Binswanger

Waffenstillstand, jetzt!

Israel hat jedes Recht auf Selbst­verteidigung. Aber der Gaza-Krieg ist ausser Kontrolle. Dass die Netanyahu-Regierung der Empörung der Welt­öffentlichkeit gegenüber gleichgültig bleibt, schadet dem Staat Israel. Und der jüdischen Diaspora.

Von Daniel Binswanger, 16.03.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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US-Präsident Joe Biden hat einen Waffen­stillstand eingefordert. Vizepräsidentin Kamala Harris hat zu einem «sofortigen Waffen­stillstand» aufgerufen. Nun hat Chuck Schumer, demokratischer Mehrheits­führer im Senat und der ranghöchste ins Amt gewählte Politiker jüdischer Herkunft in den USA, die israelische Regierung frontal angegriffen. «Die Netanyahu-Koalition entspricht nicht mehr dem, was Israel nach dem 7. Oktober braucht», sagte Schumer am Donnerstag in einer Rede im US-Senat.

Der Druck wird immer stärker – was unausweichlich und berechtigt ist.

Führende Stimmen des amerikanischen Judentums wie Thomas Friedman haben schon Anfang Dezember dringend zu einem permanenten Waffen­stillstand aufgerufen – vor dreieinhalb Monaten, als es noch nicht einmal halb so viele Todesopfer gab. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat Ende Dezember den israelischen Premier zu einem dauerhaften Waffen­stillstand aufgefordert. Das Europa­parlament hat diesen Donnerstag zum ersten Mal eine Resolution für einen permanenten Waffen­stillstand erlassen. Selbst der «Spiegel», ansonsten weitestgehend auf Linie der «deutschen Staatsräson», schrieb am Mittwoch, aus der «legitimen Selbst­verteidigung» sei «ein Vernichtungs­feldzug» geworden.

Waffenstillstand, jetzt! Weil mit jedem weiteren Kriegstag zahlreiche weitere Zivilistinnen sterben müssen, herrscht allergrösste Dringlichkeit. «Israel wird radioaktiv», schreibt Friedman diese Woche in der «New York Times». «Die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora nimmt rund um den Globus ab.»

Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, der barbarische Hamas-Überfall vom 7. Oktober verlangte nach einer entschlossenen militärischen Antwort. Und ja, so tragisch und moralisch schwer zu ertragen es ist: Krieg ist immer furchtbar, und Häuser­kampf in einem urbanen Umfeld lässt sich kaum durchführen, ohne dass es zu zivilen Opfern kommt. Der Gazastreifen stellt zudem das vermutlich schlimmste vorstellbare Schlachtfeld dar: ein Gebiet, das nicht nur extrem dicht besiedelt ist, sondern mit dem Hamas-Tunnel­system auch über ein einzigartiges, stark ausgebautes Verteidigungs­system verfügt.

Im Übrigen ist das asymmetrische Kräfte­verhältnis zwischen den beiden Kriegs­parteien im Hinblick auf zivile Opfer so ungünstig wie überhaupt nur möglich. Die Hamas ist in keinem Sinn eine Armee, die Israel ernsthaft etwas entgegen­zusetzen hätte: keine Panzer, keine Artillerie, keine Luft­verteidigung. Zu offenen Feld­schlachten kann es gar nicht kommen. Aber die Hamas und der palästinensische Islamische Jihad sind mit ihren ursprünglich wohl über 40’000 Kämpfern auch viel zu gross, um einfach mit ein paar militärischen Kommando­aktionen ausser Gefecht gesetzt zu werden.

Der Krieg in Gaza ist entsetzlich. Man kann es sich mit der Verurteilung der israelischen Kriegs­führung aber auch sehr leicht machen.

All dies ändert jedoch nichts daran, welche Realitäten der Krieg geschaffen hat: Die Opferzahlen sind schon lange viel zu horrend, als dass noch die Rede davon sein könnte, dass die Verhältnis­mässigkeit gewahrt bleibt.

