2021 gab es in Gaza Wassermelonen in Hülle und Fülle. Heute herrscht dort Hunger, und die Melone ist öfter als Symbol für den palästinensischen Widerstand bei Demonstrationen zu sehen. Peter van Agtmael/Magnum Photos

Der Weg in die Katastrophe

Zwei neue Bücher beleuchten die Vorgeschichte des 7. Oktobers.

Von René Wildangel, 21.03.2024

Vorgelesen von Egon Fässler
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Bücher sind ein langsames Medium. Aber gerade das ist auch ihre Stärke: Sie können helfen, die historischen Gründe hinter den aktuellen Ereignissen besser und genauer zu verstehen. Der brutale Terror­anschlag der Hamas, die Ermordung und Entführung Hunderter Zivilisten im Süden Israels, ist gerade einmal fünf Monate her. Und der israelische Militär­einsatz gegen die Hamas dauert noch an. Er hat mittlerweile verheerende Opfer unter der Zivil­bevölkerung, weitreichende Zerstörungen der zivilen Strukturen und eine humanitäre Katastrophe im Gazastreifen hervorgerufen.

Soeben sind zwei Bücher von Historikern erschienen, die schon vielfach zum Nahost­konflikt publiziert haben und nun die Vorgeschichte des 7. Oktobers beleuchten.

Der eine, Moshe Zimmermann, ist ehemaliger Leiter des Koebner-Zentrums für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Mit seinem Buch unter dem Titel «Niemals Frieden?» konzentriert er sich auf die jüngere israelische Vergangenheit. Der andere, Joseph Croitoru, freier Journalist und Nahost­kenner, stellt die Hamas ins Zentrum und schildert zugleich die Entwicklung der palästinensischen Politik der letzten Jahrzehnte.

Beide Bücher ergänzen sich gerade durch ihre Unterschiede hervorragend, um die Ereignisse des 7. Oktobers und vor allem deren Vorgeschichte zu verstehen.

Die Hamas und der 7. Oktober

Joseph Croitorus Buch «Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel» ist die Fortsetzung seines 2007 erstmals erschienenen Grundlagen­werkes. Abgesehen von den ganz aktuellen Geschehnissen, denen Croitoru am Ende seiner Darstellung zwei Kapitel einräumt, beschreibt seine sachliche und verdichtete Darstellung die Entwicklung der Hamas vor dem 7. Oktober.

Zum Autor

René Wildangel, 1973 in Rheinbach geboren, ist Historiker, Dozent und freier Journalist. Er hat in Köln Geschichte, Germanistik und Politik­wissenschaften studiert und spricht dank längeren Aufenthalten in Jerusalem und Damaskus auch Hebräisch und Arabisch. Er veröffentlicht seit vielen Jahren zum Schwerpunkt­thema Naher Osten. Er war unter anderem tätig im deutschen Auswärtigen Amt, im Bundestag, bei Amnesty International und von 2011 bis 2015 als Büroleiter des Palästina/Jordanien-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah im Westjordanland. Seit 2021 lebt er als freier Autor mit seiner Familie in der griechischen Stadt Thessaloniki und unterrichtet an der International Hellenic University.

Sein Buch beginnt mit einer kurzen Geschichte des Gazastreifens, die nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948 vor allem durch die fast 200’000 Palästinenser bestimmt wurde, die dorthin flohen oder vertrieben wurden. Es folgten fast zwei Jahrzehnte ägyptischer Besatzung, mit einer wenig bekannten Unterbrechung während der Suezkrise 1956/57. Croitoru beschreibt bereits damals existente israelische Planungen, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen und Siedlungen zu errichten.

