Von ganz oben herab

Ein Urteil aus Alabama gefährdet die Zukunft von künstlicher Befruchtung weit über den US-Bundes­staat hinaus. Es zeigt den zunehmenden Einfluss einer bisher wenig beachteten theologischen Strömung.

Von Annika Brockschmidt (Text) und Karlotta Freier (Illustration), 19.03.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von Alabama hat Schock­wellen durch die USA gesendet. Der Supreme Court des Bundes­staats hat entschieden, dass es sich bei gefrorenen Embryonen um «extrauterine Kinder» handelt – ein Ausdruck, der so dystopisch ist, dass er Margaret Atwoods «Handmaid’s Tale» entsprungen sein könnte. Gemeint sind damit Kinder, die sich ausserhalb der Gebär­mutter befinden.

Die Folgen dieses Urteils waren unmittelbar: Drei Gesundheits­institutionen, die in Alabama künstliche Befruchtung anbieten, setzten die Behandlung vorerst aus – aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung. Das ist eine beklemmende Situation für diejenigen Personen, die sich Kinder wünschen. Und die potenziellen Auswirkungen gehen über Alabamas Grenzen hinaus.

Für Menschen mit Kinder­wunsch, die nicht auf natürlichem Weg schwanger werden können, ist künstliche Befruchtung – auch In-vitro-Fertilisation oder IVF genannt – ein Weg, ein leibliches Kind zu bekommen. In der Schweiz ist nach Angaben des Bundesamts für Statistik jedes sechste Paar ungewollt kinderlos, jährlich unterziehen sich fast 7000 Frauen künstlicher Befruchtung, mehr als 2000 Kinder werden so geboren.

Bei der künstlichen Befruchtung werden Eizellen entnommen, die ausserhalb des Uterus befruchtet werden. Danach werden sie in medizinischen Gefrier­schränken aufbewahrt, bis sie in den Uterus eingesetzt werden. Um die Chancen für eine erfolgreiche Schwangerschaft zu erhöhen, werden mehrere Embryos hergestellt. Verbliebene befruchtete Eizellen werden eingefroren und können für einen weiteren Versuch genutzt oder auch zerstört werden.

In der Schweiz ist die Eizellen­spende verboten, genau wie die Embryonen­spende. Auch ihre Verwendung zu Forschungs­zwecken ist in Deutschland und der Schweiz verboten, anders als in den USA und anderen europäischen Ländern.

Der Alabama Supreme Court hat sein Urteil jetzt auf ein Gesetz von 1872 gestützt, das die «widerrechtliche Tötung Minderjähriger» behandelt – und auf die Vorstellung der religiösen Rechten, dass menschliches Leben im Moment der Befruchtung einer Eizelle beginnt. Das komme im End­effekt einer Kriminalisierung von künstlicher Befruchtung gleich, warnen Ärzte, da es während der Behandlung auch immer wieder zu der Zerstörung von Embryos kommt.

Gewissen religiösen Gruppen würde das aber durchaus entsprechen: Sie vertreten den Stand­punkt, dass «Kinder» – gemeint sind Embryos – nicht in Gefrier­schränken gelagert werden dürften und künstliche Befruchtung deswegen verboten sein sollte. Oder dass der medizinische Eingriff Gottes Willen missachte oder das Ehe­bett entweihe.

Das Ziel: Ein konservatives Christentum

Die Etablierung von fötalen und embryonalen Persönlichkeits­rechten vor dem Gesetz sei eines der grossen Ziele der religiösen Rechten in den USA, sagt Andrew Seidel, Verfassungs­rechtler und Experte für die juristischen Bestrebungen der religiösen Rechten. Er ist tätig für Americans United, eine Organisation, die sich für die Trennung von Kirche und Staat einsetzt. «Das Ziel ist es, dem ganzen Land per Gesetzgebung ein konservatives Christentum aufzuzwingen», sagt er.

Es überrasche ihn nicht, dass die religiöse Rechte, die die moderne Republikanische Partei dominiert, versuche, ihre Ziele per Gerichts­entscheid durchzusetzen: «Ihre Positionen sind extrem unbeliebt. Sie lehnen die gleich­geschlechtliche Ehe ab. 71 Prozent der Amerikanerinnen sind dafür. Sie wollen eine Nation von Christen, die sind wie sie – mehr als 70 Prozent der Amerikaner bevorzugen religiösen Pluralismus. Sie werden sehr wahrscheinlich versuchen, Verhütungs­mittel zu verbieten.» Denn viele von ihnen lehnten beispielsweise hormonelle Verhütungs­mittel genauso ab wie Abtreibung. Doch selbst unter der Minderheit der Amerikanerinnen, die gegen Abtreibung sind, unterstützen 61 Prozent Zugang zu Verhütungsmitteln.

Für Seidel ist deshalb klar: «So ist die religiöse Rechte darauf angewiesen, dass eine anti-demokratische Institution allen anderen ihren Willen aufzwingt. Deswegen versucht sie, die Gerichte zu kapern.»

