilen. Sie kocht, putzt und wäscht die Wäsche, geht einkaufen. Für längere Strecken nehme sie zwar den Rollator, der aber eigne sich auch gut als Einkaufs­wagen. Bis vor zwei Jahren hat sie noch die Wiese im Garten gemäht, dann hat ihr Sohn ihr einen Roboter dafür geschenkt. Immer mal wieder lässt sie eine Putz­frau kommen, aber die wische nicht in den Ecken.

Alles dauere ein wenig länger, sagt Bachmann, aber sie habe ja Zeit.

Das Schlafen sei eine der wenigen Sachen, die ihr wirklich Probleme machten. Oft schlafe sie erst tief in der Nacht ein. Dann schiessen ihr gern Dinge in den Kopf, die ihr tagsüber partout nicht einfallen wollten. Nicht so schlimm, sagt sie. Dann schlafe sie eben bis elf.

In jedem Fach der Tabletten­box liegen, Montag bis Sonntag, morgens, mittags, abends, nachts, die drei Pillen, die sie nehmen soll. «Mir fehlt ja nichts, ich weiss auch gar nicht genau, wogegen sie helfen sollen. Blut­hochdruck oder so was.»

Menschen wie Bachmann waren lange das Idealbild der Alters­forscher. Heute wollen sie mehr. Doch noch immer suchen sie in diesen Menschen nach dem Methusalem-Geheimnis.

Noch einmal zum Eishockey

Wenn Alters­forscherinnen über das typische Leben von Hundert­jährigen sprechen, zeichnen sie mit dem Finger gern eine lange Linie in die Luft, die zum Ende hin abrupt nach unten abknickt. Bei den anderen Menschen sinkt die Linie nach etwa zwei Dritteln ihrer Länge. Viele verbringen grosse Teile der Zeit, die ihnen die moderne Medizin schenkt, im Kranken­bett. Hundert­jährige aber leben oft gesund bis zum Tod.

Bachmann zählt sich zu den 5 Prozent aller Schweizer Hundert­jährigen, die sich laut einer aktuellen Studie bei «exzellenter Gesundheit» sehen. Für die Studie sind die Psychologin Daniela Jopp von der Universität Lausanne und ihr Team mit einem Frage­bogen durch die Schweiz gezogen und haben unter anderem bei Bachmann im Wohn­zimmer haltgemacht.

Fast alle brauchten eine Brille und ein Hörgerät, nicht wenige einen Rollator, sagt Jopp, sonst aber seien Hundert­jährige wesentlich fitter, als viele vermuten würden. «Sie haben gute Gene, aber auch eine gute Einstellung.»

Hundert­jährige seien eher positiv, extrovertiert und diszipliniert. Nur 8 Prozent klagten über ihre Gesundheit. «Es sind Leute, die keine Angst vor dem Altern haben. Sie ärgern sich nicht, wenn sie nicht mehr ohne Rollator laufen können. Sie freuen sich, dass sie es mit Rollator noch können. Sie sehen an ihrem Freundes­kreis, dass es viel schlimmer sein könnte.»

Mit dem Tod habe niemand mehr ein Problem. Viele aber wollten noch die Konfirmation des Urenkels erleben oder die Krokusse im Frühling blühen sehen. Eine Frau, 103 Jahre alt und fast blind, würde gern noch mal zu einer Partie Eishockey in die Halle, die Atmosphäre sei so schön.

«Sie sagen: Ich bin bereit, aber morgen habe ich noch was vor.»

Bachmanns Vater erreichte zwar ein Alter von 84 Jahren, doch weder ihre Mutter noch ihre zwei Geschwister lebten länger als die meisten ihrer Generation. Das ist eher ungewöhnlich. Bachmann hat also wohl nicht die besten Gene. Allerdings machen die Gene je nach Quelle gerade mal zwischen 10 und 30 Prozent des Geheimnisses aus, warum Menschen so lange leben, schätzen Forscherinnen. Wie sie leben, ist demnach viel wichtiger, als wie sie geboren werden.

Bachmann hat fast den perfekten Charakter für ein langes Leben: Sie ist neugierig, extrovertiert und diszipliniert. Sie hatte kein einfaches Leben. Aber sie hat das Beste daraus gemacht.

