Antreten und durchzählen: Die Feuerwehrbrigade von Romerito de Souza Lima.

Wenn der Amazonas brennt, rufen sie Romeritos Brigade

Noch nie hat es in Amazonien so viel gebrannt wie in diesem Jahr. Mit altem Wissen und moderner Technik versuchen indigene Feuerwehr­leute den Regenwald zu retten. Eine Reportage von einem Brennpunkt des Klimawandels.

Von Niklas Franzen (Text) und Lucas Landau (Bilder), 30.03.2024

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Das Holz knistert noch, dünne Rauchfäden tanzen zum Himmel. Ein kleiner, schlanker Mann stapft aus dem Gestrüpp. Er zieht den Mundschutz nach unten, wischt sich über die verschwitzte Stirn. Das Feuer sei unter Kontrolle, sagt er, seine Leute würden die Lage aber noch beobachten.

Der Mann heisst Romerito de Souza Lima und er ist Feuerwehr­mann in Roraima, dem nördlichsten Bundes­staat Brasiliens, gleich an der Grenze zu Venezuela. Roraima – das bedeutet «grüner Berg» in der indigenen Sprache Pemón, aber das Grün ist seit einigen Jahren in Gefahr. Denn es toben Brände, die den Regenwald zu zerstören drohen.

Roraima ist einer der abgelegensten Winkel der Erde, doch hier wird das Schicksal unseres Planeten mit entschieden.

Von Menschen wie Romerito de Souza Lima, einem ruhigen Mann mit einer natürlichen Autorität und elf Männern und einer Frau, die alles tun, um den Regenwald zu schützen.

Die schwerste Dürre seit 120 Jahren

Drei Stunden vorher sitzt Lima in der Wache. Die gelbe Uniform passt dem 36-Jährigen, als hätte er nie etwas anderes getragen. Seit einem Jahr ist er Chef der Brigade. Was diese Feuerwehr von anderen unterscheidet: Sie besteht ausschliesslich aus Indigenen.

Lima gehört zum Volk der Wapichana, in seiner Einheit gibt es aber auch Macuxi. Ein anderes Volk, eine andere Sprache. Probleme habe es deswegen nie gegeben, sagt Lima.

Serra da Moça heisst das Gebiet, in dem die Feuerwehr­brigade unterwegs ist, «Gebirge des Mädchens». Es ist ein geschütztes Territorium, stolze 11’400 Hektaren gross, rund eine Autostunde entfernt von Boa Vista, der Hauptstadt des Bundesstaates. Eine Schotter­strasse führt vorbei an Lehmhütten mit Strohdächern, Palmen­hainen und verwaisten Dorfplätzen. Am Rande eines kleinen Waldstücks liegt die Wache. Feuerwehr­leute fläzen sich auf Holzbänken, suchen Schutz vor der Sonne. An einem Pfahl trocknen Fleischlappen, auf einem Bildschirm flimmert ein Actionfilm.

Lima blickt auf sein Smartphone. «Gerade wurde uns ein Feuer gemeldet, nicht weit von hier.»

Ein Pfiff ertönt. Im Schatten eines Baumes sammelt sich die Einheit. Elf Männer, eine Frau. In zwei Reihen stellen sie sich auf, stramm­gestanden, den Blick nach vorne gerichtet. Lima geht zum Kopf der Formation und ruft: «Durchzählen!»

Der Reihe nach antworten sie:

«Null Eins, Null Zwei, Null Drei», bis sie bei der «Zwölf» angelangt sind. Dann ruft Lima: «Wir sind?»

«Zwölf!»

«Brigade, was ist unsere Mission?»

«Vorbeugen und Waldbrände löschen!»

«Wegtreten!»

Nach einem kurzen Lagebericht fährt die Brigade los. Die Jeeps rollen über Buckelpisten und Felder, ockerfarbener Staub vernebelt die Frontscheibe. Statt durch dichten Regenwald geht es über eine Gras­landschaft, vorbei an mannshohen Termiten­hügeln und vereinzelten Baumgruppen. Die Gegend hat nur wenig mit dem Klischee von Amazonien zu tun.

Mit Staubbläsern gegen das Feuer: Limas Brigade im Einsatz.
Romerito de Souza Lima findet es ein Privileg, dass er für seine Gemeinde arbeiten kann.

