«Der Generationenkonflikt existiert nicht»
Es herrsche ein Richtungskampf in der Altersvorsorge, sagt Gabriela Medici vom Gewerkschaftsbund. Und sie erklärt, was ihr berühmter Ururgrossvater zur 13. AHV-Rente gesagt hätte.
Ein Interview von Priscilla Imboden (Text) und Maurice Haas (Bilder), 07.03.2024
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Frau Medici, die Abstimmung über die 13. AHV-Rente ist die erste Initiative überhaupt, die zum Ausbau eines Sozialwerks führt. Ab wann merkten Sie, dass Sie gewinnen könnten?
Es lag etwas in der Luft, das haben wir schon bemerkt. Dass sich der Abstimmungssieg dann tatsächlich realisierte – und erst recht so klar –, konnte ich erst am Schluss glauben. Bis dahin war es immer noch ein «Ja, vielleicht, vielleicht, vielleicht, unglaublich, aber …». Wir beim Gewerkschaftsbund sind Zweckpessimisten.
Etwas lag in der Luft – was meinen Sie damit?
Seit über zwei Jahren ist die sinkende Kaufkraft ein reales Problem. Dazu die ganze Blockade in der Altersvorsorge – das merken die Leute. Sie wissen, dass es bei den Pensionskassen abwärtsgeht, sie stellen fest, dass die AHV-Renten zum Leben nicht ausreichen. Ich bin viel unterwegs, oft an Delegiertenversammlungen der Gewerkschaften. Dass sich da etwas aufstaut, das hat man schon länger gespürt.
Gabriela Medici ist stellvertretende Sekretariatsleiterin beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB. Sie ist seit 2018 beim SGB für Sozialversicherungen zuständig und hat die Initiative zur 13. AHV-Rente von Beginn weg vorangetrieben. Die Juristin leitete vorher das Kompetenzzentrum Menschenrechte der Universität Zürich und hat über Migrantinnen als Pflegehilfen in der Schweiz dissertiert.
Medici stammt aus einer Familie mit einer langen gewerkschaftlichen Tradition: Ihr Vater war Gewerkschafter, und ihr Ururgrossvater war Herman Greulich, Mitbegründer der Schweizerischen Sozialdemokratie und erster Präsident des Verbands der Gemeinde- und Staatsarbeiter (heute VPOD).
Die steigende Teuerung konnte man vor fünf Jahren nicht voraussehen, als der Gewerkschaftsbund die Initiative beschloss. Ebenso wenig, dass noch eine Pandemie und eine Rettung der Credit Suisse bevorstanden, die zeigten, dass viel Geld plötzlich vorhanden ist, wenn man das will. War es nicht auch schlicht die Gunst der Stunde, die zum Erfolg führte?
Das stimmt, das konnten wir nicht voraussehen. Das hat alles mitgespielt. Auch der Frauenstreik und die Erhöhung des Frauenrentenalters. Aber entscheidend war sicher die sinkende Kaufkraft der letzten zwei, drei Jahre – und dass wir wissen, wie es den Leuten geht. Hinzu kommt, dass wir das Dossier gut kennen. Gerade auch in der Altersvorsorge ist es entscheidend, dass man weiss, worüber man redet. Dazu haben wir ein grossartiges Team. Ich glaube, die Gewerkschaften haben in den letzten 20 Jahren viel dazugelernt, seit 2002 zum ersten Mal die Idee der 13. AHV-Rente aufgekommen war. Wir haben technisch gelernt, wir haben inhaltlich gelernt, wir haben politisch gelernt. Und wir haben im Campaigning ganz neue Strategien angewendet.
Welche denn?
Es war das erste Mal, dass der Schweizerische Gewerkschaftsbund in dieser Grössenordnung über eigene Kommunikationskanäle und Verteilerlisten verfügte, um Arbeitnehmende, Bürgerinnen und Bürger direkt zu erreichen. Wir konnten erstmals auch in dieser Grössenordnung Spenden generieren und damit das Kampagnenbudget entscheidend aufstocken. Aber auch unsere Verbände waren kreativ und sehr engagiert: Es gab Telefongespräche und SMS-Dialoge. Es gab Verteilaktionen mit der Bevölkerung, die es so in diesem Ausmass bisher nicht gab.