In dieser Zeit von Israel erhobene Daten kamen den israelischen Besatzungs­behörden ab 1967 nach dem Sieg im sogenannten «Sechs­tage­krieg» zugute. Damalige von Croitoru beschriebene israelische Debatten darüber, die stark gewachsene Bevölkerung zu verringern und Palästinenserinnen aus Gaza zur Ausreise zu bewegen, erinnern in fataler Weise an heute: So nahmen israelische Kabinetts­mitglieder im Januar 2024 an einer Konferenz der extremen Rechten teil, in der zur «Abwanderung» von Palästinensern aufgerufen wurde. Doch Croitoru verzichtet in der historischen Darstellung auf derartige aktuelle Vergleiche, er versucht die Vorgeschichte des 7. Oktobers nie deterministisch erscheinen zu lassen – auch wenn viele historische Entwicklungen durch die jüngsten Ereignisse zwangsläufig in neuem Licht erscheinen.

Croitoru will als Chronist vor allem detaillierte Informationen liefern, analysieren, aber nicht unbedingt werten. Das gelingt ihm hervorragend.

Moshe Zimmermann nimmt eine andere Sprech­position ein. Wenige seiner zahlreichen Bücher sind so verdichtet und auch persönlich wie dieses.

Das beginnt bereits in der Widmung mit einem abgewandelten Heine-Zitat: «Denk ich an meine Enkel in der Nacht …». Dem «Stern» sagte Zimmermann: «Wenn ich an die Zukunft meiner Enkel denke, wird mir schlecht.» Warum, das wird in den 14 Kapiteln von «Niemals Frieden? Israel am Scheideweg» beschrieben.

Zimmermann geht es in seinem Buch vor allem darum, die jüngere israelische Geschichte zu analysieren, um so die Ereignisse des 7. Oktobers zu kontextualisieren. Denn dass der 7. Oktober nicht «im luftleeren Raum» stattgefunden habe – für diese Bemerkung erntete der Uno-Generalsekretär António Guterres einen Shitstorm –, ist für Zimmermann als Historiker eine Banalität. Allerdings macht er klar, dass aus «Kontext» nicht Relativierung oder Verharmlosung werden dürfe: ein Effekt, den Zimmermann bei vielen Linken nach dem 7. Oktober beobachtet und dessen Verbreitung er unterschätzt habe.

Zimmermann nimmt für seine Darstellung eine Perspektive ein, die er «konstruktiven Pessimismus» nennt. So gelte es, den «Weg in die Katastrophe zu beschreiben und ihre Vorgeschichte» zu verstehen, «um einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma skizzieren zu können».

Croitoru hingegen verzichtet auf die Formulierung derartiger Absichten, auch wenn sein Buch implizit ebenfalls wichtige Erkenntnisse für eine mögliche Friedens­lösung enthält.

Recht kurz handelt er zu Beginn die weiter zurückliegende Geschichte der Muslim­brüder in Ägypten ab, aus der die Hamas als palästinensischer Ableger hervorging (wer hierzu Genaueres wissen möchte, möge zu Gudrun Krämers 2022 erschienener Biografie von Hasan al-Banna greifen, dem Gründer der Muslimbrüder).

Die Aktivitäten der Muslimbrüder, die neben der religiösen auch eine starke soziale und wirtschaftliche Komponente hatten, wurden bereits seit den 1960er-Jahren von Ahmed Yassin koordiniert, dem späteren Gründer der Hamas. Während die Muslimbrüder unter ägyptischer Besatzung unterdrückt wurden, liessen ihm die israelischen Besatzer seit 1967 weitgehend freie Hand – schon früh gab es ein israelisches Interesse an einem Erstarken eines internen Rivalen zur Palästinensischen Befreiungs­organisation (PLO).

Entsprechend begrüssten Teile der israelischen Politik zunächst auch die Gründung der Hamas im Jahr 1987 durch Yassin. Sie erfolgte kurz nach dem Ausbruch der ersten Intifada, bei der sie sogleich die Führung beanspruchte.

Der Konflikt mit der PLO verschärfte sich, erst recht, als diese ihre eigenen Ansprüche auf eine militärische Befreiung «ganz Palästinas» aufgab und sich seit ihrer Proklamation eines palästinensischen Staates 1988 implizit zu einer Zweistaaten­lösung bekannte. Jetzt bekämpfte die Hamas sowohl den inner­palästinensischen Rivalen als auch Israel. Ihre Charta von 1988, die Croitoru ausführlich analysiert, ist Ausdruck ihrer islamistisch motivierten, nun auch nationalistisch begründeten Ablehnung einer Zweistaaten­lösung zugunsten eines «Dschihad» mit dem Ziel der «Befreiung Palästinas». Zugleich zeugt sie vom tief sitzenden Antisemitismus und der Anti-Liberalität der Bewegung.

