Pfister

Konkordanz und Kollegialität sind unter Druck

Dass Bundesräte jederzeit zurücktreten können, nützt nur den Parteien, nicht dem Land. Es gäbe ein besseres System.

Von Gerhard Pfister, 26.03.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Der ehemalige Bundesrat Adolf Ogi wurde während des Abstimmungs­kampfs um die 13. AHV-Rente schmerzhaft mit der Realität konfrontiert. Weil er einen Brief an ältere Menschen mitunterzeichnete, in dem er die Volksinitiative als «brandgefährlich» bezeichnete, bekam er ziemlich viel unerfreuliche Post.

Ogi war empört: Es gehe nicht an, dass man Alt-Bundesräte derart diffamiere, sagte er in den Medien. Auch sie seien Menschen mit Rechten und Pflichten. Zweifellos ist ihm diesbezüglich zuzustimmen. Warum er aber nur Alt-Bundesräten das Recht zugestehen wollte, nicht diffamiert zu werden, bleibt sein Geheimnis. Er glaubt offenbar, (ehemaligen) Mitgliedern des Bundesrats stünden besondere Privilegien zu. Wie kommt er zu dieser Haltung?

Die Antwort auf die Frage hat weniger mit der Person Adolf Ogi zu tun. Immerhin hatte er nach der Abstimmung die Grösse einzugestehen, dass mindestens die Wortwahl des offenen Briefes inadäquat war, und entschuldigte sich. Die Antwort hat vielmehr erstens mit institutionellen und zweitens mit faktischen Rahmen­bedingungen zu tun, innerhalb derer die Schweizer Regierung agiert.

Denn der Bundesrat steht über den Parteien, über den Niederungen der harten Auseinandersetzungen in Abstimmungs­kämpfen. Ob in der Arena, in den Medien oder auch im Parlament: Mitglieder des Bundesrats werden geschont. Staats­politisch streng genommen, dürften sie gar keine Abstimmungs­vorlagen vertreten. Denn die Gesetze und Initiativen sind Beschlüsse der Bundes­versammlung, nicht des Bundesrats. Der Bundesrat macht Vorschläge, die abschliessende Entscheidung liegt beim Parlament. Dennoch werden Mitglieder des Bundesrats von den Parteien und den Komitees sehr gerne eingesetzt in Abstimmungs­kämpfen. Denn der Bundesrat hat den Status der Überparteilichkeit, fast schon der Neutralität, ganz sicher aber wird er als glaubwürdiger wahrgenommen als die Mitglieder des Parlaments oder die Vertretungen von Verbänden.

Diese Überparteilichkeit ist institutionell durchaus gewollt. Sie ist die Folge der Konkordanz und der Kollegialität. Die Konkordanz verlangt die Repräsentanz der wichtigsten Parteien in der Regierung gemäss ihrer Wähler­stärke. Die Kollegialität verlangt die Bereitschaft der Mitglieder der konkordant gebildeten Regierung zusammen­zuarbeiten und die Beschlüsse gemeinsam und einheitlich nach aussen zu vertreten – auch und gerade dann, wenn ein Mitglied eine andere Meinung hat. Diese Einbindungs- und Konsens­mechanismen führen zu breit abgestützten Entscheiden, die anschliessend in der Beratung im Parlament und in Volks­abstimmungen Bestand haben können.

Deshalb ist die Kritik aus der Bevölkerung verständlich. Indem sich die ehemaligen Mitglieder des Bundesrats mit ihrem Brief klar positionierten, in einer ohnehin schon sehr emotionalen Debatte, wurden sie nicht mehr als überparteilich wahrgenommen, sondern als blosse Abstimmungs­kämpfer für die eine Seite. Ogi vergass, dass er, wenn er sich in die Arena der politischen Auseinandersetzung begibt, auch den Staub in Kauf nehmen muss, den er damit aufwirbelt.

Aber Konkordanz und Kollegialität sind unter Druck. Einerseits von der SVP, die als stärkste Partei zwar numerisch legitimen Anspruch auf zwei Sitze hat. Aber die sich so verhält, als sei sie nicht stärkste Regierungs­partei, sondern Opposition. Und die ihre Bundesräte gerne nur noch als «halbe» bezeichnet, wenn sie von der Parteilinie abweichen. Andererseits ist die Konkordanz unter Druck, weil die Wahl­resultate von 2019 und 2023 den Anspruch der FDP auf zwei Sitze nicht mehr ausreichend legitimieren.