Sie haben auch davon profitiert, dass vor allem ältere Leute an die Urne gehen. Die Jüngeren haben laut Nachwahlbefragungen mehrheitlich dagegen gestimmt. Belastet das nicht die Solidarität zwischen den Generationen?
Nein, im Gegenteil. Ich glaube, das ist etwas, was medial zwar gern behauptet wird. Aber ich spüre das nicht. Die, die sich in meinen Begegnungen am meisten Sorgen gemacht haben um die Generationenfrage, waren, wenn dann, am ehesten ältere Frauen, die gesagt haben: Ich bräuchte schon eine 13. AHV-Rente, aber ich kann auch darauf verzichten, denn ich will ja meine Kinder nicht belasten. Der Generationenkonflikt existiert nicht.
Warum nicht?
Weil alle, die heute jung sind, hoffentlich einmal alt sein werden. Und alle, die heute jung sind und wenig haben, brauchen eine starke AHV. Was ich übrigens an der Nachwahlbefragung von Tamedia viel entscheidender finde, sind die Hinweise darauf, dass das Abstimmungsverhalten eine Klassenfrage war. Dass Personen mit tieferen Einkommen massgeblich für die 13. AHV-Rente gestimmt haben. Je höher das Einkommen war, desto weniger stimmten die Stimmberechtigten für die Initiative.
Es war ein Sieg der Armen über die Reichen. Ist das die Rückkehr des Klassenkampfs, der lange von anderen Themen überschattet wurde?
Mir ist das Ganze ehrlicherweise momentan ein wenig zu aufgeladen. Es ist ein unglaublicher Sieg, ja. Aber es handelt sich bei der 13. AHV-Rente ja vor allem auch um eine Massnahme zum Erhalt der Kaufkraft. Seit wann ist der Kaufkrafterhalt eine Klassenfrage? Wir wissen, dass die AHV grosses Vertrauen geniesst in der Bevölkerung. Viele Leute wissen, wie die AHV funktioniert und dass man sich auf sie verlassen kann. Das war diesen Sonntag ausschlaggebend.
Sie haben mit der Initiative die Finanzierungsfrage ausgeklammert, also den AHV-Ausbau ohne die dazugehörige Rechnung präsentiert. War das ein populistischer Kniff, um die Chancen der Vorlage zu erhöhen?
Nein. Da ging es einfach um die Frage, was in die Verfassung gehört und was nicht. Eine Initiative hat dann Chancen, wenn sie ein ganz konkretes Problem adressiert und dieses löst. Das Problem, das wir lösen wollten, sind die zu tiefen Altersrenten. Der Gewerkschaftsbund hatte den Mut, sich auf das zu konzentrieren. Dieser Fokus, den wir in teilweise harten Diskussionen erreicht haben, hat nun Früchte getragen.
Nun stellt sich die Frage nach der Finanzierung. Wie stellen Sie sich das vor?
Wir sollten die 13. AHV-Rente so finanzieren, wie die AHV jetzt finanziert wird: mit Lohnbeiträgen und einem Anteil aus der Bundeskasse. Das hat zwei Vorteile. Erstens sind Lohnbeiträge die sozialste Lösung für die Finanzierung der 13. AHV-Rente, weil es keinen Plafond gibt. Egal, wie viel man verdient, zahlt man diese Lohnprozente – erhält aber immer nur die Maximalrente. Zweitens braucht es dazu nur eine Gesetzesänderung und nicht eine weitere Volksabstimmung, wie das bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer der Fall wäre. Und es muss rasch gehen, denn der Initiativtext garantiert, dass die 13. AHV-Rente spätestens Anfang Jahr 2026 ausbezahlt werden muss.
Weshalb so wenig kreativ? Sogar Vertreter der Mitte-Partei fordern eine Finanztransaktionssteuer, die EVP schlägt eine Erbschaftssteuer vor. Diese Finanzierungsquellen würden doch die arbeitende Bevölkerung weniger belasten.