Die Hamas wurde nun von Israel ebenso erbittert verfolgt wie von der PLO beziehungsweise der Fatah und schliesslich der Palästinensischen Autorität. Sie setzte ihrerseits grösstmögliche Gewalt ein, zum Beispiel bei regelrechten Hinrichtungen politischer Gegner als «Kollaborateure». Vor allem richtete sich die Gewalt gegen den Osloer Friedens­prozess, an dessen Entgleisen sie entscheidenden Anteil hatte. Mit zunehmender Unterstützung aus dem Iran führte sie Selbstmord­attentate durch, die sich nun auch massiv gegen Zivilistinnen in Israel richteten.

Die radikalen Reaktionen der von Benjamin Netanyahu und insbesondere ab 2001 von Ariel Sharon angeführten Regierungen brachten die palästinensischen Rivalen zwar zeitweise wieder näher zusammen, doch Croitorus Schilderungen zeigen eindrücklich, wie tief der Graben zwischen ihnen schon damals war.

Israelische Regierungen hatten daran grossen Anteil, weil sie die beiden Parteien wahlweise gegeneinander ausspielten oder Yassir Arafat, den Präsidenten der Palästinensischen Autonomie­gebiete, und die PLO für Anschläge der Hamas mitverantwortlich machten. Nach der Eskalation in der zweiten Intifada ab 2000, in der sich die beiden palästinensischen Rivalen mit ihrem Einsatz von Gewalt regelrecht überbieten wollten, stand die säkulare Fraktion um den in seinem zerstörten Amtssitz belagerten, kranken Präsidenten Arafat vor dem Nichts. Die Hamas hingegen hatte nun eine grosse Bühne für ihre religiös verbrämte Märtyrer­ideologie, das ins Zentrum gerückte und ebenfalls religiös begründete «Widerstands­recht» und ihren Fokus auf die «Befreiung» der Al-Aqsa-Moschee.

Dass die Hamas ihre gewachsene Popularität 2005 und 2006 auch bei kommunalen und nationalen Wahlen in Erfolg ummünzte, sieht Croitoru nicht als Veränderung ihrer Haltung, sondern als eine rein strategische Entscheidung, um ihre islamistischen Ziele durchzusetzen: «Auch wenn sie jetzt im demokratischen Spiel mitspielten, wähnten sich die Islamisten noch immer im Heiligen Krieg», schreibt er und betont, dass der Dschihad auch im Wahl­programm gestanden habe. Die Folgen der internationalen Nicht­anerkennung der Hamas-Regierung 2006 und das Scheitern der Einheits­regierung 2007 sind bekannt: ein blutiger Bürgerkrieg und der Putsch der Hamas im Gazastreifen.

Etwas unterbelichtet bleibt bei Croitoru die Rolle der internationalen Gemeinschaft: Schliesslich hatten die EU und die USA zur Abhaltung der Wahlen gedrängt und mit einer unabhängigen Beobachter­mission deren weitgehend fairen Charakter bestätigt.

Croitoru schildert die autoritäre Hamas-Herrschaft im Gazastreifen und die schleichende Islamisierung des öffentlichen Lebens, der Verwaltung und der Justiz. Vor allem der zunehmende Einfluss des militärischen Flügels der Hamas gehört dann bereits zur Vorgeschichte des 7. Oktobers. Was in Croitorus Buch leider nicht ausgeführt wird, ist die Darstellung einer weiter existenten kritischen Öffentlichkeit und Zivil­gesellschaft, wie sie im Gazastreifen auch unter schwierigsten Bedingungen und trotz Zensur noch bestand: zum Beispiel seitens unabhängiger Journalistinnen und verschiedener Menschenrechts­organisationen, die auch weiterhin Kritik an der Hamas äusserten und sich für deren Opfer einsetzten.

