Gegen die Barrieren

In mehreren neuen Büchern erzählen Autorinnen von ihrem Leben mit einer Behinderung – und den gesellschaftlichen Hindernissen, mit denen sie kämpfen.

Von Christine Lötscher (Text) und Manshen Lo (Illustration), 14.03.2024

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Vorgelesen von Regula Imboden
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Diversität und Inklusion, könnte man meinen, seien in einer demokratischen Gesellschaft eine Selbst­verständlichkeit. Kaum eine Firma oder Institution, die sich nicht die Förderung von Vielfalt und Teilhabe für alle auf die Fahne schreibt. Doch Menschen mit Behinderung erleben die Wirklichkeit nicht als kooperativ und inklusiv.

Davon erzählen neue, häufig autofiktionale literarische Texte, deren Protagonistinnen viele soziale Gestaltungs­räume nicht einfach so offenstehen; Menschen, für die jedes Verlassen der eigenen Wohnung jeden Tag wieder eine Herausforderung bedeutet, weil der öffentliche Raum alles andere als barrierefrei ist.

Einer dieser Autoren ist Jan Kuhlbrodt, 1966 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren und seit vielen Jahren in Leipzig zu Hause. In dem Buch «Krüppelpassion» verwebt er Erinnerungen, Lektüren und Reflexionen zu einem dichten Text, der weit ausholt in die Geschichte der Literatur und der Philosophie, um immer wieder auf den Alltag mit der MS-Erkrankung zurück­zukommen, die ihn in den Rollstuhl zwingt.

Von einer anderen Form der Beeinträchtigung erzählt die französische Autorin Adèle Rosenfeld, geboren 1986, mit ihrem Roman­erstling «Quallen haben keine Ohren». In der Art, wie beide Bücher die Leserschaft zu sensibilisieren versuchen, sind sie aber dennoch verwandt. Rosenfelds Titel lässt erahnen, dass es hier um das Leben mit einer Hörbeeinträch­tigung geht.

Louise, die Ich-Erzählerin, befindet sich in einem Zwischenraum. Seit Geburt auf dem linken Ohr taub und auf dem rechten stark schwerhörig, hat sie gelernt zu sprechen und von den Lippen zu lesen. Jetzt, wo das Gehör immer mehr schwindet, steht sie vor der Entscheidung, sich ein Cochlea-Implantat einsetzen zu lassen, das die Nervenzellen mit elektrischen Impulsen direkt stimuliert und sie so besser hören lassen würde. Der Eingriff würde bedeuten, den letzten Rest ihres natürlichen Gehörs aufzugeben. Ohne Implantat würde Louise aber bald ganz in der Stille leben und künftig in Gebärden­sprache kommunizieren müssen.

Zur Autorin

Christine Lötscher hat sich als Literatur­kritikerin in Printmedien und im Fernsehen einen Namen gemacht. Heute ist sie Professorin für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozial­anthropologie und Empirische Kultur­wissenschaft der Universität Zürich. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit Klima­narrativen, zeitgenössischer Science-Fiction sowie mit neuen Lese- und Schreib­kulturen im digitalen Raum (Stichwort Booktok). 2020 erschien ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populär­kultur» im Metzler-Verlag.

Beide Texte, so unterschiedlich ihre Erzähl­stimmen auch sein mögen, arbeiten mit kurzen Kapiteln, die assoziativ miteinander verbunden sind. Und beide evozieren auf radikale Weise eine von der Behinderung geprägte Weltwahrnehmung – verbinden sie aber auch mit einer analytischen Reflexions­ebene. Als Leserin wird man dadurch auf doppelte Weise sensibilisiert; durch Empathie und Analyse.

Das mag didaktisch klingen, ist es aber nicht. Vielmehr verhindert die doppelte Erzählweise eine Verklärung des Anders­seins. Sowohl bei Kuhlbrodt als auch bei Rosenfeld zeigt die Erfahrung, dass die poetische Kraft, die sich in der Suche nach einer Sprache für die eigene Wahrnehmung entfaltet, von Leserinnen ohne Behinderung leichtfertig als Vorteil, ja als Gewinn ausgelegt werden könnte. Als Louise sich für eine neue Stelle bewirbt, nimmt sie sich Zeit, die Sachlage für ihre Arbeitgeberin genau auseinander­zusetzen:

Auf dem linken Ohr sei ich vollständig taub; auf dem rechten Ohr schwerhörig und Hörgeräte­trägerin, müsse also von den Lippen lesen, um eine durchlöcherte Sprache zu ergänzen.