Wir haben uns angewöhnt, dass wir dem Bundesrat Privilegien zugestehen, die man heute zumindest hinterfragen kann. Dass er gratis in der ganzen Schweiz Ski- oder Snowboard fahren darf, ist eines. Dass dieses Privileg, nachdem die Berg­bahnen es nicht mehr bezahlen dürfen, einfach die Steuer­zahlerinnen übernehmen sollen, hat der Bundesrat sehr schnell entschieden. Ein Zeichen besonderer Volks­nähe ist das nicht. Man mag diese Kritik kleinlich finden. Aber in der direkten Demokratie ist es auch die Summe von Kleinigkeiten, die das Vertrauen in die Politik stärkt oder schwächt.

Ein weiteres Privileg, das wie aus der Zeit gefallen scheint: Bundes­rätinnen können jederzeit, ohne Rücksprache, zurücktreten. Sie werden zwar bei den Gesamterneuerungs­wahlen für eine ganze Legislatur gewählt, aber sie sind nicht verpflichtet, das Amt auch vier Jahre auszuüben. Im Gegenteil: Ihre Rücktritte sind öfter so geplant, dass sie ihren Parteien den Erhalt des Sitzes ermöglichen. Wohlverstanden: Ein Rücktritt aus persönlichen oder gesundheitlichen Gründen wie der von Bundesrätin Simonetta Sommaruga muss weiterhin legitim sein. Aber ist es staats­politisch sinnvoll, dass Mitglieder des Bundesrats grundsätzlich frei sind zu entscheiden, wie lange sie ihr Amt ausüben wollen und zu welchem Zeitpunkt sie zurücktreten?

Die Bundes­versammlung ist schon länger dazu übergegangen, sich bei Bundesrats­wahlen streng an die «Tickets» der vorschlagenden Fraktionen zu halten. Die SVP hat nach der Nicht­wiederwahl Christoph Blochers sehr hohe Hürden beschlossen, sodass ein Partei­ausschluss droht, wenn eine Kandidatin gewählt wird, die nicht offiziell von der Fraktion vorgeschlagen wurde. Die anderen Fraktionen sind dazu übergegangen, diese Praxis zu respektieren, aus Angst, dass bei der Wahl für ihre Sitze nicht offizielle Kandidaten gewählt würden. Meines Erachtens spricht nicht mehr viel dafür.

(Wer sich fragt, ob es denn nicht eher darauf ankomme, ob eine Kandidatin für das Amt fähig sei, dem sei gesagt, dass es eher als selbstverständlich gilt, dass Kandidatinnen die Fähigkeiten für das Amt vorweisen. Genauer überprüfen will oder kann das die Bundes­versammlung nicht. Die dominierende Frage bei Bundesrats­wahlen lautet: «Wer will?», und nicht: «Wer kanns?».)

Sinnvoll wäre deshalb eine Amtszeit­beschränkung auf acht Jahre, wenn gleichzeitig ein Rücktritt nur aus wichtigsten persönlichen, familiären oder gesundheitlichen Gründen möglich wäre. Gesamterneuerungs­wahlen hätten dann auch echte Folgen, was die Zauber­formel angeht: Bei einer Amtszeit­beschränkung auf acht Jahre wäre gewährleistet, dass in der Regel mehrere Bundesrats­sitze gleichzeitig neu zu besetzen wären. Damit wäre es eher denkbar, dass eine Mehrheit der Bundes­versammlung die Sitze gemäss dem Wahl­resultat verteilen würde, und weniger wahrscheinlich, dass eine Partei trotz ungenügender Wählerinnen­stärke ihre Sitze behalten könnte.

Was spricht gegen eine Amtszeit­beschränkung und ein Rücktrittsverbot während der Legislatur? Das erste übliche Gegenargument ist das «lame duck»-Phänomen: Man nimmt an, dass ein Regierungs­mitglied, dessen Amtszeit zu Ende geht, nicht mehr genügend politische Kraft hat, um wichtige Reformen oder grosse Projekte durchzusetzen.