Auch wenn man bei Croitorus Darstellung den Eindruck gewinnt, die Entwicklung hin zum 7. Oktober sei fast zwangsläufig erfolgt, waren sich viele Beobachter bis zuletzt unsicher bezüglich der Einordnung der Hamas. Das neue Grundsatz­programm der Hamas von 2017, das auf antisemitische Passagen der Ursprungs­charta verzichtete und sich unter anderem als implizite Anerkennung der Grenzen von 1967 lesen liess, stiftete laut Croitoru in dieser Hinsicht Verwirrung, war doch andererseits die Hinwendung zum militärischen Weg offensichtlich. Schliesslich habe auch der gemeinhin als «gemässigt» geltende Hamas-Chef Ismail Haniya bereits Einigkeit mit der militärischen Unter­organisation der Hamas, den Qassam-Brigaden, demonstriert.

Doch auch die israelische Regierung ging davon aus, dass seitens der Hamas kein Interesse an einer Eskalation bestünde. Netanyahus aktuelle extremistische Koalition war ihrerseits mit der gross angelegten israelischen Protest­bewegung beschäftigt; zudem waren militärische Einheiten aufgrund eskalierender Siedler­gewalt in die Westbank abgezogen worden.

Nüchtern und sachlich schildert Croitoru in den letzten beiden Kapiteln auch die Ereignisse seit dem 7. Oktober. Er lässt ebenso wenig Zweifel am Ausmass des Massakers der Hamas wie an der Dimension des Krieges in Gaza, in dem er bestenfalls spärliche, oft nur «formelhaft» vorgetragene israelische Recht­fertigungen für die weitreichenden Zerstörungen sieht.

Einen Krieg, der noch anhält, kann man nur bedingt beschreiben. Der extrem knappe Ausblick im Buch ist daher wohl der Aktualität geschuldet. Dennoch wäre wünschenswert gewesen, Croitoru hätte noch einige weiter gehende Reflexionen vorgenommen: über die Zukunft des Gazastreifens und der Hamas selbst – denn die von Israel angekündigte «Vernichtung» der Hamas dürfte wohl kaum realistisch sein.

Auch in dieser Hinsicht bietet das Buch von Moshe Zimmermann eine geradezu komplementäre Ergänzung zu Croitorus Werk.

Niemals Frieden? Israels Weg nach rechts

Während Croitoru zeigt, wie die Hamas konsequent alle Aussichten auf eine friedliche Regelung bekämpft, konzentriert sich Zimmermann auf den Anteil, den die diversen rechts­gerichteten israelischen Regierungen daran haben – auch indem sie die palästinensische Gewalt gern als «Ausrede» benutzen. Zimmermann liefert eine hellsichtige Analyse, wie es die israelische Rechte insbesondere seit dem Wendejahr 1977, in dem die Likud-Partei unter Menachem Begin die Regierung übernahm, geschafft hat, ihre Vision eines «Gross-Israels» in der Mitte der Gesellschaft zu platzieren. Die national­religiösen Zionisten konnten den ursprünglich säkularen Charakter des Staates unterwandern, langsam und stetig. Welche Folgen das hatte, so Zimmermann, sei vielen Israelis erst klar geworden, als es schon zu spät war.

Es ist lehrreich, wie sehr die Schilderungen von Zimmermann und Croitoru letztlich parallele Entwicklungen beschreiben. Die Bücher erzählen eindrücklich davon, wie fundamentalistische Positionen in beiden Gesellschaften an Einfluss gewinnen – und zwar massgeblich auch dadurch, dass sie sich gegenseitig beeinflussen.

Die jüngste Regierung Netanyahu sieht Zimmermann als absoluten Tiefpunkt dieser Entwicklung.

Er widmet ihr ein Kapitel namens «Kakistokratie» (von griechisch kakós, schlecht), und die Empörung über deren Personal, das «populistisch, extrem rechts, fundamentalistisch, rassistisch, homophob» eingestellt sei, ist Zimmermann durchgehend anzumerken. Das Nationalitäten­gesetz, das Israel als «den Nationalstaat für jüdische Menschen» definiert, und die Versuche, den obersten Gerichtshof auszuhebeln, führten bis zum 7. Oktober noch zu gross angelegten Protesten. Trotz des Rechtsrucks gibt es nach Zimmermanns Auffassung daher noch relevante Kräfte, die gegen die Kakistokratrie angehen wollen.