Wir sind nicht generell gegen neue Ideen. Ich wehre mich aber gegen den Vorwurf, dass 0,4 Lohnprozente die Erwerbstätigen belasten würden. Es ist so, dass die Lohnabzüge für die Sozialversicherungen insgesamt gesunken sind. Die Prämien für die Unfall- und Arbeitslosenversicherung liegen tiefer. Wenn man also einfach gleich viel Lohnbeiträge zahlt wie bisher, dann ist der Lohnbeitrag für die 13. AHV-Rente ohne spürbare Zusatzbelastung finanziert. Und wie gesagt: Es geht schneller. Alles andere braucht wahrscheinlich eine Volksabstimmung. Zudem wissen wir nicht, wie konstant diese neuen Finanzierungsquellen wären. So etwas braucht eine längere Diskussion.
Jetzt steht schon die nächste Abstimmungskampagne bevor. Der Gewerkschaftsbund hat das Referendum ergriffen gegen die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG), also der 2. Säule. Sie soll im September zur Abstimmung kommen. Welche Lehren aus dem aktuellen Abstimmungssieg ziehen Sie dafür?
Ich glaube, wir konnten überzeugend aufzeigen, was die 13. AHV-Rente bringt – und zu welchem Preis sie zu haben ist. Auch für die BVG-Reform werden wir das Preis-Leistungs-Verhältnis aufzeigen. Und dort sieht man, dass die Reform für einen grossen Teil der Bevölkerung horrende Lohnbeitragserhöhungen für tiefere Leistungen bedeutet. Obwohl die Geldabflüsse an Versicherer und die Finanzindustrie ungehemmt weitergehen sollen. Wie die bürgerlichen Parteien, die allesamt gegen die 13. AHV-Rente waren, dies der Stimmbevölkerung schmackhaft machen wollen, ist mir schleierhaft.
Gleichzeitig ist aber die BVG-Reform auch eine Ausbauvorlage. Neu sollen auch kleinere Einkommen versichert werden und somit Renten generieren. Sie verzichten mit dem Referendum darauf. Ist das kein Problem?
Nein. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist für sie besonders schlecht in der Reform.
Mit der 13. AHV-Rente allein kann das Rentenproblem der Wenigverdienenden aber nicht gelöst werden.
Allein nicht, aber es ist ein wichtiger Schritt. Denn bei der AHV erreicht man gerade für tiefe Einkommen eine bezahlbare Rentenverbesserung. Insbesondere, weil Erziehungs- und Betreuungsarbeit angerechnet wird. Das ist in der 2. Säule nicht so. Mit der BVG-Reform müssen Leute mit sehr tiefen Einkommen nochmals zusätzliche 8 bis 9 Lohnprozente einzahlen, um 40 Jahre später ein bisschen mehr Rente zu erhalten. So wenig, dass sie im Alter immer noch abhängig wären von Ergänzungsleistungen. Das geht nicht auf. Selbst die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH weist übrigens darauf hin, dass die Reform zu einer Verschlechterung der Lebenssituation von Personen mit tieferen Einkommen führt.
Ist es denn nicht nötig, dass gerade Frauen, die oft kleinere Einkommen haben, besser versichert werden für das Alter?
Ja. Altersarmut ist in der Schweiz heute weiblich, und das muss sich ändern. Aber dafür muss man bei den Ursachen ansetzen, und das tut diese BVG-Reform nicht. Man weiss, warum die Frauen heute tiefere Renten haben: hauptsächlich wegen Erwerbsunterbrüchen und der Teilzeitbeschäftigung nach der Geburt von Kindern. Denn Mutterschaft führt auch heute zu viel unbezahlter Care-Arbeit. Und für diese gibt es Renten in der AHV, dank der 13. AHV-Rente jetzt auch noch mal ein wenig mehr. Im BVG gibt es für die unbezahlte Arbeit hingegen nichts. Das ist keine Lösung.
So oder so: Es braucht bald eine neue Reform, um die AHV zu stabilisieren, weil sie ab 2030 ins Minus kippen soll. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider soll deshalb einen Vorschlag machen. Ist eine Rentenaltererhöhung mittelfristig nicht unumgänglich – mit einer Abfederung für körperlich anstrengende Berufe?