Am Horizont lässt sich eine Bergkette erahnen. Lavrado heisst dieses Ökosystem, das einer Savanne gleicht. Es ist einzigartig in Brasilien. Auch das Klima unterscheidet sich vom Rest Amazoniens. Während es woanders Ende Januar wie aus Eimern schüttet, ist es hier staubtrocken.

In diesem Jahr ist es besonders heiss. Amazonien ächzt unter der schwersten Dürre seit 120 Jahren. Das lässt sich mit den Auswirkungen eines Phänomens erklären, das im Jargon El Niño – Southern Oscillation heisst. Dadurch ändern sich die Meeres­ströme und das Klima. Teile des östlichen Pazifiks werden wärmer, westliche Teile kühler. In manchen Regionen führt El Niño zu Starkregen, in anderen zu Dürren. Wie derzeit in Brasilien. 30 Prozent der landesweiten Brände konzentrieren sich in Roraima, dem am dünnsten besiedelten Bundesstaat. Das zeigen die Daten der brasilianischen Weltraum­behörde Inpe. Seit dem Beginn der Aufzeichnungen hat es hier noch nie so viel gebrannt. Die brasilianische Regierung hat den Notstand in vielen Gemeinden ausgerufen, Zeitungen titeln: «Land des Feuers».

Neben El Niño – einem natürlichen Wetterphänomen – lässt sich die Dürre aber auch mit der menschen­gemachten Klima­erwärmung erklären. Die Wahrscheinlichkeit von Hitzewellen ist um ein Vielfaches gestiegen. Im Februar fielen in Roraima nur 21 Prozent der erwarteten Regen­menge. Viele Flüsse, in denen Lima früher mit seinem Vater fischen ging, haben sich in mickrige Rinnsale verwandelt. Bäume werden zur leichten Beute für das Feuer. Im ganzen Bundesstaat qualmt es, verkohlte Felder strecken sich kilometer­weit durch die Landschaft. Eine apokalyptische Szenerie.

Nach 20 Minuten Autofahrt taucht ein kleines Waldstück auf. Von den Baumkronen zieht Rauch in den Himmel. Die Jeeps bremsen scharf, die Feuerwehr­leute springen raus. Sie laden Kettensägen und Staubbläser aus, befüllen sie mit Benzin, stülpen sich Sturmhauben über, setzen ihre Helme auf. Besonders wichtig sind die peneiras, Beinschützer gegen Schlangenbisse.

Es geht in den Wald. Die gelben Gestalten schwingen ihre Macheten, schlagen den Weg frei. Der Rauch wird stärker, es knackt im Unterholz. Dann gelangen sie zu einer Gruppe Bäume, die lichterloh brennen. Lima blickt auf die Flammen und runzelt die Stirn. «Das wird nicht einfach.»

Die Wurzeln seien trocken, sagt er, es brenne auch unter der Oberfläche. Solche unterirdischen Feuer bleiben oft unentdeckt und wüten dann tagelang.

Häufig machen Grossgrund­besitzer den Wald platt, um Platz für Viehweiden und Ackerflächen zu schaffen. Der schnellste Weg: Feuer legen.

Die Brandrodungen erfolgen meist auf privatem Land, von dort zieht das Feuer weiter in indigene Territorien, staatliche Wälder und Naturschutz­gebiete. Auch einige Kleinbauern und Indigene brennen nach der Ernte ihre Stoppelfelder ab, damit Gras für ihre Rinder nachwächst. Andere verbrennen Müll oder veranstalten Grillpartys – gefährlich, gerade in der Trockenzeit. Durch Brände und Abholzung sind in den letzten 30 Jahren alleine im Amazonas-Gebiet 600’000 Quadrat­kilometer Wald vernichtet worden, eine Fläche fast doppelt so gross wie Deutschland. Studien zeigen: Bis 2050 könnte mehr als die Hälfte des Waldes verschwunden sein.

Wie Bolsonaro den Umweltschutz lockerte

Inzwischen haben sich Limas Kollegen Staubbläser umgeschnallt. Sie pusten das Feuer in eine Richtung. So wollen sie verhindern, dass sich die Flammen weiter ausbreiten. Mit Kettensägen fällen sie Bäume, schleudern die Äste in die Flammen. Der Lärm ist ohrenbetäubend.

«Das Feuer kommt von dort drüben», brüllt Lima und zeigt ins Dickicht.