Die humanitäre Katastrophe in Gaza – das weitgehende Zusammen­brechen der medizinischen Versorgung und der Versorgung mit Nahrungsmitteln – kann schon gar nicht militärisch begründet werden und stellt einen ganz offensichtlichen Verstoss gegen das humanitäre Völker­recht dar, für den Israel die volle Verantwortung trägt. Es wäre gemäss Genfer Konventionen dazu verpflichtet, diese Grund­versorgung sicherzustellen. Ganz egal, wo nun genau die mysteriösen Probleme mit Transport und Verteilung der Hilfsgüter liegen.

Zudem werden das extreme Leid der Zivil­bevölkerung und die grossflächige Zerstörung der Gebäude und der Infrastruktur in Gaza eine Stabilisierung der Situation und die Aushandlung einer tragfähigen, länger­fristigen Lösung immer schwieriger machen, wenn nicht verunmöglichen. Es erscheint bis heute nicht glaubwürdig, dass die israelische Regierung einen praktikablen Plan hat für Gaza nach dem Krieg.

Nur eines hat Netanyahu glasklar gemacht. «Es ist meine Entschlossenheit, die über die Jahre die Gründung eines palästinensischen Staates verhindert hat», schrieb er in einem Post in den sozialen Netzwerken. «Solange ich Premier­minister sein werde, wird das so bleiben.»

Der israelische Premier­minister positioniert sich heute als Garant der Verhinderung der wieder auf die Agenda kommenden Zweistaaten­lösung. Ein Garant der Unlösbarkeit des Konflikts, in dessen Schatten die Siedler­bewegung gedeiht. Ein Garant des unbegrenzten Krieges. Angesichts der Tatsache, dass nur seine Koalition mit den Siedler­parteien Netanyahu den vorläufigen Machterhalt garantiert, bleibt ihm auch gar keine andere Wahl. Der Analyse von Chuck Schumer lässt sich nichts entgegensetzen: Israel braucht Neuwahlen und eine neue Regierung.

Das zeigen im Übrigen auch die israelischen Meinungs­umfragen – ein Lichtblick in dieser finsteren Situation. Sie kommen zum Ergebnis, dass sich zwei Drittel der Bürgerinnen Neuwahlen wünschen und dass Netanyahu und die Siedler­bewegung stark an Stimmen eingebüsst haben. Auch die Wählerinnen wollen den grössten sicherheits­politischen Versager der israelischen Geschichte wohl nicht mehr länger im Cockpit haben.

Zentral ist zudem die Geiselfrage: Rund die Hälfte der Israelis ist der Ansicht, dass die Netanyahu-Regierung ihr Vorgehen ändern und das Ziel der Geisel­befreiung zur Priorität erheben müsste. Wenn es Netanyahu nicht gelingt, durch eine Ausdehnung des Krieges die Wahlen immer weiter hinaus­zuschieben, erscheint ein Regierungs­wechsel alles andere als unwahrscheinlich.

Dass Israel die Hamas nach dem 7. Oktober vollständig vernichten wollte, ist legitim. Die Hamas war immer eine zu allem entschlossene Feindin der Zweistaaten­lösung und hat den Oslo-Prozess mit ihren horrenden Terror­attentaten über Jahrzehnte bekämpft. Das barbarische Vorgehen am 7. Oktober hat die Ablehnung des Existenz­rechts Israels noch einmal bestätigt. Das bedeutet aber nicht, dass jedes Mittel legitim ist, um vermeintlich auch noch den letzten Hamas-Kämpfer physisch zu liquidieren. Es bedeutet nicht, dass es keine Grenze gibt für das rechtfertigbare Leid, das der Zivil­bevölkerung von Gaza auferlegt wird.

Einen militärischen Sieg anzustreben, der jede politische Anschluss­lösung verunmöglicht, ist sinnlos. Und vor allem: Die Tatsache, dass die Hamas horrende Verbrechen begangen hat, bedeutet nicht, dass Israels Antwort sich nicht im Rahmen des Völker­rechts bewegen muss.