Was für Louise eine reale Erfahrung ist – die Löcher im Sprechfluss ihres Gegenübers –, idealisiert die Gesprächs­partnerin zu einer künstlerischen Qualität:

In ihrem Blick leuchtete etwas auf. Ich begann, einen hohen poetischen Mehrwert zu verkörpern, als ich betonte, dass ich zum Hören Licht brauchte.

Damit berührt Rosenfeld einen Punkt, der für viele Texte über das Leben mit einer Behinderung zentral ist. Die Poesie, dies zeigen auch zwei Anthologien, von denen hier noch die Rede sein wird, ist ein Mittel, um den Umgang mit Sprache als vermeintlich natürlichem Medium der Verständigung zu hinterfragen. Damit Sprache den Graben zwischen unterschiedlichen Erfahrungs­welten nicht noch grösser macht, braucht es die Sensibilität derer, denen die Bewegungsfreiheit im sozialen Raum selbstverständlich vorkommt.

Die transformative Kraft der Literatur

Metaphern sind zentral, wenn es darum geht, etwas präziser, differenzierter und vielleicht auch erfahrungs­gesättigter auszudrücken, als es die Alltags­sprache erlaubt. Eine Erkenntnis stellt sich aber auch dann ein, wenn die Poesie, wie bei Adèle Rosenfeld, sich als produktives Missverständnis erweist. Louise braucht ganz real und empirisch Licht, damit sie Lippen lesen kann. Wer mit ihr kommunizieren will, muss den Licht­schalter anmachen und sich so auf Louise ausrichten, dass diese die Lippen­bewegung sehen kann. Weil Louises Gegenüber über ihre vermeintlich poetische Äusserung – dass sie zum Hören Licht braucht – stolpert und aufmerksam wird, gelingt die Verständigung. Damit ist die Basis für einen anderen Umgang miteinander gelegt.

Für die Disability Studies, die sich mit literarischen Texten befassen, ist diese kleine Szene ein Beispiel, an dem die transformative Kraft der Literatur zum Tragen kommt. Der Dichter und Kultur­wissenschaftler Jim Ferris schreibt im Zusammenhang mit Poesie, die Behinderung aufgreift, die Literatur habe das Potenzial, die Welt hin zu mehr Offenheit und Vielfalt zu verwandeln. Und das Potenzial, «die Welt, in der wir leben, nicht nur transparenter und bekannter zu machen, sondern auch mehr Raum in der Vorstellungs­kraft und damit in der Kultur zu schaffen für die grosse und verblüffende Vielfalt an reichen und erfüllenden Möglichkeiten, wie echte Menschen in dieser Welt leben und lieben, arbeiten und spielen».

Die Disability Studies sind eine interdisziplinäre Forschungs­richtung, die sich mit Behinderung nicht als einem Problem einzelner Individuen oder Gruppen auseinander­setzt, sondern sie als historische, soziale und kulturelle Konstruktion begreift. Der Literatur wird aus dieser Perspektive eine transformative Kraft zugeschrieben, weil sie, wie die britische Literatur­wissenschaftlerin Alice Hall schreibt, die Art und Weise beeinflussen kann, wie wir über Körper und Geist, Lesepraktiken und Schreib­formen denken.

Was das genau heisst, beschreibt Jim Ferris in dem bereits erwähnten Essay mit dem Titel «Crip Poetry, or How I Learned to Love the Limp». Dort formuliert er, was jene Literatur charakterisiert, die er und andere mit einem Gestus der kritischen Aneignung crip poetry nennen: «Krüppelpoesie».

Dazu gehört, dass stereotype Darstellungen von Menschen mit Behinderung infrage gestellt werden. Sie selbst sind es, die zu Wort kommen; sie sind es, die über die Erfahrungen mit ihrem Körper reden, und zwar ohne durch den Blick von aussen, von einer angeblich «normalen» Position aus, als abweichend pathologisiert zu werden. Was Queer Studies und Disability Studies miteinander verbindet, ist die radikale Infrage­stellung von Identitäts­kategorien wie Mann/Frau oder eben behindert / nicht behindert. Zentral dafür ist der vom kubano­amerikanischen Theoretiker José Esteban Muñoz geprägte Begriff der Desidentifizierung. Damit beschreibt er, wie Personen, die Minderheiten angehören, sich selbst­schöpferisch ausdrücken, während sie sich kritisch an den Stereotypen abarbeiten, die ihnen zugeschrieben werden.