Ich halte dieses Argument in der Schweiz nicht für plausibel. Wir kennen keine Regierungs- und Oppositionsdichotomie und entsprechende Wechsel dieser Konstellation nach Wahlen. Sondern wir haben eine konkordante Regierung, die Projekte über Jahre begleitet, in zwei Räten vorbereitet und durchbringt und anschliessend gegebenenfalls in Volks­abstimmungen vertreten muss. Das heisst: Jedes Mitglied des Bundesrats hat Projekte, die in verschiedenen Stadien sind, begleitet von der Verwaltung, und dieser Strom hört nie auf, regelmässig und ruhig dahinzufliessen.

Ein Beispiel: Die neue Vorsteherin des Innen­departements, Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, musste in den ersten Abstimmungen dieses Jahres Vorlagen vertreten, die vollständig von ihrem Departements­vorgänger Alain Berset begleitet und im Parlament vertreten worden waren. Doch das hatte meines Erachtens kaum Einfluss auf die Abstimmungs­resultate. Sie übernahm das Dossier, vertrat die Position des Bundesrats, und die Tatsache, dass sie erst seit dem 1. Januar 2024 diese Aufgabe innehatte, spielte keine Rolle.

Das zweite Gegen­argument könnte lauten: Zu viele Mitglieder des Bundesrats müssten gleichzeitig ersetzt werden, und damit wäre die Kontinuität gefährdet. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Disruption einer angeblichen Kontinuität ja bereits jetzt von den Bundesrats­mitgliedern verursacht wird: Departements­rochaden sind je nach Interesse, Macht­anspruch und persönlicher Befindlichkeit offenbar kein Problem – weder für die Regierung noch das Parlament, noch die Öffentlichkeit, egal wie kurz jemand nur im Verteidigungs­departement ausharren wollte. Zudem sind praktisch alle neu gewählten Mitglieder des Bundesrats entweder ehemalige oder aktive Parlaments- oder Regierungsrats­mitglieder, was ihnen die Einarbeitung ins neue Amt einfacher macht.

Das dritte Gegenargument ist eines, das mit der Wahrnehmung des Bundesrats als eine Art Ersatz­monarchie zu tun hat: Das Amt sei derart kräftezehrend, ein derartig belastender Dienst am Vaterland, dass es geboten erscheine, diesen Heroinnen des Landes­wohls das Privileg des selbst­bestimmten Rücktritts zuzugestehen.

Diese Auffassung ist naiv. Im Gegenteil: Vor der Wahl in den Bundesrat versprechen alle Kandidaten, das Landeswohl im Auge zu behalten. Was für die Wahl gilt, sollte auch für das Ende der Amtszeit gelten.

Wenn wir die Konkordanz erhalten wollen, dann müssen wir der Entwicklung Rechnung tragen, dass sich seit der Einführung der Zauber­formel die Parteien­landschaft pluralisiert hat. Das Ziel der Zauber­formel, die Abbildung der realen Kräfte­verhältnisse, ist gegenwärtig nicht erreicht. SVP und FDP haben eine Mehrheit im Bundes­rat. Sie haben diese Mehrheit weder beim Volk (gemessen an den Wähler­anteilen) noch in der Bundes­versammlung (gemessen an Sitzen in National- und Ständerat).

Wahlen sollten Folgen haben. In der Schweiz wählt nicht das Volk die Regierung, sondern das Parlament. Wenn das Parlament die Resultate der Wahlen nicht umsetzt, weil die Parteien an ihren Macht­ansprüchen festhalten, führt das zu einer grösseren Distanz zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung.

Wäre die maximale Amtszeit für den Bundes­rat jetzt in Kraft, verbunden mit der Regelung, dass niemand während der Legislatur zurücktreten darf, würden nach den Wahlen 2027 vier Sitze im Bundesrat frei. Ausreichend, um der Bundes­versammlung die Möglichkeit zu geben, die Regierung wieder konkordant zusammenzusetzen, und die Kräfte­verhältnisse unter den Parteien im Bundesrat genauer abzubilden, als es jetzt der Fall ist. Wir sollten es jetzt angehen.

Illustration: Alex Solman

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