An dieser Stelle hätte man sich noch ein Kapitel gewünscht, das sich den verbliebenen Friedens­kräften widmet: den Anstrengungen, eine jüdisch-arabische und israelisch-palästinensische Solidarität zu schaffen, wie das zum Beispiel bei der jüngeren «Standing Together»-Bewegung oder bei den israelischen und palästinensischen Menschenrechts­organisationen der Fall ist.

Anders als Joseph Croitoru geht es Moshe Zimmermann nicht um eine detailgetreue und chronologische Erzählung der Geschichte, sondern um einen «Zoom-out», wie er es nennt. Neben der israelischen Politik, deren Rechtsruck Zimmermann seit Jahrzehnten beobachtet und kommentiert, reflektiert er auch viele Debatten, die nicht zuletzt in Deutschland vorherrschen und eine Rückwirkung auf den Konflikt haben.

Nur kurz geht Zimmermann in den ersten Kapiteln auf die Geschichte des Zionismus ein. Dabei macht er unter anderem deutlich, dass der Zionismus, der heute oft als politisches Schlagwort (nicht selten mit dem Zusatz «anti-») benutzt wird, eine durchaus heterogene Bewegung war: Links­sozialistische, bürgerlich-rechte bis hin zu religiösen Traditionen standen in Konkurrenz und verschmolzen erst in jüngerer Zeit. An anderer Stelle erwähnt Zimmermann noch jene Gruppe, deren Denk­tradition er wohl auch selbst am ehesten zuzurechnen ist: die intellektuellen Links­zionisten des «Brit Shalom» um Martin Buber und Gershom Sholem, die nach Visionen für ein friedliches Zusammenleben von Jüdinnen und Arabern suchten.

Zudem beleuchtet Zimmermann inner­israelische Debatten und Entwicklungen, die auch mit Blick auf den 7. Oktober Relevanz haben. Zimmermann sieht eine Kontinuität vom frühen Zionismus, der zur Überwindung des Antisemitismus ein jüdisches Selbstbild der Stärke im Gegensatz zur vermeintlich «schwachen Diaspora» erzeugte, bis zur überhöhten Rolle der Armee im heutigen Staat und der Idee von dauerhaft notwendigen Kriegen.

Der Staat Israel sollte der sicherste Ort für Juden in der Welt sein; spätestens der 7. Oktober offenbarte einen tiefen Riss in dieser Realität. Das erkläre auch die Reaktion auf die Gräuel­taten der Hamas: «Die Selbst­wahrnehmung der Zionisten als ‹neue Juden›, die sich nicht wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen, schafft eine radikale Reaktion in den Fällen, wo Israelis zu hilflosen Opfern von Gewalt werden», schreibt Zimmermann.

Als Historiker deutsch-jüdischer und deutsch-israelischer Beziehungs­geschichten nimmt Zimmermann auch dieses Themenfeld in den Blick. So zeigt er, wie es sich viele Deutsche im verkürzten Begriff der israelischen Sicherheit als «Teil der deutschen Staatsräson» bequem gemacht, sich aber stets davor gedrückt hätten, die notwendigen Schritte zu einer wirklichen Verbesserung der israelischen Sicherheit zu unternehmen: mit einer friedlichen Regelung des Nahost­konfliktes. Auch die inflationäre Verwendung des Begriffs «israel­bezogener Antisemitismus» erweise der Bekämpfung des Antisemitismus einen Bärendienst.