Das ist ein entscheidender Punkt. Zur Rechtfertigung der israelischen Bombardements wird immer wieder das Argument ins Feld geführt, es sei nicht die Schuld der Israelis, sondern der Hamas, dass so viele Zivilisten zu Tode kommen. Es sei die Hamas, die sich im dicht besiedelten Gebiet mitten unter den Zivilistinnen verstecke, häufig noch an besonders geschützten Orten wie Spitälern, Kirchen oder Schulen. Es ist ja vollkommen richtig: Die Hamas hat die Bevölkerung von Gaza, deren Wohl­ergehen oder Überleben ihr offensichtlich gleichgültig ist, in Geiselhaft genommen.

Allerdings entlastet das die gegnerische Kriegspartei nicht von ihrer Verantwortung für zivile Opfer. Das Kriegsrecht ist für alle Parteien bindend, immer. Eine Armee wird nicht zu Kriegs­verbrechen berechtigt, weil die andere Seite Kriegs­verbrechen begeht.

Die israelische Armee hat die Verpflichtung, so zu handeln, dass die Kollateral­schäden – das heisst die Opfer unter unschuldigen Zivilisten – «verhältnis­mässig» bleiben, das heisst, dass der militärische Nutzen, der aus einem Angriff gezogen wird, in einem akzeptablen Verhältnis steht zum Schaden, der der Zivil­bevölkerung zugefügt wird. So will es das humanitäre Völker­recht. Natürlich ist Verhältnis­mässigkeit ein dehnbarer Begriff. Aber hier sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache.

Die israelischen Bombardierungen waren dermassen intensiv, die Opferzahlen dermassen hoch, dass es nach Berechnungen von Oxfam im 21. Jahrhundert bisher kaum einen Krieg von vergleichbarer Intensität gegeben hat. Oft wird das Beispiel der Rückeroberung von Mosul herangezogen. Auch diese Schlacht war horrend, forderte aber in neun Monaten «nur» 9000 bis 11’000 Tote unter der Zivil­bevölkerung. Die Brutalität des Gaza-Krieges hat eine völlig andere Dimension.

Die internationale Debatte kreist nun hauptsächlich um die Frage, ob der Krieg in Gaza als Genozid bezeichnet werden kann. Es gibt Indizien, auf die die Anklage von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag sich stützen kann. Der Internationale Gerichtshof ist eine seriöse Institution; dass er «vorläufige Massnahmen» angeordnet hat, mit denen Israel die Einhaltung des Völker­rechts garantieren soll, muss ernst genommen werden. Mindestens die radikalen Mitglieder der aktuellen israelischen Regierung haben es auf eine ethnische Säuberung und eine neuerliche israelische Besiedlung des Gazastreifens angelegt, was sie ja vollkommen offen deklarieren. Dennoch kann in Zweifel gezogen werden, ob die israelische Regierung tatsächlich eine Neubesiedlung des Gazastreifens anstrebt und ob sie der palästinensischen Bevölkerung gegenüber tatsächlich eine «genozidäre Absicht» hegt.

Momentan wird jedenfalls fast ausschliesslich um die Anwendbarkeit oder Nicht­anwendbarkeit des Genozid­begriffs gestritten. Es ist dieser Terminus, der bei weitem die höchste politische Sprengkraft hat. Aber es dürfte nicht die dringlichste Debatte sein.

Die näherliegende Frage ist, ob Israel mit seinen flächen­deckenden Bombardierungen in Gaza nicht Kriegs­verbrechen begeht – ganz einfach, weil sein Vorgehen disproportional oder, wie es Joe Biden gesagt hat, «over the top» ist. Es dürfte sehr viel schwieriger sein, das Land gegen diesen Vorwurf zu verteidigen.