Alt wurden lange nur die andern

Im Sommer 1922 kam Elfriede Bachmann zur Welt. Ihr Vater war Handwerker, ihre Mutter kümmerte sich um die Kinder, beide seien lieb und ausgeglichen gewesen, sagt sie. Zum Essen gab es oft nur Kartoffeln und einen kleinen Käse dazu, für jeden eine kleine Ecke, nur der Vater bekam zwei. «Wir hatten nichts, es war eine harte Zeit», sagt sie, «und doch waren wir zufrieden.»

Schon als Kind nähte Bachmann gern. Nun musste sie nur noch gross werden. Doch als sie die Schule abschloss, gab es so gut wie keine Lehr­plätze. Zwar fand sie in der Zeitung ein Inserat, das ihr gefiel, doch schickte die Schneiderin sie immer nur den Hund waschen oder in den Kohlen­keller zum Putzen. Als sie eines Tages wieder mal verrusst wie ein Schornstein­feger heimkam, meldete ihre Mutter sie ab.

Kaum war die eine Krise vorüber, kam schon die nächste.

Am 1. September 1939 berichteten die Sprecher im Radio, dass Hitler-Deutschland in Polen einmarschiert sei, Zeitungs­verkäufer wedelten mit Extra­blättern in den Strassen. Für den Fall, dass die Deutschen kämen, zog die Schweiz tags darauf alle Männer ein, die sie brauchen konnte – ausser die, die sie unbedingt anderswo brauchte. Solche wie Elfriede Bachmanns Freund Paul, der bei der Flieger­truppe die Maschinen am Laufen hielt und das in den dienstfreien Monaten beim Medikamenten­hersteller Sandoz tat. Bachmann stand dort derweil im Labor, wusch, trocknete und siebte mit anderen Frauen grobes, aus Blättern gewonnenes Pulver.

Bald nach dem Krieg heirateten die beiden. Sie kaufte sich Schuhe und einen Hut, ihr Mann bekam ein weisses Hemd, sonst trugen sie ihre Sonntags­kleider, sie brauchten die Lebensmittel­marken für neue Bett­wäsche. Nur mit der Familie und den Trauzeugen feierten sie in einem kleinen Saal eines Bahnhofs­buffets.

«Es war alles sehr einfach», sagt sie, «doch es war wunderschön!»

Für sich und den kleinen Rolf, der dazukam, kauften sie sich ein altes Einfamilien­haus. Weil ihr Mann nun allein verdiente und das Geld nicht zu viel mehr als zum Leben reichte, mussten sie alles selbst machen, die Wände, die Heizung, das Bad. Bachmann und später auch ihr Sohn trugen die Steine zu ihrem Mann, der mauerte sie aufeinander. Sie wusch die Wände ab, er strich sie neu. Es dauerte fast zehn Jahre, aber das Haus wurde so, wie sie es sich vorgestellt hatten.

Wenn sie davon erzählt, präsentiert sie ihr kleines Reich mit einer ausladenden Bewegung. «Es ist so schön geworden. Wir hatten eine Kameradschaft, wir konnten gut zusammen­arbeiten.»

Sie bauten sich ihr Leben, ein gutes Leben.

Mittlerweile dauert alles ein wenig länger. Aber Elfriede Bachmann hat ja Zeit. Jos Schmid

Je älter sie wurden, desto weiter zogen sie in die Welt. Während sie früher mit dem Velo und dem Zelt auf dem Gepäck­träger in die Berge fuhren, flogen sie nun nach Asien und Amerika. Im Ruhe­stand holten sie nach, wofür sie nie das Geld oder die Zeit gehabt hatten.

So schleichend, wie das Alter voranschritt, konnte sich Bachmann gut daran gewöhnen. Alt wurden für sie – und lange auch für ihren Mann – nur die anderen.

Ihre Mutter zuerst, die mit 56 Jahren an einer Hirn­blutung starb, dann ihr Vater, die beiden Geschwister und die Schul­kameraden. Immer weniger blieben übrig, aber schlimme Dinge, das lernte Bachmann schnell, werden nicht besser, wenn man sich in ihnen verliert.

Sie hatte ja auch noch ihren Mann. Sie beobachteten im Garten Amsel und Elster, spielten Karten, werkelten, trafen Freunde, verreisten. Doch dann, es muss vor etwa elf Jahren gewesen sein, wurde der Arzt, der ihnen gegenübersass, plötzlich ganz still.