Die desidentifikatorische Perspektive von Menschen mit Behinderungen steht in der crip poetry klar im Zentrum. Ihre Wahrnehmung wird nicht nur ernst genommen als eine von vielen Arten, die Welt zu erfahren und sich in ihr zu bewegen. Weil sie von den Rändern her auf die Gesellschaft schaut, fördert sie auch andere Erkenntnisse zutage, die vom Zentrum aus unsichtbar wären. Am Rand, schreibt Ferris, sei es leichter, zu sehen und wahrzunehmen. Und es gebe mehr zu fühlen – insbesondere die Ausgrenzung und Gewalt, die in vermeintlich harmlosen Situationen steckt. Die crip poetry macht darauf aufmerksam und fordert dazu auf, ja macht Lust darauf, den sozialen Raum inklusiver zu gestalten – für alle.

Leichte Sprache

Dabei ist Literatur ein äusserst ambivalentes Medium, wenn es um Inklusion geht. Dass Literatur Empathie fördere wie kaum eine andere Kunst, wird in der Buchbranche bei jeder Gelegenheit betont. Vom künstlerischen Standpunkt aus ist das Entscheidende aber, wie Jim Ferris und Alice Hall festhalten, dass es die Literatur erlaubt, ganz unterschiedliche Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit zu gestalten und erfahrbar zu machen. Sich wie Kuhlbrodt mit dem Rollstuhl in Städten zu bewegen, die für Gehende und Treppen­steigende gemacht sind, oder, wie Louise in Rosenfelds Roman, mit Hörbeeinträchtigung Lippen lesen zu müssen, wenn die Gesprächs­partner sich hinter ihren Bildschirmen verstecken.

Gleichzeitig ist Literatur selbst keineswegs barrierefrei. Das gilt sowohl für den Literatur­betrieb (wovon etwa Jan Kuhlbrodts «Krüppelpassion» handelt) als auch für die Literatur selbst. Die Pisa-Studie hat es neulich wieder gezeigt: Lesen ist eine anspruchsvolle Kultur­technik, die gelernt und eingeübt werden muss. Lektüre verlangt ein gewisses Mass an Ruhe und Konzentration. Wenn immer mehr Schülerinnen und Studenten wegen Leseschwäche oder ADHS einen Nachteils­ausgleich zugesprochen bekommen, bedeutet das nicht, dass «die heutige Jugend» nicht mehr lesen kann. Vielmehr verweist es darauf, dass Neuro­diversität bisher zu wenig Anerkennung fand und dass die Kultur­technik des Lesens ein höchst ausdifferenziertes Bildungs­system mit einem ausgeprägten Bewusstsein für Chancen­gerechtigkeit verlangt.

Solche Überlegungen drängen sich bei der Lektüre einer Anthologie auf, die der St. Galler Autor Christoph Keller im Limmat-Verlag heraus­gegeben hat.

Keller, der an spinaler Muskel­atrophie erkrankt ist, hat bereits in seinem Buch «Jeder Krüppel ein Superheld» von 2020 eindrücklich beschrieben, wie der Alltag in einer Gesellschaft aussieht, die zwar viel von Inklusion spricht, Menschen mit Behinderung in Wahrheit aber Superkräfte abverlangt, um die Hürden der Exklusion im Alltag zu überwinden. Nun hat er eine Anthologie mit dem Titel «Und dann klingelst du bei mir» heraus­gegeben. Ihr Untertitel lautet: «Geschichten in Leichter Sprache». Sie versammelt Kurz­geschichten von Klassikern wie Franz Kafka und Günter Eich, vor allem aber von Schweizer Gegenwarts­autorinnen wie Dorothee Elmiger, Franz Hohler, Peter Bichsel, Julia Weber, Michael Fehr oder Ivna Žic.

All diesen kleinen Erzählungen ist gemeinsam, dass sie in Leichter Sprache geschrieben sind.