Auch deshalb war Zimmermann Mitautor einer alternativen Definition von Antisemitismus, der «Jerusalem Declaration», die versuchte, präziser zu sein als die sehr weit gefasste Definition der «International Holocaust Remembrance Alliance». In der Jerusalemer Erklärung heisst es zum Beispiel: «Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.» Dabei streitet Zimmermann nicht ab, dass es «israel­bezogenen Antisemitismus» gibt – gerade nach dem 7. Oktober sei dieser zu beobachten gewesen. Aber, so Zimmermann, die Alarmglocken läuteten jetzt nicht mehr überall, weil es vorher «zu viele falsche Alarmrufe» gegeben habe; zum Beispiel als der Deutsche Bundestag 2019 «den Kampf gegen die BDS-Initiative zum Angelpunkt des Kampfes gegen Antisemitismus aufwertete».

Auch die Debatte über das Verhältnis postkolonialer Diskurse zum Antisemitismus schneidet Zimmermann an. Er vollzieht einerseits nach, dass der Zionismus eine europäische Siedlungs­bewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Andererseits warnt er vor einer linken und postkolonialen Kritik an Israel, die oft pauschal und manchmal auch antisemitisch gerate. Er spricht zwar grundsätzlich einer postkolonialen Kritik Legitimität zu, befürchtet aber, dass beispielsweise durch Michael Rothbergs Konzept der «multi­direktionalen Erinnerung» ein «gegen den Antisemitismus eingebautes Sicherheits­ventil geöffnet» worden sei. Seine Positionierung im «Historiker­streit 2.0» bleibt somit in dem kurzen Kapitel ambivalent.

Nicht immer bietet der schmale Band genug Platz, um komplexe Zusammenhänge tiefgehend zu beleuchten. Dafür aber gibt das umfangreiche Gesamtwerk von Moshe Zimmermann ausreichend Gelegenheit, mehr zu Themen wie Geschichte des Antisemitismus, Geschichte des Zionismus oder deutsch-jüdische Beziehungs­geschichte zu erfahren. (Und übrigens ebenso zu Themen wie Sportgeschichte und Fussball, weshalb an dieser Stelle auch die gemeinsam mit Lorenz Peiffer geschriebene Biografie des ehemaligen israelischen Nationaltrainers Emanuel Schaffer empfohlen sei.)

Zimmermann erklärt auch in dem neuen Buch ausführlich, wie die israelischen Siedler den israelischen Staat in «Geiselhaft» genommen haben – über die Auswirkungen für die unter permanentem Militär­recht stehende palästinensische Gesellschaft erfährt man wenig. Sein Buch konzentriert sich erklärtermassen auf die Analyse der israelischen Gesellschaft und ihrer Diskurse.

Erst im letzten Kapitel widmet sich Zimmermann dann dem Thema der möglichen Lösungen, die er grundsätzlich pessimistisch sieht. Denn der Nahost­konflikt finde «mitten in einer Arena» statt, «die Radikalisierung, nicht Annäherung begünstigt». Ausgangspunkt jeder friedlichen Regelung müsse das «Recht auf nationale Selbst­bestimmung für beide Parteien» sein. Dies sieht Zimmermann nur durch eine Verfassungs­konstruktion gewährleistet, die beide Staaten umfasst: das sogenannte Konföderations­modell. Detaillierte Vorschläge und Ausarbeitungen dazu gibt es bereits, worüber die Leserin gern auch in diesem Buch mehr erfahren würde. Aber Zimmermann sieht es offenbar nicht als seine Aufgabe an, hier im Rahmen seines «konstruktiven Pessimismus» konkreter zu werden.

Insgesamt ist Moshe Zimmermann dennoch ein hervorragendes, kritisches, aber doch ausgewogenes Porträt israelischer Politik im Licht des 7. Oktobers gelungen.

Die Lektüre beider Bücher bietet ein weites Panorama historischer Informationen und Analysen, die helfen, den 7. Oktober samt seiner Vorgeschichte und seinen Folgen einzuordnen. Als sachliche Begleiter in Tagen überaus polemischer Debatten sind sie uneingeschränkt zu empfehlen.

Zu den Büchern

Joseph Croitoru: «Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel». C. H. Beck, München 2024. 223 Seiten, ca. 26 Franken.

Moshe Zimmermann: «Niemals Frieden? Israel am Scheideweg». Propyläen, Berlin 2024. 192 Seiten, ca. 19 Franken.

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