Ihr Mann, sagte er, habe Demenz.

Ihr geliebter Mann, sanft und fürsorglich, wurde nun grantig, ja sogar bösartig. Immer bildete er sich ein, sie würde ihn betrügen, egal ob ein Freund zu Besuch war oder ein Hand­werker im Keller. «Freundinnen haben mir gesagt, ich sollte ihn in ein Heim geben, sonst würde es mich vorher nehmen. Doch ich habe ihn nie weggegeben und ihn immer zu Hause behalten.»

Vor neun Jahren starb er. Der schwerste Verlust ihres Lebens, aber auch eine Erlösung.

Forscher voller Hoffnung

Forscherinnen verstehen immer besser, was im Körper passiert, wenn wir alt werden. Viele von ihnen vermuten die Ursache des Alterns im Erbgut. Das Erbgut ist wie eine CD, auf der der Bauplan für den gesamten Körper gespeichert ist. Und diese CD bekommt im Alter Kratzer. Die Musik kratzt und hakt, irgendwann verstummt sie.

Der Genetiker David Sinclair lächelt oft, wenn er auf seinen Vorträgen davon erzählt. Er glaubt zu wissen, wie man die Kratzer aus der CD polieren kann. Wenn nicht er, dann wer anders.

«Ich glaube, der erste Mensch, der 150 Jahre alt wird, ist bereits geboren», sagte er vor zehn Jahren. Heute sieht er wenig Grund, warum der Mensch überhaupt sterben sollte. Das Alter ist für ihn nichts, was man nicht heilen könnte, der Tod nichts, was man nicht überwinden könnte.

Sinclair ist nicht irgendein Spinner. Er ist leitender Professor an der Harvard Medical School, einer der renommiertesten Genetiker der Welt. Wie viele seiner Kollegen kann er Mäuse länger und besser leben lassen, wenn er ihnen einen Gen­cocktail verabreicht. Müde Mäuse wurden wieder munter, blinde Mäuse konnten wieder sehen.

Wenn man mit den Alters­forschern des Exzellenz­clusters CECAD in Köln über ihre Mäuse spricht, lächeln sie manchmal, als ginge ihnen alles selbst ein bisschen schnell. Dann spulen sie die Aber ab: Bisher würden nur einzelne Organe verjüngt, das Hirn noch gar nicht. Wer das Alter zurück­drehen wolle, müsse ohnehin viel mehr tun.

Und vor allem: Der Mensch ist keine Maus. Von zwanzig Mitteln, die ihr helfen, hilft ihm nur eines. Krebs und Alzheimer wären sonst vielleicht schon besiegt. Und Versuche am Menschen sind noch fern.

Sinclair bestreitet die Aber nicht. Aber er setzt ihnen eines entgegen, gegen das man wenig sagen kann: Grundsätzlich würden alle Lebewesen gleich altern, egal ob Mensch, Maus oder Faden­wurm.

Von den Kölner Forschern glaubt niemand wirklich daran, dass der Mensch sehr viel älter werden kann als die 120, 130 Jahre, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Selbst die unsterbliche Maus sei nicht in Sicht. Das heisst aber nicht, dass sie hier nicht auch voller Hoffnung sind. Schon die Kinder, die heute zur Welt kommen, könnten noch mit 120 Jahren auf Berge steigen, statt kaum noch aus dem Bett. Sie sollen länger leben, nicht nur länger atmen. Sie sollen altern wie Elfriede Bachmann.

Tot sein in der Heimat

Auf dem Bett im Gäste­zimmer blättert Elfriede Bachmann durch das rote Foto­album auf ihrem Schoss. Immer wieder zeigt sie auf Freunde und Verwandte. Der sei nicht mehr da, sagt sie, die auch nicht, und die zwar schon, aber sie sei auch zehn Jahre jünger. Dann schlägt sie um.

Ein Bild in den Bergen, 16 Männer und Frauen, Arm in Arm, nebeneinander und kniend davor, hinter den in den Schnee gesteckten Ski. «Von denen ist überhaupt keiner mehr da», flüstert sie und schüttelt den Kopf. Sie rutscht auf dem Stuhl hin und her und knetet sich die Finger. Dann zuckt sie mit den Schultern, presst die Lippen zusammen. «Ist halt einfach so, ist so, bleibt so.»