«Sie fällen Bäume, legen Feuer.» Josias Manuel da Silva von der staatlichen Indigenen­behörde Funai kämpft gegen Übergriffe von weissen Bauern und Goldgräbern.

Irgendwo dahinter verläuft die Grenze. Dort endet das indigene Land, dort beginnen die Ländereien der fazendeiros. Privates Land, im Besitz von Grossgrund­besitzern. Besonders häufig pflanzen sie Soja auf solchen Flächen an. Die kleine Bohne verspricht grosse Gewinne: 2023 exportierte Brasilien 100 Millionen Tonnen Soja ins Ausland. Ein Rekordjahr, wieder einmal.

Noch vor wenigen Jahren gab es in Roraima kaum Weideland. Zu abgelegen, zu viele Schutzgebiete. Doch dann kam 2018 Jair Bolsonaro an die Macht. Als Präsident legte er umgehend die Axt an: Er lockerte Umwelt­auflagen, stoppte die Überwachung illegaler Aktivitäten, liess Tausende Glücksritter in die Region ziehen, die hofften, ein Stück Land zu ergattern und damit das schnelle Geld zu machen. An allen Ecken und Enden Amazoniens gab es Konflikte. Und es brannte so häufig wie nie zuvor.

Für kurze Zeit schien es, als würde sich die Welt­gemeinschaft dafür interessieren. Fotos von brennenden Bäumen landeten auf den Titelseiten internationaler Zeitungen, Prominente posteten rührselige Statements, und auf Klimaprotesten waren plötzlich Anti-Bolsonaro-Poster zu sehen.

Doch das Interesse klang schnell ab.

Mit Luiz Inácio Lula da Silva regiert seit 2023 wieder ein Mann, der sich Umweltschutz zumindest auf die Fahnen schreibt. Innerhalb einiger Monate ging die Abholzung tatsächlich stark zurück. Aber der Sozialdemokrat Lula ist für seinen Pragmatismus bekannt, auch er sucht die Nähe zum Agrobusiness. Der Kahlschlag Amazoniens bleibt ein grosses Geschäft, und der Landwirtschafts­sektor hat weiterhin viel Einfluss.

«Ein bisschen» besser sei es schon, sagt Lima zum neuen Präsidenten. Aber alleine auf die Regierung wollen sie sich in der Serra da Moça nicht verlassen.

An diesem Tag gelingt es, das Feuer einzukreisen. Von der Ladefläche eines Jeeps wird ein Schlauch weitergereicht, ein Motor rattert. Im Tank: tausend Liter Wasser. Als der Strahl auf die Flammen trifft, verdampft das Wasser zunächst, doch langsam gibt das Feuer nach. Lima ist zufrieden mit dem Einsatz. Dass er und seine Brigade so professionell arbeiten würden, hätte er sich noch vor einigen Jahren nicht vorstellen können.

Eine verrückte Idee

Es war im Jahr 2015, als die Mitarbeiter der Umweltbehörde Ibama in sein Dorf kamen. Sie erzählten von einem neuen Projekt, Prevfogo, eine Abkürzung für «Feuer verhindern». «Am Anfang waren wir misstrauisch», sagt Lima. Die Skepsis gegenüber Fremden ist gross, die Wapichana gelten als zurückhaltend. Das hat mit der brutalen Geschichte zu tun. Aber auch mit vielen Versprechen, auf die viele Enttäuschungen folgten. Wenn die Weissen kommen, dann verbinden das viele Indigene mit Krankheit, Gewalt oder Alkohol.

«Warum sollte es dieses Mal anders sein?», dachte Lima damals.

Nach dem Einsatz: Die Feuerwehrleute erholen sich auf ihrer Basis.

Die verrückte Idee dieser Behörden­menschen: Sie wollten eine indigene Feuerwehr­einheit gründen. Alle könnten sich bewerben, erklärten sie. Sie würden den Bau einer Wache finanzieren, einen Lohn zahlen. Aber niemand bewarb sich. Doch dann brannte es häufiger. Lima sah, wie Nachbarn ihre Häuser in den Flammen verloren, Tiere verendeten, Obstbäume verkohlten. Und so schickte er eines Tages doch eine Bewerbung ab – und bekam den Job. Andere folgten ihm, bis irgendwann eine Brigade stand.