Das Urteil folgt also bereits der Ideologie der religiösen Rechten. Doch landesweit für Schlag­zeilen sorgte vor allem auch die sogenannte concurring opinion – ein Teil des Urteils, das der Mehrheits­meinung des Gerichts zustimmt, dies aber anders begründet. Denn darin taucht ganze 41 Mal das Wort «Gott» auf. Verfasst hat sie der Chef-Richter Tom Parker, der darin eine rein religiöse Begründung des Urteils liefert. Parker ist der Ansicht, dass ein anderer Ausgang des Prozesses bedeuten würde, dass das Gericht und Alabama den «Zorn des heiligen Gottes» auf sich ziehen würden.

Mehr als ein Avatar der religiösen Rechten

Für Sarah Posner, die als Investigativ-Journalistin seit Jahrzehnten über die religiöse Rechte berichtet, ist Parker kein Unbekannter. Im Gespräch mit der Republik erzählt sie, wie sie ihm zum ersten Mal 2011 persönlich begegnet ist, als er vor einer Gruppe neokonföderierter christlicher Rekonstruktionisten sprach – also vor Anhängerinnen einer einst als obskur geltenden theologischen Ausrichtung. Diese wollen eine theokratische Gesellschafts­ordnung errichten, in der nicht das Gesetz von Menschen, sondern das von Gott gilt.

Posner fiel schon damals auf, dass Parker seine juristischen Entscheidungen mit der Bibel begründete. Beispielsweise als er 2005 in einem Sorgerechtsfall Römer 13 zitierte, um seine These zu belegen, dass es «keine Autorität gibt ausser derjenigen Gottes» – und sich der Staat daher aus Sorgerechts­fällen heraus­halten sollte. Parker bereitete zudem mit seinen Urteilen der letzten Jahrzehnte die juristische Begründung für die Aufhebung des Grundsatz­urteils im Fall Roe v. Wade durch den Supreme Court 2022 vor.

Auch Tom Parkers persönliche und berufliche Beziehungen zeigen ihn als etablierte Figur im Netzwerk der extremen religiösen Rechten: Denn schon bevor Parker 2004 ans oberste Gericht Alabamas berufen wurde, trat er als Mitarbeiter von Roy Moore in Erscheinung, dem damaligen Obersten Richter des Bundes­staats. Moore wurde zwei Mal seines Amtes enthoben. Einmal, weil er sich einem richterlichen Urteil widersetzte, das ihn aufgefordert hatte, ein steinernes Denkmal der Zehn Gebote zu entfernen, das er im Obersten Gerichtshof Alabamas hatte errichten lassen. Und ein zweites Mal, weil er Alabamas Richtern befahl, gleich­geschlechtliche Ehe entgegen einem Urteil des Supreme Court der USA nicht zu akzeptieren.

Doch Parker ist mehr als ein Avatar der religiösen Rechten: Was ihn zu einem besonders interessanten Fall macht, sind seine Verbindungen zu einer theologischen Strömung, die in der religiösen Rechten mehr und mehr Einfluss gewinnt: die New Apostolic Reformation (NAR). Dabei handelt es sich um eine lose Ansammlung charismatischer Netz­werke, die an moderne Propheten und Apostel glauben. Sie sind davon überzeugt, dass die wichtigsten Bereiche der Gesellschaft – darunter auch die Gerichte – unter die Kontrolle von rechten Christinnen gebracht werden müssen.

Die New Apostolic Reformation sei «eine der wichtigsten christlichen religiösen und politischen Bewegungen unserer Zeit», schreiben der Investigativ­journalist Frederick Clarkson und der Religions­wissenschaftler André Gagné, die seit langem über die Strömung berichten.

Matthew Taylor, Religions­wissenschaftler am Institute for Islamic, Christian and Jewish Studies in Baltimore, sagt zur Republik: «Die NAR-Netzwerke waren der Kern der christlichen Unterstützung für Donald Trump und schufen den theologischen Unterbau, um Trumps autokratische Macht­übernahme zu rechtfertigen.» Trump habe Führungs­figuren charismatischer und pfingst­kirchlicher Strömungen Zugang zu den höchsten Sphären politischer Macht verschafft, und so sei deren Sprache zur Lingua franca verschiedenster Gruppen der religiösen Rechten geworden. «Dieselben Netz­werke haben nach Joe Bidens Wahlsieg 2020 Christen mobilisiert, um die Wahl zu kippen. Und sie waren zentral für die Organisation der Christen, die beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 auftauchten und ‹geistliche Kriegsführung› betrieben.»

Taylor hat Parkers Auftritte mit diversen Grössen dieser theologischen Gruppierung analysiert. Parker sehe es als seine Aufgabe, andere Richterinnen von seiner theokratischen Rechts­auffassung zu überzeugen, sagt er. Als Beleg verweist er etwa auf eine Äusserung Parkers bei einem «Prayer Call» von Anhängern der New Apostolic Reformation im März 2023: «Ich als Oberster Richter kann dabei helfen, [ihre] Herzen vorzubereiten und die Richter im ganzen Staat mit den Dingen Gottes vertraut zu machen.»