Den leichten Film auf den Augen verblinzelt sie schnell. «Vor allem, wenn man den verliert, mit dem man sein ganzes Leben teilt, ist das natürlich ganz schlimm», sagt sie, «aber es hat doch keinen Wert, dass ich mich krank mache wegen Sachen, die sowieso kommen und gehen.»

Wenn sie ihren Mann vermisse, sagt sie, gehe sie zum Foto im Wohnzimmer­schrank. «Ich beuge mich dann zu ihm und sage so etwas wie: ‹Könntest ja jetzt mitkommen in den Garten.›»

Sie kocht noch immer selber, putzt, geht einkaufen. Elfriede Bachmann lebt diszipliniert. Jos Schmid

Manchmal schimpfe sie auch mit ihm, wieso er sie zurück­gelassen habe, nach 73 Jahren Ehe. Doch so richtig gegangen sei er nicht. «Wenn ich Fernsehen schaue, habe ich das Gefühl, er sitzt noch dort, bis ich hinüberschaue. Auch wenn ich mich ins Bett lege, schwatze ich noch mit ihm und frage immer: ‹Weisst du …?› Und dann fällt mir auf: Ja, weisst du nicht mehr. Doch irgendwie ist er auch nicht ganz weg. Irgendwas ist in der Luft, niemand siehts, aber ich spüre es.»

Vor knapp zwei Jahren hat sie ihren Sohn für drei Wochen in Malaysia besucht und den Meer­blick von seiner Wohnung genossen. Sie ist allein geflogen. Die Polizisten, die ihren Ausweis kontrollierten, hätten ihr Alter nur bemerkt, wenn sie sie darauf hinwies. An ein paar Tagen musste sie ins Kranken­haus – zu Besuch. Nicht ihr ging es schlecht, sondern ihrem Sohn. Er hatte es am Rücken.

Noch einmal werde sie eine solche Reise nicht machen, sagte sie. Sie traue sich das zwar nach wie vor zu. Allerdings möchte sie ihrem Sohn die Umstände ersparen, sollte sie im Ausland sterben und er sie überführen lassen müssen. Tot sein möchte sie nämlich in der Heimat.

Ein Viertel der Hundert­jährigen sieht in ihrem Leben kaum mehr einen Sinn. Es hat ihnen zu viel oder zu viele genommen. Es ist ihnen kein Trost mehr, dass es noch schlimmer sein könnte.

Bachmann findet noch jede Menge Glück, obwohl das Alter ihr immer weniger übrig lässt. Und sie lässt sich nicht nehmen, was sie noch haben kann. Wenn sie mit der rechten Hand nicht mehr richtig schreiben kann, nimmt sie die linke. Wenn sie ihren Sohn nicht mehr besuchen kann, ruft sie ihn per Skype an. Wenn sie sich den Traum von einer Kreuz­fahrt auf dem Rhein mit ihrem Mann nicht mehr erfüllen kann, geht sie mit ihrem Sohn.

Ihr Sohn und seine Frau wollten keine Kinder. Bedauert hat Bachmann das nie. Stattdessen kümmerte sie sich gern um die beiden Töchter der Nachbarin. «Für sie bin ich die Omama», sagt sie mit leuchtenden Augen.

«Die Alten klagen immer, sie seien so einsam. Dabei tun sie nur nichts dagegen. Sie warten den ganzen Tag auf Besuch. Dabei könnten sie so leicht selbst losgehen.»

Bachmann ist das beste Beispiel dafür, dass Altern auch Gewinn sein kann.

Bachmann ist auch nach über 100 Jahren noch nicht müde. Nie sterben aber wolle sie nicht. «Es ist gut, dass das Leben ein Ende hat», sagt sie, «was sollen wir denn ewig auf der Welt?»

Wenn es für sie so weit ist, soll ihre Urne in einem Gemeinschafts­grab beigesetzt werden, nicht weit von ihrem Mann. Am liebsten hätte sie den Platz direkt neben ihm, aber der ist schon vergeben. «Nicht schlimm», sagt sie und zuckt mit den Schultern. Dann ist es halt so.

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