Am Anfang seien viele Dinge ungewohnt gewesen. Die Uniformen, der militärische Drill, die klaren Befehle. «Wir sind diese Hierarchien nicht gewohnt», sagt Lima. «Aber wir haben uns damit arrangiert. Heute sehen wir die Ergebnisse.»

In der Serra da Moça gibt es vier Einheiten, insgesamt sind es 33 Feuerwehr­leute. Sie arbeiten im Schichtbetrieb, rund um die Uhr. Denn das Feuer kennt keine Pausen.

Es sei ein Privileg, für seine Gemeinde zu arbeiten, sagt Lima heute. Die Zusammenarbeit mit der Umweltbehörde Ibama laufe gut, auch der Lohn helfe seiner Familie. Wahrscheinlich am wichtigsten: Seine Kinder seien stolz auf ihren Vater und träumten davon, irgendwann selbst als Feuerwehr­leute zu arbeiten.

Was heute in Amazonien als schier übermächtiger Gegner erscheint, war nicht immer ein Problem. Waldbrände waren in der Geschichte der Region selten. Doch mit dem Menschen kamen die Feuer. Gerade an den Rändern des Regenwaldes brennt es heute besonders häufig. In Gebieten wie der Serra da Moça. Von dort aus fressen sich die Feuer schleichend in die grössten Biotope der Welt vor.

Nur wenige Naturwunder faszinieren so sehr wie der Amazonas-Regenwald. Das liegt auch daran, dass die Region häufig als unberührtes Paradies beschrieben wird. Dabei war Amazonien nie ein «Land ohne Menschen», wie es die brasilianische Militär­diktatur in den 1970er-Jahren gerne darstellte. Als im Jahr 1542 ein spanischer Zweimaster zum ersten Mal auf dem Amazonas gegen Osten schipperte, lebten rund zehn Millionen Menschen in der Region.

Es waren Indigene, die hauptsächlich Landwirtschaft betrieben und sich den natürlichen Kreislauf der steigenden und sinkenden Flüsse zunutze machten. Die Kolonisatoren betrachteten sie als minderwertig, Aufstände schlugen sie brutal nieder. Millionen Indigene wurden versklavt, vergewaltigt und ermordet. Ganze Völker starben durch eingeschleppte Krankheiten. Die weitgehende Vernichtung der indigenen Bevölkerung ist eines der dunkelsten Kapitel der brasilianischen Geschichte.

Nachdem ihre Zahl in den 1950er-Jahren auf gerade noch 70’000 geschrumpft war, leben heute wieder 1,7 Millionen Indigene in Brasilien. Ihrer Resilienz und den Weiten des Waldes haben sie es zu verdanken, dass sie in den letzten Jahrhunderten ihrer Auslöschung trotzen konnten. Heute fordern viele Indigene selbstbewusst ihre Rechte ein. Zu Tausenden marschieren sie durch die Städte, vernetzen sich im Internet, sitzen in Parlamenten und Ausschüssen.

Im Gebiet der Yanomami

Ein schweres Holztor markiert die Grenze, jemand hat ein Schild daran genagelt. In roten Lettern steht darauf: «Geschütztes Gebiet». Hier beginnt das Land der Yanomami. Ihr Territorium in Brasilien ist doppelt so gross wie die Schweiz, auf Luft­aufnahmen gleicht es einem dunkelgrünen Fleck. Hier ist der Wald noch dicht, Amazonien wie im Katalog. Es ist eines der bekanntesten indigenen Territorien Brasiliens, derzeit fast täglich in den Nachrichten. Wegen gewaltsamer Konflikte mit Goldgräbern, wegen einer Hunger­katastrophe. Die Bilder von völlig abgemagerten indigenen Kindern gingen um die Welt. Minister liessen sich in das Gebiet einfliegen, Präsident Lula versprach Hilfe.

Josias Manuel da Silva marschiert einen Hügel hoch. Von hier hat man eine gute Aussicht, meterhohe Bäume, so weit das Auge reicht. Zikaden zirpen, Papageien kreischen, Brüllaffen rufen sich Liebes­bekundungen zu. Der Sound des Regenwaldes.

Tausend Liter Wasser im Tank: Die Brigada rückt gegen das Feuer vor.