Leichte Sprache, das bedeutet unter anderem: Sie bestehen aus kurzen, aktiv formulierten Sätzen. Und sie enthalten nur eine Information aufs Mal, damit möglichst viele Menschen diese Texte lesen können. Aber nicht nur das. Auch in der Gestaltung ist diese Anthologie ein inklusives Buch. Durch Auswahl und Grösse der Schrift. Durch ein luftiges Layout. Durch fett gedruckte Wörter und Sätze. Das Buch sieht schon ganz anders aus als ein gewöhnlicher Roman. Es öffnet überall Türen. Sogar für die Autorinnen und Autoren, die sich mit der Leichten Sprache schwertun, wie Keller im Nachwort feststellt:

Einschränkungen haben aber etwas Überraschendes:
Sie befreien.

Und er fügt an:

Das haben mir fast alle Autorinnen und Autoren geschrieben.
Auch, weil wir manchmal Regeln gebrochen haben.
Dazu sind sie ja da.
Deshalb sind die Texte Leicht und literarisch.
Müsste ich literarisch definieren,
würde ich sagen:
            Regeln brechen!

Dass die erste Erzählung des Bandes von Franz Hohler stammt, ist kein Zufall. Wenn Frau Kieser und ihr Schäferhund Herrn Stark und seinem Dackel begegnen, braucht es keine stilistischen Extravaganzen, um vom Ungeheuerlichen zu erzählen, das sich daraufhin ereignet:

Der Schäferhund knurrt.
Der Dackel bellt.
Dann rennt der Schäferhund auf den Dackel zu
und frisst ihn auf.
«Er will nur spielen!», ruft Frau Kieser.
«Dem zeig ich’s», sagt Herr Stark und frisst
den Schäferhund auf.
Frau Kieser wird wütend.
Sie rennt auf Herrn Stark zu, frisst ihn auf und
geht zufrieden weiter.
Dann ist es wieder ruhig auf der Strasse.

Bei Hohler ist es das Spiel mit eingefleischten Erzähl­mustern und die Lust an der unerwarteten Pointe, die viele seiner Texte ausmachen. Je philosophischer die Geschichten, könnte man sagen, desto weniger sind sie auf sprachlich-stilistische Komplexität angewiesen.

Texte in Leichter Sprache können Texte sein, die zu denken geben. Texte, bei denen vieles zwischen den Zeilen steht. Deshalb passt auch ein Kurztext von Kafka, dessen Werk als alles andere als leicht gilt, in die Auswahl. Sie spricht eine vielfältige Leserschaft an – letztlich alle, die gern über wenigen Sätzen meditieren. Was André Jolles «einfache Formen» nannte, hat denn auch eine viel längere Tradition als der Roman­ziegelstein, in dem sich Schachtelsatz­kaskaden aneinander­reihen.

Körper und Geist

Anderes zu fühlen, vor allem aber anderes zu denken geben Jan Kuhlbrodts untrennbar an körperliche Zustände gebundene Reflexionen in «Krüppel­passion». Seine MS-Erkrankung lässt ihn sehr direkt erfahren, wo die Grenzen der abendländischen Philosophie­tradition liegen. Ihre Denkerinnen haben sich einen freien Geist immer in einem Körper vorgestellt, der sich möglichst nicht bemerkbar macht:

Vollkommene Freiheit des Gedankens erlangt man nach dieser Vorstellung nur in jenen Momenten, da man den Körper nicht spürt. Kein Schmerz, aber auch kein Windhauch, der die Körper­behaarung sanft liebkoste.

Autorschaft und Körperlichkeit spielen aus diesem Grund eine zentrale Rolle in Kuhlbrodts Text. Für einen Ausschnitt daraus hat der Autor im letzten Jahr den Alfred-Döblin-Preis erhalten. Die unausgesprochene Frage, die sich als roter Faden durch das Buch zieht, lautet: Was heisst es, Autor zu sein in einem auf öffentliche Auftritte angelegten Literatur­betrieb, wenn dabei an so etwas wie Behinderung kaum gedacht wird?