Ich erinnere daran, dass wir am Wochenende nicht nur über die 13. AHV-Rente abgestimmt haben. Die Stimmbevölkerung hat mit happigen 75 Prozent gesagt: Wir wollen nicht länger arbeiten. Das Signal, was die Bevölkerung lieber möchte und was lieber nicht, könnte nicht deutlicher sein. Die Politik sollte dieses Signal ernst nehmen. Was es ab 2030 oder 2035 braucht, werden wir sehen. Wir müssen die Probleme lösen, die wir jetzt haben.
Einerseits gibt es das, was die Leute gerne hätten. Andererseits gibt es Fakten: die demografische Entwicklung, die dazu führt, dass es schwierig wird, die Sozialwerke zu finanzieren. Kann man das einfach ausblenden?
Nein, aber die Realität ist, dass die AHV heute Überschüsse macht. Die Realität ist auch: Die demografische Alterung kennen wir seit Jahrzehnten, und wir haben bisher immer Lösungen gefunden. Warum sollte das aufhören? Selbst gemäss den wohl kaum pessimistischen Langzeitprognosen der UBS kommt man übrigens zum Schluss, dass die AHV nicht mehr viel Zusatzfinanzierung bräuchte. Bis jetzt hat sich die Bevölkerung immer für diesen Weg ausgesprochen statt für eine generelle Rentenaltererhöhung.
Es findet ein Richtungskampf statt in der Altersvorsorge, sagten Sie vor knapp zwei Jahren in einem Interview: Anständige Renten für alle oder mehr privates Sparen, bei dem die Finanzindustrie verdient und die Versicherten die Risiken tragen. Wo stehen wir jetzt?
Wir hatten einen klaren Entscheid: Die Stimmbevölkerung wünscht sich eine starke AHV. Das ist gegen den Widerstand der Arbeitgeber, Versicherer und der Banken möglich geworden. Die Abstimmung über die Reform der 2. Säule wird die zweite Entscheidung sein in diesem Ringen. Aber das heisst leider nicht, dass parallel dazu die Geschäfte der Finanzindustrie mit unserer Altersvorsorge nicht weiter ausgebaut werden: So will das Parlament aktuell die 3. Säule ausbauen, mit weiteren Steuergeschenken für Gutverdiener im Umfang von 500 Millionen Franken. Obwohl der Bundesrat sagt, nur rund 10 Prozent der Leute können sich die heutige 3. Säule leisten. Und danach gibt es sowieso keine lebenslange Rente daraus. Aber auch mit Lockrufen für zusätzliche Kapitalbezüge in der 2. Säule verdient sich die Finanzbranche dumm und dämlich. Dieser Kampf wird sich weiter zuspitzen.
Wie sieht aus Ihrer Sicht die optimale Altersvorsorge aus?
Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt wahnsinnig konservativ wirke: Ich finde unser 3-Säulen-Modell, wie es in der Verfassung steht, hervorragend. Existenzsicherung für alle – und solidarisch: Das haben wir auch mit der 13. AHV-Rente noch nicht erreicht. Weiterleben wie bisher mit Renten aus der Pensionskasse: Davon sind wir meilenweit entfernt. Wenn wir das erreichen können, was die Verfassung seit 50 Jahren verlangt, dann sind wir auf einem guten Weg.
Wie wollen Sie das konkret erreichen?
Indem wir die Solidarität in der Altersvorsorge ausbauen. Das bedeutet nicht eine Abschaffung der Pensionskassen. Auch die 2. Säule kann gute Renten generieren. Aber nicht so, wie man es einst versprochen hat. Es gibt keinen vierprozentigen Zins mehr, keinen Teuerungsausgleich, keine Lösung für die Care-Arbeit. In diese Richtung muss es gehen: Wir brauchen mehr Solidarität, auch in der 2. Säule.
Was hätte Ihr Ururgrossvater, Herman Greulich, der zu den Mitbegründern der Schweizerischen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung gehörte, zum Ja zur 13. AHV-Rente gesagt?
Ich glaube, er hätte Freude. Er wird in Biografien jeweils als pragmatischer Sozialdemokrat und Gewerkschaftsführer charakterisiert. Und ich glaube, das ist das, was die 13. AHV-Rente ist. Es ist die pragmatische, schnell wirkende Lösung für ein Problem, das wir jetzt haben. Und das hätte ihm gepasst, glaube ich.