Da Silva ist 34, stämmig gebaut, ein Skorpion-Tattoo ziert seine Hand. Er gehört zum Volk der Wai-Wai. Die leben weiter im Süden. Silva ist hier, weil er bei der Funai arbeitet, der staatlichen Indigenen­behörde. Sie kümmert sich um die Rechte der indigenen Bevölkerung, sie erteilt Zutritt zu Gemeinden, zum Beispiel zum Gebiet der Yanomami.

«Hier wird die neue Wache stehen», sagt da Silva und zeigt auf den kahlen Hang. Es sei ein guter Ort, direkt an der Strasse gelegen, in der Nähe des Flusses. Früher stand hier mal eine Farm, einen Brunnen gibt es noch.

Da Silva pflückt eine Mango vom Baum, zieht die Schale ab und lutscht am Fruchtfleisch. Neben da Silva laufen Feuerwehr­leute in ihren knallgelben Uniformen. Sie sind heute hier, um das Gelände zu begutachten. An dieser Stelle soll schon bald die erste indigene Feuerwehr im Land der Yanomami entstehen. 15 Feuerwehr­leute sind bereits angestellt, die meisten kommen von ausserhalb. Vor ein paar Wochen fand ein Training statt.

Da Silva steigt ins Auto und fährt los. Am Rand der Schotter­strasse stehen kleine Baracken, in denen indigene Familien leben. Die Älteren räkeln sich in Hängematten, die Kinder gucken neugierig den Autos hinterher. Hier kommt nur selten jemand vorbei.

Am Rand eines Feldes zeigt da Silva in hüfthohes Gras. Dort drüben, sagt er, sei ein Dorfbewohner von einem Jaguar getötet worden. Niemals, sagt er und lacht, wirklich niemals würde er hier zu Fuss gehen.

Wenig später bremsen die Autos plötzlich ab, ein Baum liegt quer auf der Strasse, versperrt den Weg. Ein kurzer Fussmarsch führt zum Flussufer, wo ein Capivara, ein Wasserschwein, vorbeihoppelt und riesige Fische aus dem Wasser glotzen.

«Deshalb», sagt da Silva und lässt seinen Arm pastoral kreisen, «müssen wir die Zerstörung aufhalten.»

Unter normalen Bedingungen sind Regenwälder feucht genug, um grössere Brände zu verhindern. Doch was ist heute schon normal? In letzter Zeit hätten die Feuer immer häufiger von den Randgebieten in den Regenwald übergegriffen, sagt da Silva. In der Region haben sich viele napos breitgemacht. So werden die Weissen in der Sprache der Yanomami genannt. Viehbauern, Holzfäller, Goldgräber. «Sie fällen Bäume, legen Feuer», schimpft da Silva.

Das Gebiet ist eigentlich streng geschützt. Die brasilianische Verfassung spricht der indigenen Bevölkerung das Recht auf Land und Autonomie zu. Wer es ohne Erlaubnis betritt, macht sich strafbar. Die Regierung von Lula greift viel härter durch als die von Vorgänger Bolsonaro, sie hat Tausende Eindringlinge vertrieben. Doch die schiere Grösse und die Dichte des Waldes machen Kontrollen schwer.

Die Amazonas-Region hat erheblichen Einfluss auf das globale Klima, weil sie riesige Mengen an Kohlenstoff speichert. Für das Klima und die Erhaltung des Amazonas-Regenwaldes ist ein Feuchtigkeits­austausch über Niederschlag und Verdunstung fundamental. Abholzungen und Brände könnten diesen Austausch nachhaltig schädigen. Das ganze Ökosystem droht aus den Fugen zu geraten. Ein Zusammenbruch des komplexen Feuchtigkeits­systems würde in weiten Teilen Südamerikas zu einem erheblichen Rückgang der Niederschläge führen. Denn der Regenwald prägt den Wasser­haushalt der ganzen Region. Ausserdem sind viele Tiere nicht an Feuer angepasst, einige Arten drohen komplett zu verschwinden. Doch die Hoffnung könnte in Gebieten wie der Serra da Moça liegen.

Mit dem Vertrauen der «tuxauas»

Romerito de Souza Limas Brigade macht sich zurück auf den Weg zur Wache. Die Feuerwehr­leute sammeln sich unter einem Vordach, beten, dann gibt es Mittagessen: Reis, Bohnen, Maniokmehl und Hühnchen.