In Kuhlbrodts Überlegungen und Beobachtungen kristallisiert sich der Befund heraus, dass es der Körper ist, der denkt und liest und schreibt. Und dass sich das Schreiben und das Lesen konsequenter­weise mit der Krankheit verändern. Die Reaktionen im Literatur­betrieb, so erfährt man bei Kuhlbrodt, laufen nicht selten auf Formen der Ausgrenzung hinaus; Vorurteile sind oft präsenter als echtes Interesse und Empathie. Immer wieder muss er sich Sätze anhören, die wirken wie Schläge: «Ich wüsste nicht, ob ich das könnte», hört Kuhlbrodt oft. Er fragt sich dann, «warum man mir den Verlust als Vermögen unterstellt. Oder das Weiter­leben mit dem Verlust, als hätte ich eine Wahl.»

Bitter klingt Kuhlbrodts Bestands­aufnahme des Literatur­betriebs in Zeiten von Social Media und Selbst­vermarktung:

Und der Autor feierte seine Wiedergeburt, eine Auferstehung, als Gehender, als popkultureller Messias ohne Halbwertszeit. Und ohne Schmerz. Ewig jung schreitet er durch die Film­sequenzen und Talkshows. Geschult im Umgang mit Aktien und Obligationen.

Dabei geht vergessen, dass die meisten Bühnen unüberwindbare Rampen haben:

Und sitzen und schwitzen im Rollstuhl findet vor leeren Bühnen statt.

Die schönsten Passagen betreffen Kuhlbrodts Lektüren und seine Lese­biografie. Als Soldat, noch vor der Wende in der DDR, von 1984 bis 1987, hatte er Zeit für dicke Romane, von denen er damals jede Woche drei Stück las. Heute liest er keine langen Texte mehr, zieht Gedichte und erste, einzelne Sätze vor:

Vielleicht liegt das eigentliche Verdienst der dicken Bücher gerade darin, dass sie voller Versprechen sind. Vielleicht ist ihre Leistung vor allem das: einer Verheissung Raum gegeben zu haben, die der papierne Quader birgt, der auf meinem Tisch lastet. Die Verheissung und die Hoffnung, dass es ein Ensemble möglicher Welten gibt, ein Ensemble von Wirklichkeiten. Freiheit mithin. Und vielleicht ist genau das der Sinn eines jeden Buches: Nicht dass es gelesen wird, sondern dass es lesbar ist.

Selbstverständliches hinterfragen

Die Texte in Leichter Sprache, die in Christoph Kellers Anthologie versammelt sind, bekommen vor diesem Hintergrund noch einmal eine andere Bedeutung. Sie weist weit über ihre Funktion, Menschen mit Einschränkungen entgegen­zukommen, hinaus. Ebenso wie die Reflexionen in Kuhlbrodts Text stellen die Texte in Kellers Sammelband den Zusammen­hang von künstlerischer Qualität und inhaltlich-formaler Komplexität radikal infrage.

Julia Weber evoziert in «Toni und Erk» in der Anthologie eine Liebes­geschichte, die ganz aus Farben und atmosphärischen Nuancen gemacht ist.

Dorothee Elmigers Beitrag zeigt, dass auch leicht zu lesende Texte über ihre eigene Medialität nachdenken können. Mit ihrem Text «Mein Mann ist ein Dichter» fragt sie nach der Rolle der Literatur in Zeiten des Klima­wandels. Darf, soll man überhaupt schreiben? Denn:

Er sagt:
            Bald ist es zu spät.
            Bald ist alles weg.

Der Mann, der Dichter, notiert Listen in sein Heft, Geschichten, die wir alle kennen:

Die Bäume von Kalifornien.
Die Feuer von Kalifornien.
Die Häuser in Kalifornien vor dem Feuer.
Die Häuser in Kalifornien nach dem Feuer.
Rauch über ganz Kalifornien.
Die Autos verlassen Kalifornien.
Die Tiere.
Die dunkle Sonne von Kalifornien.

Sätze, das zeigt Elmigers Text, müssen nicht komplex formuliert sein, um Wissen ausserhalb der Schrift­kultur einzubeziehen. Die stark (audio-)visuell geprägte Medienwelt, in der wir leben, ist als Echoraum der Literatur immer präsent.