Zum einen ist die Zahl der zivilen Opfer horrend hoch, insbesondere auch der Kinder. Gemäss UNRWA-Direktor Philippe Lazzarini sind inzwischen 12’300 Kinder in Gaza zu Tode gekommen, mehr als in den vier Jahren von 2019 bis 2022 in sämtlichen Kriegen rund um den Globus zusammen. Ihre Tötung dürfte schwerlich in einem «Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil» stehen – so wie das nach dem ersten Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen gemäss humanitärem Völker­recht der Fall sein muss.

Zum anderen ist dokumentiert, dass die israelische Armee ihre Target-Listen enorm erweitert hat und nun beispiels­weise auch die Privat­wohnungen beliebiger Hamas-Kämpfer – nicht nur der hochrangigen Offiziere – als legitime Ziele betrachtet. Diese Einsatz­doktrin bringt zwangsläufig massivste «Kollateral­schäden» mit sich: das Auslöschen von ganzen Familien.

Mit solchen Methoden wird eine Saat des Traumas, der Verzweiflung und des Hasses ausgesät, die eine Friedens­lösung immer illusorischer werden lässt. Aber – das hat der 7. Oktober noch einmal dramatisch bewiesen – es gibt keine Alternative zu einer politischen Friedens­lösung. Es leben zwei Völker in Palästina. Sie müssen gemeinsam einen Weg finden.

Die Hamas muss deshalb aus dem politischen Spiel eliminiert werden – aber dasselbe gilt für Benjamin Netanyahu. Er hat die Hamas, deren Unversöhnlichkeit ihm in die Hände spielte, bekanntlich gezielt gestärkt. Und es ist nicht so, als ob er erst seit gestern ein Feind des Friedens wäre.

Eines der beeindruckendsten und vor prophetischer Schärfe kaum auszuhaltenden Bücher zum Gaza-Krieg heisst: «The End of Israel. Dispatches from a Path to Catastrophe» (Das Ende Israels. Depeschen vom Weg in die Katastrophe). Es stammt aus der Feder des Journalisten Bradley Burston und ist eine Sammlung der Kolumnen, die er über die letzten fast 20 Jahre für die Tages­zeitung «Haaretz» geschrieben hat. Mit im Rückblick noch beeindruckenderer Luzidität denunzierte Burston schon seit langen, langen Jahren die destruktive Gewalt der israelischen Militär­aktionen gegen Gaza, die Unterminierung der Grundwerte Israels durch die immer rechts­radikaleren Regierungen und die objektiv gegebene politische Partnerschaft zwischen Netanyahu und der Hamas.

Heute kommentiert Burston: «Schon sehr früh – als die Hamas-Führung beobachtete, dass Benjamin Netanyahu die Gewalt und die innere Uneinigkeit zu seinem eigenen politischen Vorteil nutzte und dass er genauso leidenschaftlich wie sie selbst daran arbeitete, einen gerechten Frieden zwischen einem palästinensischen und einem israelischen Staat zu verhindern – wusste die Hamas: Er ist unser Mann.»

Wann wird der Waffen­stillstand kommen? Es ist zu erwarten, dass Netanyahu sich so wenig wie möglich bewegen wird, dass er sich inszeniert als der virile Leader, der es wagt, vor keinem Druck zurück­zuweichen. Nur wenn es ihm gelingt, der israelischen Bevölkerung das Gefühl zu geben, sie stehe ganz allein gegen den Rest der Welt, könnte er vielleicht eine politische Überlebens­chance haben. Und natürlich wäre für Netanyahu schlagartig alles anders, wenn es ihm gelänge, bis November durchzuhalten – und Trump ins Amt zurück­kehren würde.

Die internationale Gemeinschaft und die jüdischen Gemeinden in der Diaspora dürfen sich von diesen Horror­szenarien jedoch nicht beirren lassen. Es braucht einen sofortigen Waffen­stillstand. In Israel, in Gaza und in den besetzten Gebieten muss ein Neuanfang gemacht werden. Es ist eine Chance, die nicht verspielt werden darf.

Illustration: Alex Solman

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