Ein kleiner Mann mit Sonnenbrille sitzt zwischen den Feuerwehr­leuten. Er heisst Davi Menezes, 34, seit 2014 arbeitet er für die Umweltbehörde Ibama. Er ist ein Koordinator von Prevfogo, dem Programm des Umwelt­ministeriums. Und er ist auch so etwas wie ein Vermittler zwischen dem brasilianischen Staat und den Indigenen. Und oft auch zwischen zwei völlig unterschiedlichen Perspektiven.

Als er das erste Mal eine indigene Gemeinde betrat, sei das Misstrauen gross gewesen. Kaum jemand habe mit ihm gesprochen, er habe die Blicke gespürt: Was will der denn hier?

Doch dann stellte Menezes seine Arbeit vor. Er gewann das Vertrauen der tuxauas, der Häuptlinge. Tuxauas vertreten die Gemeinden, lösen Konflikte, halten Kontakt nach aussen. «Wenn sie dir einmal vertrauen, werden sie dir in jeder Situation helfen», sagt Menezes. Menezes erklärt den Ansatz seiner Behörde so: Man wolle nichts auferlegen. Alle Ziele gemeinsam erarbeiten. Voneinander lernen. Kurz: einen Austausch. Auch persönlich habe ihn die Arbeit mit den Indigenen geprägt: «Ich habe gelernt, gemeinschaftlicher zu denken, mich zu öffnen.» In ganz Brasilien gibt es heute indigene Feuerwehr­brigaden, unterstützt vom brasilianischen Staat. Die Feuerwehr­leute werden meist für sechs Monate angestellt, in der kritischen Phase. Sie machen eine Ausbildung, bekommen einen Lohn.

Zunächst waren sie misstrauisch. Aber als es dann immer öfter brannte, machten die Indigenen beim staatlichen Präventionsprogramm Prevfogo mit.
Weites Land: Im Gebiet der Yanomami.

Bis 2015 hiess die Strategie des Programms fogo zero, null Feuer. Das bedeutete: jeden Brandherd vermeiden. Doch es brannte von Jahr zu Jahr mehr. Und so studierten sie, wie anderswo Feuer bekämpft werden. In Afrika, in Nordamerika. Und sie sprachen mit den Dorfältesten der indigenen Gemeinden. Die Alten erzählten ihnen, dass sie am Anfang der Regenzeit systematisch Feuer legten und Brandlinien zogen. So verhinderten sie, dass die Feuer in der Trockenzeit ausser Kontrolle gerieten. Auch Limas Grosseltern machten das so.

«Sie wussten, wann sie Feuer legen mussten. Sie wussten, wo sie Feuer legen mussten», sagt Lima. Unkontrollierte Brände habe es nicht gegeben.

Lima koordinierte für einige Jahre die manejos, die kontrollierten Feuer. «Auf diese Weise konnten wir viele Gebiete retten.» Die Ergebnisse lassen sich sehen: Auch wenn es in diesem Jahr viel brennt, ist es in der Serra da Moça nicht so schlimm wie anderswo.

Neben uralten Traditionen setzen sie auch auf neueste Technologien. Mit Satelliten­bildern analysieren sie Brände, in einigen Gemeinden gibt es Lösch­flugzeuge, in Limas Büro steht ein Computer. Wichtig für ihn: Es gehe nicht nur darum, Brände zu löschen. Sie wollen aufklären, mit der gesamten Gemeinde arbeiten. Regelmässig kommen Schulklassen vorbei, es gibt Seminare für die Nachbarn, Aufforstungs­projekte. Hinter der Wache steht ein Biogarten, dahinter erstreckt sich ein kleines Waldstück. Jeder neue Feuerwehr­mann pflanzt einen Baum. «So wissen seine Kinder und Enkel, dass er Teil der Brigade war», sagt Lima.

Am Nachmittag steht die Sonne tief, die Hitze ist trotzdem brutal. Limas Smartphone blinkt auf. Ein Feuer. Wieder geht es ganz schnell. Die Autos werden beladen, Uniformen angelegt, Motoren jaulen auf. In einer Staubwolke verschwinden die Jeeps. Lima und seine Brigade fahren los zum nächsten Einsatz.

Zum Autor

Niklas Franzen ist Journalist und hat 2022 das Buch «Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte» veröffentlicht.

Zum Fotografen

Lucas Landau aus Rio de Janeiro dokumentiert als selbstständiger Fotograf das Leben in Brasilien.

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