Diversität als Norm

Adèle Rosenfelds Roman «Quallen haben keine Ohren» lässt sich als ideale Einführung in das komplexe Feld von Sprache, Behinderung und Inklusion lesen. Das Buch ist eine poetische Erkundung des Lebens mit schwindendem Gehör, greift aber auch die aktuellen Diskurse rund um den gesellschaftlichen Umgang mit Inklusion auf. Diversität, so lernt man beim Lesen bald, ist das, was das menschliche Leben insgesamt auszeichnet. Rosenfelds Protagonistin Louise findet im Lauf des Romans selbst heraus, wie vielfältig allein die Welt der Menschen mit Hör­behinderungen ist:

Verwaist.

Ja, das war es bestimmt, was ich immer empfunden hatte, das Gefühl, keiner Welt anzugehören. Nicht taub genug, um der Kultur der Tauben zugeordnet zu werden, nicht hörend genug, um voll und ganz an der Welt der Hörenden teilzunehmen.

Und sie erkennt, dass auch die sogenannten «Normalen» ganz unterschiedlich auf sie reagieren.

Da ist einmal der Logopäde, der ihr erklärt, wer sie ist:

Seit deiner Kindheit befindest du dich auf einer ständigen Gratwanderung, du bahnst dir einen Weg zwischen zwei Welten, denen du beiden nicht richtig angehörst.

Ihr Freund wiederum wünscht sich, dass sie kämpferischer auftritt, wenn sie am Arbeitsplatz immer tiefer in den Untergrund des Gebäudes abgeschoben wird. Und ihre beste Freundin Anna nötigt sie geradezu, mit ihrer Behinderung ein politisches Statement abzugeben:

Anna wiederholte: «Das Implantat ist eine kapitalistische Kriegs­maschine. Wer hat denn Interesse an der Optimierung des Menschen? Das Militär! Louise, du willst doch wohl nicht eine Kämpferin mit physiologischen und kognitiven Super­fähigkeiten sein?»

Am Ende fällt Louise eine Entscheidung. Wichtiger als die Frage «Implantat ja oder nein?» ist ihr das Bekenntnis zu einer sozialen, mit ihrem Umfeld tief verbundenen Lebensform. Sie lässt die Fantasie­welt, die sie in ihrer visuell überwältigenden Zwischenwelt aus den halb­verstandenen Wörtern hatte entstehen lassen, zurück und trägt ihr ganz eigenes Wissen in die Gesellschaft hinein – ein Wissen, das die Form von Adèle Rosenfelds Roman angenommen hat.

Die Erkenntnis, dass es ein breites Spektrum an Hörbehinderungen gibt, spiegelt sich übrigens auch in den literarischen Ausdrucks­formen. Im Hochroth-Verlag ist letztes Jahr unter dem Titel «handverlesen» die erste Anthologie deutscher Gebärdensprach­poesie erschienen, mit Videos und Übersetzungen in deutsche Lautsprache. Der von Franziska Winkler herausgegebene Band dokumentiert eine Interaktion zwischen tauben und hörenden Dichterinnen, Performern und Übersetzerinnen. Mithilfe eines QR-Codes und der zugehörigen Augmented-Reality-Website ermöglicht das Buch, das aus der gleichnamigen Initiative hervorging, dass man sich während des Lesens per Smartphone oder Tablet Videos der Gebärdensprach­poesien ansehen kann. Das Vorwort von Franziska Winkler beschreibt, inwiefern Gebärden­sprach­poesie dazu auffordert und einlädt, zentrale Kategorien von Literatur neu zu denken.

So gestaltet auch dieser Band, was all die Bücher auszeichnet, von denen hier die Rede war: Sie bringen vermeintlich getrennte Welten miteinander in einen Dialog. Und sie öffnen neue, hoffentlich transformative Räume für das Zusammen­spielen und Zusammen­leben.

Zu den Büchern

Jan Kuhlbrodt: «Krüppelpassion – oder vom Gehen». Gans, Berlin 2023. 240 Seiten, ca. 40 Franken.

Adèle Rosenfeld: «Quallen haben keine Ohren». Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp, Berlin 2023. 221 Seiten, ca. 32 Franken.

Christoph Keller (Hrsg.): «Und dann klingelst du bei mir. Geschichten in Leichter Sprache». Mit einem Nachwort von Christoph Keller. Limmat, Zürich 2023. 224 Seiten, ca. 30 Franken.

Franziska Winkler (Hrsg.): «handverlesen». Gebärden­sprach­poesie in Lautsprache. Mit einem Vorwort von Franziska Winkler. hochroth, München 2023. 56 Seiten, ca. 15 Franken.

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