Laut Taylor zeigt dies, dass Parker nicht nur freundschaftliche Beziehungen zu Führern der NAR unterhält, sondern dass er auch wesentliche Teile ihrer Theologie übernommen hat. Dies sei symptomatisch für den zunehmenden Einfluss, den NAR-Sprache in der christlichen Rechten gewonnen hat.

Im Urteil vermeidet es Parker, explizite Rhetorik der New Apostolic Reformation zu verwenden, und bezieht sich stattdessen auf Johannes Calvin und Kirchen­väter wie Thomas von Aquin und Augustinus. Die Religions­wissenschaftlerin Julie Ingersoll von der University of North Florida sagt: «Parker schreibt, als ob wir in einer Theokratie lebten und Argumente aus der Bibel als Gesetz fungierten.» Sie sieht bei Parker eine gefährliche Missachtung des ersten und vierzehnten Verfassungs­zusatzes, die es dem Staat verbieten, Gesetze zu erlassen, die gegen die Religions­freiheit verstossen oder sie einschränken.

Wenig Rückhalt in der Bevölkerung

Das Urteil aus Alabama ist ein massives Problem für die Republikanische Partei: Denn die Mehrheit der US-Bevölkerung befürwortet künstliche Befruchtung, genau wie das Recht auf Abtreibung. Laut einer neuen Umfrage von Ende Februar sagen zwei Drittel der Amerikanerinnen, dass eingefrorene Embryos nicht als Rechts­personen gelten sollten.

Deshalb versucht die Republikanische Partei nun, den Schaden zu begrenzen. Prominente Republikaner wie Mike Johnson, der Speaker des Repräsentanten­hauses, verkündeten, dass sie künstliche Befruchtung schützen wollen – obwohl viele von ihnen Gesetzes­entwürfe unterstützen, die die Behandlung massiv einschränken oder kriminalisieren würden.

Verfassungs­rechtler Andrew Seidel befürchtet, dass das Urteil aus Alabama eine ähnliche Wirkung haben wird wie die Verabschiedung des texanischen Anti-Abtreibungs­gesetzes im September 2021, das ein Kopfgeld auf Personen aussetzte, die Schwangerschafts­abbrüche ermöglichen. Auch dieses Mal könnte das Urteil aus Alabama als Blau­pause für ähnliche Gesetze in anderen republikanisch regierten Bundes­staaten fungieren. «Das Ziel ist ein nationaler Standard für die fötalen Persönlichkeits­rechte, damit es keine Zufluchts­orte für Abtreibungen mehr gibt wie zum Beispiel Kalifornien oder New York», sagt Seidel.

Es ist möglich, dass Teile der Republikanischen Partei noch warten werden, bis die öffentliche Empörung abgeklungen ist, bevor sie sich für ähnliche Gesetze stark­machen werden. In Florida haben Republikanerinnen als Reaktion auf den öffentlichen Aufschrei ein entsprechendes Gesetz vorerst zurück­gezogen. In Alabama soll ein neuer Gesetzes­entwurf künstliche Befruchtung jetzt bis Mitte 2025 schützen – also bis nach der nächsten Präsidentschafts­wahl. Das Gesetz umschifft aber die Kern­frage, ob Embryos Kinder sind.

Seit der republikanische Gouverneur das Gesetz unterzeichnet hat, haben zwei von Alabamas Kliniken die Behandlung für künstliche Befruchtung Anfang März vorerst wieder aufgenommen. Eine weitere Klinik will abwarten, bis juristische Fragen geklärt sind. So bleibt unklar, ob der Alabama Supreme Court das Gesetz gelten lassen wird, schreibt der Gerichts­korrespondent von «The Nation»: Denn die Argumentation des Gerichts sei keine juristische, sondern eine religiöse. «Das Gericht sagt, dass geltendes Recht nicht ohne die Interpretation des Willens Gottes durch die Richter ausgelegt werden kann.»

In der republikanischen Antwort auf die «State of the Union»-Rede von Präsident Joe Biden behauptete Katie Britt, Senatorin für Alabama und die jüngste Frau im Senat, künstliche Befruchtung zu befürworten – äusserte sich aber auf Nachfragen von Journalistinnen nicht dazu, ob sie glaube, die Zerstörung von Embryos im Rahmen von IVF sei Mord. Sie hatte zuvor mehrfach gesagt, menschliches Leben beginne zum Zeitpunkt der Befruchtung.

Trotz der Beteuerungen von prominenten Republikanern wie Britt hat die Republikanische Partei einen von den Demokraten eingebrachten Gesetzes­entwurf im Senat gestoppt, der Schutz für IVF im ganzen Land garantiert hätte. Ihr Ziel bleibt: die körperliche Autonomie von Frauen und Schwangeren so stark wie möglich einzuschränken.

Zur Autorin

Annika Brockschmidt ist Historikerin und Konflikt­forscherin und arbeitet als Journalistin, Autorin und Podcasterin. Sie befasst sich vor allem mit der religiösen und politischen Rechten in den USA. Im Februar erschien ihr neustes Buch «Die Brandstifter. Wie Extremisten die Republikanische Partei übernahmen».

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